Markus Angst – 2024 feiert die Jugendschachstiftung Schweiz ihr 50-Jahr-Jubiläum. Aus diesem Anlass finden Sie im laufenden Jahr auf der Website des Schweizerischen Schachbundes (SSB) jeden Monat und in allen sechs Ausgaben der «Schweizerischen Schachzeitung» einen spannenden Artikel über die Welt des Jugendschachs. Heute lesen Sie ein Interview mit Shahanah Schmid.
Die aus dem Schachclub Saanenland stammende 48-jährige Schweizer Meisterin von 1994 und 1999 spielt heute für den Schachclub Toggenburg und ist im Schweizerischen Schachbund (SSB) Verantwortliche für das Mädchenschach sowie Juniorinnen-Nationalcoach.
Wie steht es grundsätzlich um das Schweizer Mädchenschach?
Im Vergleich zu vor 30 Jahren, als ich selber Juniorin war, ist einiges besser geworden. Heute hat es nicht nur mehr Mädchen an den Turnieren, sondern sie gewinnen gar nationale Open-Titel – so wie Sahasra Aragonda (U8) und Anna Rosset (U10) an der Schweizer Jugend-Einzelmeisterschaft (SJEM) 2023 und ebenfalls im vergangenen Jahr Mariia Manko am Bundesturnier. Es gibt heute selten Jugendturniere, an denen nur ein oder zwei Mädchen teilnehmen, und auch an den Jugend-Weltmeisterschaften und Jugend-Europameisterschaften sind die Schweizer Mädchen-Delegationen grösser geworden. Zu meiner Zeit war ich manchmal die Einzige an einer WM oder EM, danach wurden phasenweise gar keine Mädchen mehr selektioniert. Auch ist es in den Schachschulen äusserst unüblich, nur Jungs in der Gruppe zu haben.
Und was sind die Negativaspekte?
Es gibt leider immer noch viele Vereine mit keinem Mädchen in der Jugendabteilung und auch mit keiner Frau auf der Mitgliederliste – da läuft noch einiges schief. Im Vergleich zu anderen Föderationen, schicken wir auch viel weniger Mädchen als Jungs an internationale Wettbewerbe. Gemäss dem Gender Equality in Chess Index (GECI) des Weltschachbunds FIDE belegt die Schweiz in Punkto Nachwuchs unter 46 europäischen Föderationen nur den 40. – also siebtletzten – Platz. Das heisst: Wir haben in den Jahren 2019 bis 2022 für jedes Mädchen 2.3 Jungs an die WM und EM geschickt, obwohl wir gleich viele Plätze für Mädchen und Jungs zugeteilt bekommen. Erfreulich ist, dass sich diese Relation seither etwas verbessert hat. Das spricht dafür, dass sich die Situation für Mädchen in der Schweiz in die richtige Richtung entwickelt.
Wie sieht es bei den Schweizer Mädchen bezüglich Breite und Spitze aus?
Wir haben derzeit einige vielversprechenden Talente – «hausgemachte» ebenso wie zugezogene. Allerdings ist dies nicht wirklich etwas Neues. Es gab immer wieder Mal vielversprechende Juniorinnen wie Monika Seps, Corinne Rölli, Anastasia Gavrilova, Gohar Tamrazyan oder Lena Georgescu. Einige davon haben die Versprechen erfüllt, andere sind ins Damen-B-Kader gelangt, andere wiederum haben sich ganz vom aktiven Schachleben zurückgezogen. Ohne Breite wird es immer wieder Spitzen-Flauten geben. Wenn eine vielversprechende Spielerin einer Alterskategorie aufhört, wegzieht oder stagniert, ist niemand anderes da.
Es fehlt also an der Breite?
Ja, komplett. Während bei den Jungs die 16 SJEM-Finalplätze pro Altersklasse stets heftig umstritten sind, wurden die Mädchen-Finalplätze erst vor wenigen Jahren von vier auf sechs aufgestockt. Und seither gibt es jedes Jahr mindestens eine Kategorie, die nicht oder nur ganz knapp gefüllt werden kann. An den Quali-Turnieren beträgt die Anzahl Mädchen – über alle vier Kategorien verteilt – zwischen 30 und 45. Das heisst: Es hat pro Jahrgang etwa fünf Mädchen in der ganzen Schweiz, die ernsthaft Turniere spielen. Wenn es da mal ein Mädchen schafft, liegt das nicht an dem, was der Verband fürs Mädchenschach tut, sondern ist voll auf das Talent, den Einsatz, und die Resilienz der Spielerin zurückzuführen. Zum Glück gibt es ab und zu – wie gerade jetzt – ein paar vielversprechende Talente, die uns zeigen, was möglich ist. Hätten wir eine grössere Breite, dürften wir häufiger Spitzenresultate erwarten.
