Dezember 30, 2024

Interview des Monats mit FM Matthias Rüfenacht: «Schach am Brett ist viel schöner»

Markus Angst Nach sechs Titeln mit Allschwil gewann der 68-jährige FIDE-Meister Matthias Rüfenacht 2023 auch mit seinem Jugendklub Riehen die Schweizerische Mannschaftsmeisterschaft (SMM).

Wie ist es möglich, über Jahre so konstant gute Leistungen zu erzielen?

Matthias Rüfenacht: «Ich mag es heutzutage ein bisschen weniger stressig.»

Das weiss ich selbst nicht so richtig – zumal ich bei den sechs Titeln mit Allschwil voll erwerbstätig war. Dabei gelang es mir einmal, sogar ein 100-Prozent-Resultat zu erzielen.

Sie sind 2023 zum siebten Mal Schweizer Mannschaftsmeister geworden. Geht die Serie weiter?

Als 68-Jähriger darf ich nicht erwarten, dass die Serie weitergehen wird – zumal in der Nationalliga B bei Riehen II vier junge aufstrebende Talente spielen.

Kurzer Blick in die Vergangenheit. Mit Allschwil gewannen Sie in den Jahren 1984, 1985, 1988, 1992, 1993 und 1994. Worauf war diese Siegesserie zurückzuführen?

Bei Allschwil in den 80er- und 90er-Jahren war ich ein starker Mannschaftsspieler mit viel Zug nach vorne.

Welche persönliche Stärke konnten Sie mit Allschwil ausspielen?

Viel Herzblut und grosse Leidenschaft.

Im vergangenen Jahr wurden Sie dank eines Einsatzes in der Schlussrunde gegen Winterthur mit Ihrem Jugendklub Riehen wiederum Schweizer Mannschaftsmeister. Wie kam der Einsatz im letzten Match zustande?

GM Andreas Heimann verzichtete grosszügigerweise auf seinen Einsatz, weil Riehen vorzeitig als Meister feststand.

Bei Riehen begann ja Ihre Schachkarriere. Können Sie sich noch an gewisse Episoden erinnern?

Gerne erinnere ich mich daran, dass Riehen 1971 einen Freundschaftswettkampf gegen Aarhus austrug und ich gemeinsam mit dem späteren FC-Basel-Präsidenten Bernhard Burgener in einer Mannschaft spielte.

Sie sind seit 54 Jahren Mitglied bei Riehen. Was hat sich in dieser Zeit in Ihrem Verein verändert?

Nach langer Anlaufzeit wurde 2003 nach dem letzten Aufstieg in die Nationalliga A endlich auch auf das Spitzenschach gesetzt – mit finanziellen Mitteln für die erste Mannschaft, die wesentlich verstärkt wurde.

Und was ist aus Ihrer Sicht immer noch gleich geblieben?

Einige Mitglieder der 1969 gegründeten Jugendschachgruppe sind erstaunlicherweise noch immer da.

Welche Entwicklung vollzogen Sie in den letzten vier Jahrzehnten?

Ich bin in meinem Spielstil ruhiger und vorsichtiger geworden.

Ihre steile Schachkarriere begann bereits als 21-Jähriger. Sie gewannen die Coupe Suisse. Welche Erinnerungen haben Sie an Ihren einzigen Schweizer Einzeltitel?

IM Heinz Wirthensohn bereitete mich intensiv auf die Partie mit dem rumänischen Spieler Prahov vor, und wir sahen die Eröffnung ungefähr 15 Züge voraus, was mir das nötige Selbstvertrauen gab.

Drei Mal waren Sie auch für die Schweizer Nationalmannschaft am Brett. Was kommt Ihnen beim Stichwort Thessaloniki 1984 in den Sinn?

Ich spielte drei Mal an Grossanlässen für die Schweizer Nationalmannschaft. In Thessaloniki war ich stark beeindruckt von der olympischen Idee, dass Menschen von allen Kontinenten friedlich einen Wettkampf austragen.

Das nächste Stichwort lautet Luzern 1985.

