Oktober 6, 2024

Die das Dunkel nicht fühlen, werden sich nie nach dem Lichte umsehen

Henry Thomas Buckle (1821 – 1862)

Quelle: »Geschichte der Civilisation in England (History of Civilization in England)«, 1858-1861. Deutsch: Arnold Ruge, Leipzig 1901

Wohl in der furchtbaren Erkenntnis, es weder in dem einen noch in dem anderen Fach je zu etwas zu bringen, schlug ich irgendwann einmal nach: „Historiker + Schachspieler“. Heute fiele einem sofort „der Nägele“ ein, man schreibt Dergleichen stets mit dem ehrenden, bestimmten Artikel so wie „der Beilstein“ (Chemie), „der Bastian“ (Horst Janson anno 1973, natürlich im familienmusealen ZDF) oder „die Dietrich“ (Kopf bis Fuß). Wie auch immer:

[Bildquelle: http://www.bidmonfa.com/buckle_henry.htm – dort ohne Ausweis der Original-Quelle]
Der englische Historiker Henry Thomas Buckle (* 24. November 1821 in Lee, Kent; † 29. Mai 1862 in Damaskus), ein würdig drein schauender Gentleman mit damals modischem Backenbart, leuchtend breiter Dreiviertelglatze, der in einer heutigen Verfilmung des 19. Jh („Onedin Line“ usw.) den schurkischen Bürovorsteher oder den geizigen Kaufmann geben würde, der Buckle also war in Großbritannien, dem damaligen Zentrum des Weltschachs, ein herausragender Schachmeister. Das ist angesichts der Konkurrenz nicht gerade wenig, man denke an London 1851 sowie an Staunton & Co. Über Paul Morphy reden wir hier nicht – der war und blieb außer Konkurrenz.

An Buckle war eigentlich alles kurios: Einer seiner Forschungsvorträge lautete allen Ernstes „Der Einfluss der Frauen auf den Fortschritt des Wissens„. Wer heute mit einem auch nur ähnlich lautenden Thema lediglich in Sichtweite eines Rednerpultes träte, käme gar nicht mehr schnell genug an seinen Kugelschreiber, um Testament und Organspende zu unterzeichnen. Allerdings war eben zu Buckles Zeit eine Frau als Wissenschaftlerin gemeinhin unvorstellbar; der Film des ZDF, 2007, über die vorrangig in Westafrika aktive britische Forschungsreisende, Ethnologin, Reiseschriftstellerin und Vortragsreisende Mary „ich bins nur“ H. Kingsley (1862-1900) ist heute eine amüsante Illustration damaligen Unsinns.

Angeblich, so wollen es heutige Notizen, besaß Buckle 22.000 gelesene Bücher (das ist jetzt die Stelle, an der Du Deine vorhandenen Werke mal so ganz grob abzählen und Dir überlegen solltest, wo Du die übrigen 21.500 unterbringen könntest) und er fand tatsächlich irgendwen, dem er 11.000 davon schenken konnte. Meine Wahl für eine solche Aktion wäre, wie auch schon mehrmals geschehen, schlicht eine öffentliche Bibliothek gewesen, aber die Burschen im steifen, viktorianischen … vielleicht gab’s damals auch noch gar keine Leihbüchereien? Egal, er konnte nun in seiner Bude wieder durchatmen.

Obwohl der keineswegs ausgezehrte Buckle gar nicht so aussah und zumindest ich auch einige Zweifel an diesem on dit habe, bestanden seine „Mahlzeiten“ angeblich ausschließlich aus Brot und Obst – kein Wunder, dass der Mann bei dieser Ernährung ohne jede gesunde Schokolade, Erdnüsse oder Rote Grütze nicht alt geworden ist, noch dazu, weil er sich eine weitere Askese auferlegte: Lediglich drei Zigarren, natürlich feinstes Blatt, mehr nicht. – Täglich, versteht sich.

Er befürchtete, dass das von Buckle als sein Lebenswerk angesehene Buch „A History Of Civilisation“ unveröffentlicht bleiben würde: Gut, das mag man noch glauben. Dass aber des Meisters letzte, selbstverständlich dramatische Worte auf dem Sterbebett nun wirklich „My book, my book, I shall never finish my book!“ gewesen waren, was ja doch verdächtig nach Shakespeares Richard III. mit „A horse, a horse! My kingdom for a horse!“ klingt, mag man bezweifeln. Viel schlimmer, es ist mindestens unklar, ob uns der Historiker Buckle heute noch etwas mitzuteilen hat.

