Schach als lernfördernde soziale Praktik und wie das Ausland auf die deutsche Schulschach-Tradition schaut
Vor der Pandemie berichteten die im Schulschach aktiven Pädagogen und Schachspieler vom ungebrochenen Interesse am Schachspiel. Doch wie wird es nach der Pandemie aussehen, wenn die frühere Alltagsnormalität zurückkehrt? Welche Folgen werden die Schulschließungen während der Lckdowns für die Schüler haben?Wird es den Kindern gelingen, den Anschluss in der Schule zu halten oder werden Wissenslücken lange nachwirken? Werden die Kinder so einfach in die Sportvereine zurückkehren? Ich bin optimistisch, dass das Schach weiterhin unvermindert Zulauf erhält. Warum? Im aktuellen Bildungsbericht Deutschland (2020) formulierten die Bildungsexperten quasi eine Empfehlung für „Schach als Unterrichtsfach“:
„Offen ist vor allem in qualitativer Hinsicht, wie unterrichtliche und außerunterrichtliche Aktivitäten bestmöglich verzahnt werden können, um die individuelle Förderung jeder Schülerin und jedes Schülers zu ermöglichen. Hier fehlt es – seitens der Forschung und seitens der Politik – nach wie vor an verlässlichen Qualitätsmaßstäben für „gute“ ganztägige Bildung und Betreuung im Schulalter. Auch das Zusammenspiel mit außerschulischen Bildungsgelegenheiten und Aktivitäten … gilt es, künftig mit Blick auf ihre jeweilige Bedeutung für die kognitive, soziale und persönliche Entwicklung von Kindern und Jugendlichen stärker herauszuarbeiten. (Seite 150, Link zum Bildungsbericht 2020)
Eine Lösungsmöglichkeit für die hier geschilderten Probleme zeigt Igor Sukhin, der oberste Bildungsstratege in Russland (Институт стратегии развития образования Российской академии образования) auf, der Schach als Unterrichtsfach in Russland einführte:
„Schach gilt als ein Attribut der allseitigen Persönlichkeitsentwicklung, als ein Mittel zur Erziehung und Sozialisierung der Kinder, als ein Mittel zur Entwicklung des Willens, zur Herausbildung weiterer positiver Charaktereigenschaften, zur Entwicklung mentaler Fähigkeiten und des Denkens. … . Tatsächlich sind … viele Länder dabei, ihre Bildungssysteme zu reformieren und intensiv nach Fächern zu suchen und in den Lehrplan aufzunehmen, die der Entwicklung der geistigen Fähigkeiten dienen.“
In seinem weiter unten vorgestellten Aufsatz legt Igor Sukhin dar, wie Schach zur Lösung aktueller Probleme in der Sozialpädagogik und der Wissensvermittlung beitragen kann. Auch Deutschland diskutiert über lernförderliche soziale Praktiken mit dem Ziel, optimale Bedingungen für das Lehren und Lernen zu schaffen. Für zukünftige Generationen ist lebenslangen Lernen wichtiger denn je, um die notwendigen Kompetenzen und Fähigkeiten für ein erfolgreiches Berufsleben zu erwerben. Das selbstbestimmte Leben setzt Wissen und Fähigkeiten voraus, um sich in einer stetigen wandelnden Welt zu behaupten und durchzusetzen. Weltweit suchen die Länder nach Konzepten, wie man unter verschiedenen Bedingungen und Voraussetzungen fast „beiläufig“, um nicht zu sagen spielerisch, neues Wissen und Fertigkeiten erwerben kann.
In anderen Ländern, allen voran in Russland, Brasilien, Kuba, Spanien werden kontinuierlich Forschungsergebnisse zum Einfluss von Schach auf die Persönlichkeitsentwicklung, die Lernfreude, das Sozialverhalten der Kinder veröffentlicht. Auch der Bereich der Methodik und Didaktik wird nicht ausgespart. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass es irgendwo Bildungspolitiker und Lehrer gibt, die die Stundentafel hervorholen werden und nachweisen wollen, dass es keinen Spielraum zur Unterrichtsausweitung gibt. Man könnte sie über ihren möglichen Irrtum aufklären, weil in unserer Zeit, im Zeitalter riesiger Datenmengen, es einfach unmöglich ist, einen vollständigen Überblick über alle Wissensgebiete zu geben. Deshalb müssen wir das Auswendiglernen von Fakten durch das Erlernen von Methoden zur Gewinnung und Erklärung von Fakten ersetzen. Genau dieses Szenario beschrieb Prof. Georg Klaus schon 1969, lange vor dem Internetzeitalter.
Der gleiche Aufsatz von Igor Sukhin enthält auch eine lesenswerte Zusammenfassung der deutschen Schulschachgeschichte, als dessen profunder Kenner er sich erweist. Er berichtet von der jahrhundertealten Erfahrung Deutschlands zu Schach in Schule und in der Bildung, rückt ins Gedächtnis, dass an der preußischen Militärakademie Schach unterrichtet wurde, zitiert Emanuel Lasker und Siegbert Tarrasch zu Schulschach, verweist auf herausragende deutsche Forschungsergebnisse über die positiven Auswirkungen des Schachunterrichts und erklärt schließlich, dass deutsches Schulschach-Know-how für das russische Projekt „Schach als Unterrichtsfach“ verwendet wurde.
Der vollständige Aufsatz von Igor Sukhin kann in deutscher Übersetzung oder im Original (russisch) nachgelesen werden.