In Luzern musste ich bös unten durch, als ich als einziger Spieler gegen Afrika eine spektakuläre Niederlage bezog. Immerhin hatte ich die Genugtuung, dass GM Csom nach über einer Stunde des Nachdenkens es nicht wagte, mein Remisangebot abzulehnen.

Und zum Schluss die Olympiade in Dubai 1986.

Dubai war eine glanzvolle Olympiade und das schönste Turnier in meiner Karriere zusammen mit der Jugend-Weltmeisterschaft 1975 in Jugoslawien und der Jugend-Mannschaftsweltmeisterschaft 1980 in Mexiko. Es fehlte an nichts und noch wichtiger war für mich, dass ich gut spielte und zum Abschluss im Kampf gegen Deutschland GM Jörg Hickl ein Unentschieden abringen konnte.

Warum blieb es bei «nur» drei Nationalmannschafts-Einsätzen?

Diese Frage ist insofern nicht korrekt, weil ich von 1978 bis 1988 in der Nationalmannschaft spielte und an sechs Mitropa-Cup-Anlässen (Anmerkung: siehe untenstehenden Link) mitspielte. Ich begann 1978 beim Mitropa-Cup in Bad Kohlgrub und beendete mein Engagement in der Nationalmannschaft 1988 beim Mitropa-Cup in Aosta, weil ich bald danach Vater wurde.

Sie spielen regelmässig bei den Schweizer Schach Senioren mit und lassen sich auch oft als Sieger feiern. Was gefällt Ihnen an diesen Seniorenturnieren besonders?

Es ist die freundschaftliche Atmosphäre an einem schönen Ort wie zum Beispiel Weggis, Adelboden, Pontresina oder Ascona.

An den Schweizer Einzelmeisterschaften haben Sie hingegen noch nie im Seniorenturnier mitgespielt. Reizt Sie der Titel eines Schweizer Seniorenmeisters nicht?

Ich mag es heutzutage ein bisschen weniger stressig.

Fasziniert sind Sie hingegen vom Fernschach. Wir haben auch in diesem Bereich viele erfolgreiche Etappen. Es begann 1979. Was kommt Ihnen in den Sinn?

Zwei Anekdoten. In einem GM-Turnier gab ich meiner Frau eine Karte mit einem Zug zum Einwerfen mit und bemerkte fünf Minuten später, dass ich den Verlustzug gespielt hatte. Wie gross war meine Erleichterung bei der Rückkehr meiner Frau, als sie die Karte auf dem Boden des Einkaufwagens fand!

Und die zweite Anekdote?

Viele Jahre später diskutierte einer meiner Gegner beim Abgeben seines Zuges per online intensiv mit seiner Tochter. Statt einen Zug zu machen, drückte er dabei versehentlich zweimal die Aufgabetaste!

Sie vertraten die Schweiz bei fünf Fernschach-Olympiaden und zehn Fernschach-Europa-Mannschaftsmeisterschaften. Welchen Erfahrungsschatz konnten Sie dadurch aufbauen?

Geduld, Genauigkeit und besseres Analysieren – lange Zeit noch ohne Computer.

Welches ist Ihr grösster Erfolg im Fernschach?

Die Erringung des GM-Titels 1992 vor dem Computer Zeitalter im italienischen Silli-Memorial mit einem Schwarz-Sieg gegen den damaligen Weltmeister Fritz Baumbach aus Deutschland.

Inwiefern hat sich das Fernschach in den vergangenen Jahren beziehungsweise Jahrzehnten gewandelt?

Die Engines sind zu stark geworden, und Siege sind deshalb nur noch selten möglich. Das Niveau ist klar gestiegen.

Was spielen Sie lieber: Nahschach oder Fernschach?

Es gab Zeiten, da ich beides gleich gern spielte, doch jetzt ziehe ich das Nahschach vor.

Unterscheidet sich Ihr Spielstil im Nahschach und Fernschach?

Früher nein, doch mit der Zunahme der Stärke der Engines sind romantische Fernschachpartien nicht mehr möglich.