Unter allen SSB-Mitgliedern sind 7,4 Prozent weiblich, bei U18 ist der Mädchenanteil jedoch mit 12,2 Prozent deutlich höher. Das ist an sich ja erfreulich.
Ja und nein. Ohne weitere Daten könnte dies auch so interpretiert werden, dass mehr Mädchen als Jungs beim Übertritt ins Erwachsenenalter aufhören. Untersuchungen zeigen, dass eine Minderheit in einer Gruppe dann nicht mehr als «aussergewöhnlich» empfunden wird, von sich selbst wie auch von der Mehrheit, wenn sie mindestens 30 Prozent ausmacht. Davon sind wir im Schweizer Mädchen- und Frauenschach noch weit entfernt. Es hat ausserhalb der Kader ausserordentlich wenige Frauen, die aktiv in der Klubmeisterschaft, Schweizerischen Mannschafts- und Gruppenmeisterschaft oder an den Schweizer Einzelmeisterschaften spielen.
Mit welchen Konsequenzen?
Die geringen Teilnahmen sind ein Problem für den Nachwuchs. Die Mädchen sind sich Turniere gewöhnt, wo sie zwar in der Minderheit sind, aber Freundinnen treffen können. Dann werden sie älter und/oder besser und fangen an, bei den Erwachsenen zu spielen. Und plötzlich sind sie die einzige weibliche Person im Raum. Typisches Beispiel: An den diesjährigen Schweizer Einzelmeisterschaften in Flims war ich im Hauptturnier I eine von zwei Frauen. Während der Pubertät erfolgt die Identitätsfindung. Da ist es natürlich schlecht, wenn jemand findet: Schach ist nichts für Frauen und für mich. Wer trotzdem dabei bleibt, erlebt manchmal sexuelle Belästigungen und muss sich als Mädchen in einer männlichen Welt behaupten. Es ist deshalb eine Art Teufelskreis: Es hat keine Frauen, Mädchen hören auf, es hat auch in Zukunft keine Frauen. Es fehlen ausserhalb der Spitze die weiblichen Vorbilder.
Wer muss was machen, dass noch mehr Mädchen zum Schach kommen?
Sorry, aber diese Frage ist falsch gestellt. Zuerst müssen wir schauen, dass weniger Mädchen aufhören! Will heissen: Wir müssen Schach für Frauen attraktiv machen. Ich bedaure sehr, dass es im SSB – was vor vielen Jahren mal der Fall war – keine Frauenschach-Kommission, die eng mit dem Breitenschach zusammenarbeitet, gibt. So könnte ich mir beispielsweise in Anlehnung an das vom SSB 2022 erfolgreich lancierte Mitgliedergewinnungs-Projekt «Generation Chess» ein analoges Folgeprojekt «Generation Women» vorstellen. Heute haben wir jedoch nur den Damen-Nationalcoach, aber abseits der Kader ist Frauenschach im SSB nirgends vertreten.
Und wie lautet Ihr Rezept?
Wir müssten beispielsweise viel mehr Medienarbeit abseits der Schach-Medien machen, die – ebenso wie Anlässe in der Öffentlichkeit – aufzeigt, dass Schach durchaus auch für Mädchen und Frauen attraktiv ist. Zudem müssten wir Nägel mit Köpfen machen beim Thema sexuelle Belästigung – und zwar nicht so, dass die Mädchen den Preis zahlen und man beispielsweise kein Mädchen an ein Turnier mitnehmen kann, weil keine weibliche Betreuungsperson zur Verfügung steht. Wir müssen die Teenager schützen, wenn sie alleine an ein Turnier gehen.
Dann hat der SSB aus Ihrer Sicht in Sachen Mädchen/Frauen-Schach also noch eine paar Hausaufgaben zu machen?
Wie gesagt: Eine Frauenschach-Kommission wäre schon mal sehr hilfreich. Denn ich bin überzeugt: Das Potenzial ist da. Doch kritisch sind die Jahre 13 bis 18, da verlieren wir (zu) viele Mädchen.
Haben Sie sich in Ihrer Jugendzeit genügend gefördert gefühlt?
Als Mädchen auf Vereinsebene ja. Ich stamme aus einer Randregion, und wir hatten im Schachclub Saanenland phasenweise zehn und mehr Mädchen in der Jugendabteilung. Später profitierte ich dann in Bern während meiner Gymnasiumzeit von den Trainings mit Markus Klauser in der Schachgesellschaft Schwarz-Weiss Bern. Rückblickend festgestellt, war meine Förderung regional und national jedoch minimal. Das änderte sich erst, als ich mit 18 ins Damenkader kam.
Was hat sich seit jener Zeit verändert und allenfalls verbessert?
Einiges – wie eingangs bereits erwähnt. Wertvoll ist auch, dass wir heute zwei Schweizer Mädchen-Meisterschaften haben: eine mit klassischer Bedenkzeit und eine im Rapidschach. Willkommen sind auch die regionalen Jugendtrainings, bei denen Mädchen meist mitmachen dürfen. Die Schachschulen führen viele Mädchen an das Spiel heran und fördern sie auch in Trainings, das gab es zu meiner Zeit noch nicht.