Und der Schachspieler, der ja im Gegensatz zu den professionellen Kaffeehaus-Zockern wie Grischuk … äh … wie Deschapelles etc. immer ein „starker Amateur“ blieb? Zeitgenossen vermuteten, dass der (Historiker) Buckle 1850/51 den großen (Shakespeare-Forscher) und alle außer Morphy überragenden Schachmeister Howard Staunton in einem Match … nunja, ausgematcht hätte. Wie so oft bei Staunton, kam es für Buckle zu keinem derartigen Wettkampf, wohl aber reüssierte er in anderen:

„1847 gewann Buckle in London gegen Henry Edward Bird mit 9:7 (+9 =0 −7), 1848 in Paris gegen Lionel Adalbert Bagration Kieseritzky mit 4,5:3,5 (+3 =3 −2) und 1851 in London gegen Johann Jacob Löwenthal mit 5:2 (+5 =0 −2).“ [Wiki] Wie viele in Deiner Bekanntschaft heißen „Bagration“ mit x-tem Vornamen? Kieseritzky ist heute eigentlich nur noch als Verlierer bekannt, nämlich mit der berühmten Partie gegen Adi Anderssen. Er war damals aber einer der führenden Spieler der Welt und es lohnt sich, ein wenig Zeit mit ihm zu verbringen. Einen guten Einstieg bildet dieser Artikel in englischer Sprache: https://www.chess.com/article/view/lionel-kieseritzky

Auch wenn Buckle damals und heute nicht als Super-Großmeister galt (den SGM-Titel sollte die FIDE übrigens einführen, für den, der / die dauerhaft über Elo Zwoacht hat und ihn wieder aberkennen, wenn die 2800 dauerhaft unterschritten wird), besiegte er eben doch führende Meister seiner Zeit – nicht in einzelnen Partien, sondern in ganzen Matches. Dennoch, schlechte Nachrichten, Thomas, ist „der Buckle“ heute nahezu vergessen und zwar sowohl als Historiker als auch als Schachspieler. Gibt’s ein Buckle-Memo? Eine nach ihm benannte Variante oder gar Eröffnung? Einen Endspiel-Mechanismus, obwohl er besonders in Bauernendspielen stark gewesen sein soll? Für diese Bauernendspiele habe ich aber leider keine Beispiele gefunden. „Verwicklungen zu vereinfachen ist in allen Wissenszweigen der erste wesentliche Erfolg.“. schrieb Buckle höchstselbst in wohlfeiler Erkenntnis.

Immerhin bei den Soziologen leben Buckles Untersuchungen noch schattenhaft fort, wenn auch in deren Verbrechen an der deutschen Sprache: „Adolphe Quetelet und Henry Thomas Buckle, die als erste soziale Phänomene nach statistischen Methoden untersuchten, gelten als wesentliche Protagonisten des statistischen Determinismus. Sie stießen auf erstaunlich stabile Regularitäten bei der Zahl der Geburten, Sterbefälle, Heiraten, verschiedener Straftaten und bei Selbstmordraten…“ [Wikipedia: Determinismus]

Eine Kuriosität ist der Ort, an dem Buckle starb: Nicht etwa an der Theke in Simpson’s Divan, sondern er tat seinen letzten Zug, also: letzten Atemzug, in Damaskus, Syrien. Und hier kommen wir zu einer weiteren – bis auf Weiteres unwiderlegbaren – Unglaubwürdigkeit der Überlieferung, die Wikipedia kolportiert: „Buckle hat sich bei seiner Arbeit gesundheitlich übernommen, besonders am 2. Band. Sein deutscher Übersetzer Arnold Ruge schrieb: <dieser zweite Theil hat ihn getödtet. Er hatte sich überarbeitet. Nach Veröffentlichung des Werkes 1861 (also doch vollendet? -rm-) unternahm er eine Erholungsreise nach Ägypten und Palästina, wo ihn, nach anfänglich guter Erholung in Jerusalem, in Nazaret ein Typhus-Fieber befiel. Diesem erlag er einige Tage später in Damaskus.>“

Glauben wir das? Nach wie geschildert anstrengendster Tätigkeit wirft sich Buckle angeblich in die nächstbeste Kutsche, lässt sich – völlig überarbeitet, wie wir hören – drei Tage lang die 308 km schmerzhaft bis nach Plymouth durchrütteln (für eine Postkutsche der 1850er Zeit schätzt man heute 10 km/h, ca. eine Tagesleistung von 100–120 km https://de.wikipedia.org/wiki/Reisegeschwindigkeit#cite_ref-6), schifft von dort nach „Arabien“ aus, und er lässt sich von der Royal Navy in das auch damals immer wieder in Flammen stehende Paradies der Historiker & Archäologen, in das britische Kolonialgebiet bzw. in eins der Protektorate des Nahen Ostens bringen – also zur Erholung heute mal nicht an die Küste nach Ramsgate, sondern mitten in den immer wieder entstehenden Kugelhagel? Wenn das heute jeder Student bei der „gerade noch pünktlich“ Abgabe irgendeiner Hausarbeit so machte, wären die Strände voll.

Gestorben ist „der Buckle“ jedenfalls nicht an einer Gewalttat, sondern am Typhus, den er sich angeblich in Jesu Geburtsstadt Nazaret zuzog und dem er in der uralten Weltmetropole Damaskus erlag. Darunter machte er’s nicht. (Ralf Mulde, Juli 2017)

Die vor denen kriechen, die über ihnen stehen,

treten stets jene mit Füßen, die unter ihnen stehen.“

Henry Thomas Buckle (1821 – 1862)

aus »Geschichte der Civilisation in England

(History of Civilization in England)«, 1858-1861.

Deutsch: Arnold Ruge. Leipzig 1901.

Beitragsbild Quelle: https://www.azquotes.com/author/29637-Henry_Thomas_Buckle

[iframe src=“http://view.chessbase.com/cbreader/2019/7/19/Game796249843.html“ width=“100%“ height=“620″ scrolling=“auto“ ]