Neben Nahschach und Fernschach ist spätestens seit der Corona-Pandemie mit Online-Schach eine dritte Disziplin populär geworden. Spielen Sie auch regelmässig online?

Zu Beginn der Corona-Pandemie spielte ich regelmässig bei der Swiss Team Battle mit der Mannschaft von Riehen mit, doch inzwischen hat die Freude stark nachgelassen. Schach am Brett ist viel schöner.

Sie sind jetzt 68 Jahre jung – haben Sie im Nahschach und/oder Fernschach noch Ziele?

Im Nahschach wünsche ich mir, dass Riehen den Titel erfolgreich verteidigen und ich vielleicht noch etwas dazu beitragen kann.

Es gibt bei Ihnen neben dem Nah-, Fern- und Onlineschach noch das Kunstschach. Was können Sie uns dazu sagen?

In meiner Jugend und auch einige Zeit später komponierte ich zirka ein Dutzend Schachprobleme, wobei mir zwei Probleme auch heute noch gefallen. Es handelte sich um zwei Dreizüger. In den letzten paar Jahren konnte ich bei den Schachsenioren ein paar Problemlösungsturniere gewinnen und habe sogar eine internationale ELO-Zahl von 2093, was Platz 172 in der Weltrangliste bedeutet.

Tatsache ist, dass Sie über Jahrzehnte auf hohem Niveau Schach spielen. Können Sie uns verraten, wie man vorgehen sollte, um dieses hohe Niveau zu erreichen?

Heutzutage ist das Niveau wegen der vielen technischen Möglichkeiten viel höher, und man benötigt mehr Training als früher. Ich konnte viel mit Begeisterung, grossem Einsatz, viel Wettkampfpraxis und der körperlichen Ertüchtigung mit Fussball und Tennis erreichen.

Und was gilt es aus Ihrer Sicht zu unterlassen, so dass ein Sturzflug vermieden wird?

Auf zu vielen Hochzeiten gleichzeitig zu tanzen.

Stichwort Hochzweit. Wie lernten Sie Ihre Frau kennen?

1974 verpasste ich in der letzten Runde der Schweizer Juniorenmeisterschaft hauchdünn den Schweizer-Meister-Titel, den Pawel Silberring errang. Er durfte zur Belohnung an die internationalen Jugendmeisterschaften von Schweden reisen, während ich «nur» an die internationalen Jugendmeisterschaften von Deutschland in Südlohn, einem Dorf im Norden Deutschlands nahe der Grenze zu den Niederlanden, fahren konnte. Dort fand ich mein grosses Glück Annette, mit der ich seit mehr als 40 Jahren verheiratet bin.

Wunderbar. Gratulation. Schach macht glücklich. Doch noch einmal zur Problematik einer Niederlagenserie. Wie liesse sich das «auf zu vielen Hochzeiten tanzen» konkret vermeiden?

Zu viele Turniere in zu kurzer Zeit zu spielen, ohne sich die nötige Erholung zu gönnen.

Und wie kann man das Niveau halten? Oder anders gefragt: Wie lautet Ihr Geheimrezept?

Die zuweilen kindliche Freude am Schachspiel bewahren.

Sie haben noch das Schlusswort.

Was mir wichtig ist: Im Sport den Gegner so zu behandeln, wie ich selbst behandelt werden möchte.

Interview: Graziano Orsi

Matthias Rüfenacht persönlich

Wohnort: Basel.

Geburtsdatum: 26. März 1956.

Beruf: Kaufmännischer Angestellter (pensioniert seit 2021).

Hobbys: Schach, Fussball (seit 2016 nur noch passiv), Tennis, Tischtennis, Wandern.

ELO (Schweiz): 2275.

Klubs: Riehen, Schweizer Schach Senioren, Schweizerische Fernschachvereinigung

Lieblingsschachspieler: Anand als Persönlichkeit, Kasparow vom Schachstil her.

Schach-Buchtipp: «Mein System» von Aaron Nimzowitsch.

Weblinks

Wikipedia

Mitropa-Cup