Vincent ist 19 Jahre, deutsche Nummer eins, „ein Jahrhunderttalent“, wie DSB-Sportdirektor Kevin Högy anführt. Und, ganz nebenbei: „Einer, der weiß, dass er richtig gut ist, aber darum kein großes Aufheben macht, sondern keinerlei Allüren zeigt.“ Kurz und knapp: „Ein ganz natürlicher Typ. Und das wird sich bei ihm auch nie ändern, davon bin ich überzeugt.“
Wie wichtig Keymer für den deutschen Schachsport ist, zeigte sich auch Anfang des Jahres. Da saß er im Aktuellen Sportstudio des ZDF. Und auch da war einer seiner wesentlichen Charakterzüge gut zu erkennen. Der bekannte Schachjournalist Conrad Schormann (Perlen vom Bodensee) analysierte damals den TV-Auftritt sehr profund. Er nannte Keymers Auftritt „eloquent, klug, offen“ und fügte hinzu: „Auch bei Fremdschämfragen“ sei Keymer „stets freundlich“ geblieben: „Ein Segen auch für jede Fragestellerin – eigentlich.“ So hat Schormann die Situation im Studio auf dem Mainzer Lerchenberg treffend beschrieben. Keymer blieb sogar cool, als Moderatorin Katrin Müller-Hohenstein ihn mehrfach den jüngsten deutschen Großmeister nannte (was er schon mit knapp 15 Jahren war) und ein „Spiel“ gegen Keymer so eröffnete: „Ich fange mal ganz klassisch an und ziehe den weißen Bauern auf f4.“ Pause. „Da staunen Sie, was?“ Ja, Vincent staunte tatsächlich, als säße ihm die britische Legende Henry Edward Bird (1830 – 1908) leibhaftig gegenüber. Dann lächelte er und sagte freundlich: „Erstmal wäre ich überrascht, weil f4 ein seltener Zug ist.“ Irgendwann gestand Müller-Hohenstein: „Ich kann‘s halt nicht.“
Keymer kann’s aber umso besser. Und das schon, seit er fünf Jahre alt ist. „Schach hat mich von Anfang an fasziniert. Es war kindliche Neugier“, sagt er. Nach zwei Monaten wollte er gegen seine Eltern nicht mehr spielen, „weil es mir nichts mehr gebracht hat“. Seitdem pflastern Erfolge seinen Weg. In unserem Video-Interview vor der Schacholympiade in Budapest aber stellt er vor allem den Sieg beim Grenke-Open 2018 in den Vordergrund, als er gleich 49 Großmeister hinter sich ließ. Die Fähigkeit, „auch sehr starke Spieler zu überspielen – das ist es, was ihn ausmacht“, sagt Gustafsson: „Er ist absolut furchtlos.“ Einer, der nie aufgibt. GM Magnus Carlsen, den Besten der Welt, besiegte er erstmals in ihrer 13. Partie gegeneinander.
Doch Schach, das betont er auch immer wieder, sei harte Arbeit. Bis zu zehn Stunden am Tag Training, meist am Computer. Ohne dabei zu verkrampfen. „Ich habe immer das gemacht, was mir Spaß macht. Das ist der einzige Weg, um den Spaß zu behalten“, sagt der beste deutsche Spieler seit GM Robert Hübner. Dieser Tage gewann er das hochkarätig besetzte Rubinstein-Gedenkturnier in Polen – und katapultierte sich wieder in die Top-20 der Welt. „Das gibt mir ein gutes Gefühl“, sagt er.
Vor der Olympiade. Da brillierte er beim letzten Mal in Indien, am ersten Brett mit starken 6/8. „Ich hoffe, wieder gut spielen zu können“, sagt er, „wir haben ein junges, starkes Team.“ Und dann ein Versprechen: „Tendenziell wird es immer stärker.“ Wo das in Budapest alles endet? Mit Prognosen war und ist Vincent Keymer vorsichtig. Er habe noch nie „klare Ziele im Schach“ formuliert, sagt er, denn das sei ein Sport, „in dem man überhaupt nichts planen kann“. Nur sein Wunschziel hat er verraten: Die Teilnahme am WM-Kandidatenturnier. Dann ruft bestimmt das Sportstudio wieder an – ganz klassisch.
Interview:
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