Seit wann sind Sie Verantwortliche für das Schweizer Mädchenschach?
Seit Sommer 2022, übernommen von Olga Kurapova, die wegen beruflicher Verpflichtungen kürzer treten musste. Ich habe diesen Job jedoch zusammen mit Rahel Umbach bereits in den Jahren 1998 bis 2003 ausgeübt.
Was sind Ihre wichtigsten Aufgaben?
Primär die Organisation der beiden vorhin erwähnten Schweizer Mädchen-Meisterschaften – oft zusammen mit lokalen Organisatoren. Ausserdem nehme ich an den Sitzungen der SSB-Jugendschachkommission teil und bringe dort die Mädchen-Perspektive ein. Zudem amtierte ich ja auch noch als Juniorinnen-Nationalcoach und spreche in dieser Rolle bei den Selektionen für internationale Jugendturniere mit. An der Schnittstelle beider Rollen beobachte ich regelmässig die Mädchen an den Turnieren.
Was ist Ihre Motivation für diese beiden Jobs?
Offen gesagt, habe ich mich nicht darum gerissen! Aber Spass beiseite: Die Mädchenmeisterschaft hat mir als Kind viel bedeutet und Weichen in meinem Leben gestellt. Ich möchte, dass auch heutige Mädchen dies erleben dürfen. Zudem versuche ich etwas Bewegung in die Schachlandschaft zu bringen – speziell im Bezug auf Frauen- und Mädchenschach.
Stichwort Kind: Auch ihr Sohn und Ihre Tochter spielen Schach. Haben Sie auch deshalb ein besonders grosses Herz für den Schachnachwuchs?
Schach ist so ein tolles Hobby. Auch wenn man nicht zur Spitze gehört, kann man es lebenslang ausüben. Ich geniesse es sehr, zusammen mit meinem Vater und meinen Kindern an den Schweizer Einzelmeisterschaften teilzunehmen. Schach verbindet Generationen und Völker. Ich wünsche mir, dass alle Kinder dies erfahren dürfen – egal welches Geschlecht, wieviel Geld, welche Herkunft!
Interview: Markus Angst
Das nächste Mädchenschach-Highlight: Schweizer Rapidmeisterschaft am 19./20. Oktober in Stans
Am Wochenende vom 19./20. Oktober findet im Spritzenhaus in Stans/NW – durchgeführt vom jungen Verein JSV Caissa Nidwalden – die Schweizer Rapidmeisterschaft der Mädchen statt. An diesem traditionsreichen Turnier wetteifern einerseits erfahrene Spielerinnen um die Meisterinnen-Titel in den Kategorien U8 bis U16.
Andererseits schnuppern manche Neulinge zum ersten Mal Turnierluft, und es werden viele Kontakte und Freundschaften zwischen schachspielenden Mädchen aus der ganzen Schweiz geknüpft.
Ein attraktives Rahmenprogramm rundet den Anlass am Samstagabend ab.
Hier finden Sie die detaillierte Ausschreibung!
Werden Sie Donator(in) der Jugendschachstiftung!
Um das Schweizer Jugendschach auch in Zukunft tatkräftig unterstützen zu können, ist die Jugendschachstiftung auf möglichst viele Donator(inn)en angewiesen. Diese verpflichten sich, die Stiftung während fünf Jahren jährlich mit mindestens 500 Franken zu unterstützen.
Auch sonstige Spenden von Privaten oder Firmen sind sehr geschätzt (IBAN CH47 0483 5002 7259 9000 0 bei Credit Suisse). Sie können die Jugendschachstiftung auch in Ihrem Testament begünstigen.
In vielen Kantonen können Spenden an die Jugendschachstiftung von den Steuern abgezogen werden. Das gespendete Geld kommt uneingeschränkt der schachinteressierten Jugend zugute, da der Stiftungsrat ehrenamtlich arbeitet.
Die Jugendschachstiftung wird von einem achtköpfigen Stiftungsrat geführt. Diesem gehören neben Präsident Michael Hochstrasser auch André Vögtlin (SSB-Zentralpräsident), Ruedi Staechelin, Peter A. Wyss, Adrian M. Siegel (alle drei ehemalige SSB-Zentralpräsidenten), Rahel Umbach (SSB-Juniorencoach), Gundula Heinatz Bürki (ehemalige Präsidentin SSB-Kommission Turniere und Nationalspielerin) sowie Lindo Duratti (Regionalcoach West) an.
Website Jugendschachstiftung Schweiz
Kontakt: Michael Hochstrasser, Präsident
Lesen Sie in der nächsten Folge im November eine Story über einen von der Jugendschachstiftung unterstützten erfolgreichen Schweizer Nachwuchsspieler.
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