Bad Neuenahr – Seniorenschach ist doch langweilig??
Bäderturniere gehören unauslöschbar zur großen, rauschenden Schachhistorie! Gemeint sind damit sowohl Seebäder wie Ramsgate oder Margate als auch – und erst recht – die mondänen Orte mit weißen Säulenpalästen, Casino, bester Kleidung, schönen Frauen, eleganten Herren und feinen Speisen wie Karlsbad, Marienbad, Monte Carlo usw.
In dieser Tradition Aljechins, Flohrs, Capablancas, Baron Alberic O’Kelly de Galway, Baron Ignaz von Kolisch oder Sir George Alan Thomas, 7th Baronet stehen einige glanzvolle Bäderturniere. Und es hat ganz den Anschein, als könne man heuer in Bad Neuenahr an diese historische Linie anknüpfen: Vom 12. bis 20. Juni 2019 spielte man dort die „Schachmeisterschaft für Senioren 50+, 65+ und 75+ im Steigenberger Kursaal“.
„ChessClassics 2019, die Dritte, jetzt endlich glauben wir an die Zukunft dieser Seniorenmeisterschaft im Bad Neuenahrer Kurhaus“, waren die einladenden Worte des Turnier-Veranstalters Gottfried Schumacher. Der erste Blick auf die Turnier-Homepage http://www.chessclassics.de/ ergibt den Eindruck: Gespielt wird in einem „Schloss-Hotel“ oder „Grand Hotel“, das tatsächlich „Steigenberger“ heißt. Ein groß wirkender Saal (tatsächlich sind es 18,40 x 25,30 m) mit einem anscheinend ganz umgehenden Oberrang vermittelt Theater-Atmosphäre, für Zuschauer sehr angenehm.
Ob die Spieler sich wohl fühlen, ist den leider sehr wenigen Fotos der Homepage nicht zu entnehmen, aber wie soll es ihnen schon gehen? Inmitten von Schach-Enthusiasten, von bekanntermaßen sehr gut organisierenden Schiedsrichtern, Helfern und „Machern“, was das freundliche Hotel-Personal einschließt, in einem komfortablen, hübschen und preis-werten Hotelpalast, am Rande einer bezaubernden Gegend, in einer Zeit, in der Erdbeeren, Kirschen und Pfirsiche den Brägen auf Hochtouren bringen können und inmitten von Schachfreunden, die Sätze mit „weißt du noch, damals als …“ mühelos fortsetzen können – wer soll sich da nicht wohl fühlen? Das Hotel, ein bisschen unclever, preist auf seiner Homepage weder Spezialitäten seiner Küche noch besondere Angebote seiner Bar an, wohin sich manche Spieler eben zwingen mögen, ebenso wie in die Sauna, ins Bad oder als Äußerstes schlicht ins Bett.
„Naja 75+, da werden wohl kaum mehr als drei oder vier samt Rollatoren zusammen kommen“, vermutete eine Freundin. Hast Du ’ne Ahnung! (Hat sie normal schon) Allein in der so herausragenden Gruppe der „Nestoren“ fanden sich 61 Spieler in der Startrangliste! Es sind keineswegs nur Spieler irgendeiner Freizeitgruppe, sondern welche, die schachlich noch voll im Saft stehen, im Rating angeführt vom bekannten FM Jefim Rotstein, Elo 2340, DWZ 2293, der für den SC Tornado Hochneukirch (sehr passend angesichts der Wetterlage, die einem schon mal die Erdbeeren von der Torte pustet) im Einsatz ist und der 2017 Deutscher Senioren- und Deutscher Nestoren-Meister wurde! Jetzt weißt Du wieder, warum Dir der Name „doch gleich so bekannt“ vorkam.
Nominell eine noch größere Nummer ist IM Boris Khanukov, ein echter IM!!, der aus unerfindlichen Gründen aber ein leicht schwächeres Rating als Meister Rotstein hat und so Platz 2 der Setzliste der 75+ einnahm. Wie zu erwarten war, entsprach die Rangliste (nach Runde 8) nicht ganz der Setzplatzliste:
1.) IM Yuri Boidman, 2366, SC Heimbach-W., GER, 7,5 aus acht!!!
(Für den, der das Remis schaffte, bereitet der Bürgermeister gerade eine Ehrenbürger-Medaille vor, wie wir hörten)
2.) Peter Hagen, 2196, Düsseldorfer SV, 6,0 pt
3.) Axel Partenheimer, 2146, Düsseldorfer SK, 6,0 pt – Zwei Düsseldorfer, aber nicht aus dem gleichen Club!
4.) Franz Paus, 2082, Schachfüchse Kempen, 6,0 pt, der in einem jungen Verein (∅ 34 Jahre) noch immer lässig die interne Nr.7 hält.
Die zwei anderen Gruppen werden nach dem Mittagessen eingefügt! Im Idealfall: Alle drei Endstände!
Ein bisschen meckern darf der Reporter vielleicht auch: Wenn man schon ein so wirklich bezauberndes Turnier in die Landschaft stellt, mit 61 (75+) und 63 (65+) und 37 (50+ wieso sind die Jüngeren denn so wenige?) = 161 angemeldeten Teilnehmern und einem großartigen „Macher“-Team, ließe das ja eigentlich eine Flut aktueller Fotos, Tabellen, Geschichtchen von auf und neben dem B(r)ett auf der Homepage erwarten. Ist aber nicht so. Eher … übersichtlich. Und das am Finaltag!
Auch die zuständigen Tageszeitungen zeigten trotz angenehmer bis schon zu warmer Temperaturen die berüchtigte „kalte Schulter“ (in ganzheitlicher Medizin unmittelbar am Eisbein anzusiedeln); so entnehmen wir der „Rhein-Zeitung“ als deren brandneue Erkenntnis vom 12.06.2019: „Schach ist bei Schülern nicht out. – 83 Mädchen und Jungen im Alter zwischen 8 und 18 Jahren aus acht Schulen aus dem Landkreis Altenkirchen …. Es siegte Clara Kanno von der IGS Hamm.“ Das dauert bei denen wohl noch ein bisschen bis zum Seniorenschach. Und der „General-Anzeiger“, Bonn, hat von Schach schon gleich gar nichts gehört.
Ralf Mulde
Ausgespielt.
Irgendetwas scheinen diese großen Buchstaben, die vor einigen Namen stehen, doch zu sagen zu haben – ich wunderte mich shon … Titelträger tragen manchmal schwer an der Bürde ihrer Auszeichnung, aber diesmal bei den Senioren setzten sie sich oft durch. Ob die Schachpartner einfach gehemmt waren, wenn sie so einem GruselMeister oder doch „nur“ FeierabendMeister gegenüber saßen? Autogramme geben die ja in jedem Fall – beim Unterzeichnen des Partieformulars. Ob man dann wie damals vom Vizeweltmeister freundlich mit „Bravo! Bogolyubov“ beschenkt wird, hängt eben von den Umständen ab.
GM Dr. Igor Rausis, „am Brett“ ebenso wie im Fernschach einer der Großen, wurde seinem Titel – nicht der Dr., der GM – vollauf gerecht und zog durch: 100%, also neun aus neun! Geht das noch besser, ist das noch steigerbar? Ja. Mit einem Schönheitspreis. Brauchen wir nächstes Mal. Vielleicht bei einem Kälteeinbruch: Ein Schönheitspreis. Sollte er dann mit seiner charmanten Gattin erscheinen: Obacht! Olita Rausis ist eine der besten Fernschach-Spielerinnen der Welt. „Kommen’S recht boild wieda, Herr Doktor, und grüßens die gnäää‘ Fraauu…“ würde einem in Wien gesagt werden.
Endtabellen nach der 9. Runde
ChessClassics 2019 Bad Neuenahr (50+)
1.) GM Dr.Igors Rausis 2669 CZE 9,0 p
2.) Rene Tückmantel 2086 GER 6,5 p
3.) FM Volker Wolf 2284 GER 5,0 p
4.) FM Kuno Thiel 2178 GER 5,0 p
5.) Andre Matzat 2007 GER 6,0 p
6.) Edwin Lehmann 1956 GER 5,0 p
Auch in der Gruppe des Mittelalten … nein! nicht Gouda! wurde ein Spieler mit einem ja schon Erfolg signalisierenden Titel diesem „schachlichen Vornamen“ gerecht. Der Deutsche Yuri Boidman war so freundlich, auch dem Weg zum Erfolg ein Remis nachzulassen, aber eben nur das – 8,5 Punkte aus neun, ohne Schweiß, ohne schweren Atem, anderthalb Punkte vor dem Zweiten (der dennoch großes Schach gekämpft hatte) – das sind die jungen Alten!
ChessClassics 2019 Bad Neuenahr (65+)
1.) IM Yuri Boidman 2366 GER 8,5 p
2.) Franz Paus 2082 GER 7,0 p
3.) Valery Maes 2088 BEL 6,5 p
4.) Dr. Helmut Jacob 2116 GER 6,5 p
5.) Ulrich Gass 2029 GER 6,0 p …
Und dann waren da die Bewunderten, die noch älter waren als sie aussahen, die Herren vom Scheitel bis zur Sohle – fünfundsiebzig und kein bisschen weise … und er schaffte es. Der Favorit. Der Tornado. DWZ 2293, Elo 2340. Langer Artikel in sportsweek über ihn, den deutschen Seniorenmeister. Selten war einer so 85jährig wie er. https://sportsweek.org/de/chess/news/199122331/ Und nun war er eben auch hier, ist sozusagen deutschlandweit am Seniorenbrett – und eben auch auf dem Siegerpodest, wenn es nicht zu hoch ist.
Aber auch der deutsche IM Boris Khanukov (2254) erzielte ebenso wie der Sieger, der mit dem Podest, 7,5 Punkte! Was nun? Der Begünstigte sagt „zum Glück“, der Andere wird sagen „leider“, erfanden die Herren Oscar Gelbfuhs, Johann Berger und William Sonneborn 1870/80 für solche Fälle die „Feinwertung“ in Schachturnieren, die stets auf Blättern aus getrocknetem Buchenholz … Quatsch. Der Magdeburger Bruno Buchholz führte diese Wertung (erst) 1932, in den letzten Tagen Tarraschs (starb 1934), in die Turnierpraxis ein. Und die half nun eben, von den Regeln erzwungen, dem Tornado.
ChessClassics 2019 Bad Neuenahr (75+)
1.) FM Jefim Rotstein 2340 GER 7,5 p
2.) IM Boris Khanukov 2254 GER 7,5 p
3.) Werner Szenetra 2189 GER 7,0 p
4.) Erich Krüger 2100 GER 6,5 p
5.) Bernard Leiber 2119 GER 6,0 p
6.) Walter Etzold 2042 GER 6,0 p
7.) Karl-W. Nettesheim 1952 GER 6,0 p
8.) Dieter Villing 2098 GER 6,0 p
9.) Klaus-Dieter Mann 2016 GER 6,0 p …
(Ralf Mulde)