Über sieben Jahrzehnte lang war er in der Schachwelt bekannt, geschätzt und beliebt: Andreas Dückstein ist wenige Wochen nach seinem 97. Geburtstag friedlich für immer eingeschlafen.
Dr. Andreas Dückstein muss als „die Legende“ des österreichischen Schachs bezeichnet werden. Er spielte neun Schacholympiaden und über 100 Länderkämpfe für Österreich, ist somit „Rekord-Internationaler“. Er war dreifacher österreichischer Staatsmeister (1954, 1956, 1977) und spielte neben vier Zonenturnieren unzählige Partien in diversen österreichischen Ligen.
Andreas Dückstein war einer der Letzten einer historisch-klassischen Schachgeneration. Kaum zu glauben, dass noch jemand mitten in Wien lebte, der sich mit diesen Giganten gemessen hatte: Er spielte gegen sieben Weltmeister, von denen er drei besiegen konnte (Botwinnik, Euwe, Spasski). Von der Analyse nach seiner hart umkämpften Partie gegen Michail Tal in Zürich 1959 schwärmte er sein Leben lang („Unglaublich, welche Varianten mir Tal mit ungeheurer Geschwindigkeit gezeigt hat“); gegen den 16-jährigen Bobby Fischer verlor er jedoch schnell („Ich hab‘ ihn nach seiner schlechten Partie gegen Walther unterschätzt, das war natürlich Blödsinn“). Gegen Petrosjan und Smyslow unterlag Dückstein knapp. Dafür feierte er Siege u.a. gegen Larsen (sogar drei!) und remisierte gegen Größen wie Keres, Kortschnoi, Stein, Taimanov, Reshevsky, Hort, Portisch, Olafsson und viele mehr.
Der Titel „Internationaler Meister“, erobert zu einer Zeit, als er ungleich mehr wert war als in späteren Zeiten der Titel-Inflation, war geradezu das Markenzeichen von „IM Dückstein“– und irgendwie auch ein Symbol für seine Bescheidenheit. Im Frühjahr 2024 wurde ihm von der FIDE der längst verdiente Titel „Ehren-Großmeister“ verliehen, gleich nachdem die FIDE den Titel nach Jahrzehnten Pause wieder eingeführt hatte. „Ich habe ja den Großmeistertitel schon bei mehreren Turnieren erreicht“, verriet der Neo-Großmeister anlässlich dieser Nachricht, „ich hätte nur zu spielen aufhören müssen.“ (Die unglückliche Regel, dass man den Titel durch „Weiterspielen“ wieder verlieren konnte, ist nunmehr geändert.)
Die berühmteste dieser Gelegenheiten war die Schacholympiade München 1958, als Dückstein mit seinem Sieg gegen den regierenden Weltmeister Michail Botwinnik für die Sensation des Turniers sorgte. Es war die einzige Niederlage Botwinniks und auch die einzige (von 76) des gesamten Sowjet-Teams (mit Tal und Petrosjan auf den Ersatzbrettern!). Fünf Runden vor Schluss hatte Dückstein den Großmeistertitel fix in der Tasche, er hätte nur die fünf letzten Finalpartien (Österreich hatte sich fürs A-Finale qualifiziert) pausieren müssen. Dückstein trocken: „So etwas kommt ja gar nicht in Frage.“ Und ergänzt: „Die Partie gegen Botwinnik war übrigens gar nicht so gut, die beste war die gegen Pachman.“ Würde man ihn nicht als so objektiv und zurückhaltend kennen, könnte man diesen Satz für das Understatement seiner Karriere halten.
Am Schachbrett liebte er besonders Angriff und Opferspiel. Bezeichnend, dass er als absoluten Lieblingsspieler stets Michail Tal nannte. Ergebnisse und Elozahlen waren für ihn sekundär: „Hauptsache, man spielt lustige Partien.“
Das lange Leben von Andreas Dückstein enthielt durchaus abenteuerliche Phasen:
Er wurde am 2. August 1927 in Budapest als einziges Kind eines Sportlehrer-Ehepaares geboren, sein Vater war ungarischer Turn-Nationaltrainer. Als 12-Jähriger konnte der junge „Andor“ eine Simultanpartie gegen Max Euwe remis halten. Nach der Matura studierte der sportbegeisterte Dückstein an der Sporthochschule und schloss das Studium mit Diplom ab.
Im Jahr 1949 entschied er sich dazu, aus dem antisemitischen und kommunistischen Nachkriegs-Ungarn nach Wien zu flüchten, was unter enormen Wirrnissen gelang. In Wien war es jahrelang unmöglich, einen fixen Job zu bekommen, so besann sich Dückstein auf seine Schachkenntnisse, studierte alte Turnierbücher und verdiente ein paar Schillinge mit Schachpartien im Kaffeehaus. Bereits 1952 gewann er die Wiener Stadtmeisterschaft. Im Jahr 1954 erlangte er die österreichische Staatsbürgerschaft. Dank seiner Schach-Kontakte erhielt er im Verbund-Konzern eine fixe Anstellung und begann neben seiner bereits intensiven Schachlaufbahn das Jusstudium, das er 1964 mit Doktorat abschloss. Dückstein blieb Zeit seines Lebens Amateur, wurde nie Profi.
Nach dem Tod seiner ersten Frau (und Fluchtgefährtin) heiratete Dückstein 1975 die Juristin Ilse; nach der Geburt seines Sohnes Simon (1980) schränkte er die Auslandsturniere ein und spielte überwiegend in Österreich.
Im Alter nahm Dückstein besonders gerne an den vielen Senioren-Mannschaftswelt- und Europameisterschaften teil. In den 90-er-Jahren waren die Turniere „weltbeste Damen gegen Veteranen“ sehr beliebt. Beim Walzer-Turnier in Wien 1993 wurde Dückstein in die Veteranen-Weltauswahl berufen; eine besondere Ehre, wenn man seine fünf legendären Teamgefährten betrachtet: Wassili Smyslow, Bent Larsen, Lew Polugajewski, Fridrik Olafsson, Borislav Ivkov.
Eine weitere große Anerkennung wurde ihm in den Jahren 2012-2015 zuteil, indem er (als einziger IM) zu den jährlichen Treffen der Schachlegenden (nämlich Großmeister über 75 Jahre) in Dresden eingeladen wurde. Von den Weltklasse-Großmeistern wurde er ganz selbstverständlich als einer der ihren aufgenommen.
Seine letzte Saison spielte Dückstein im Alter von 89 Jahren in der Wiener Landesliga; dabei konnte er dem damals regierenden Staatmeister IM Georg Fröwis, gut 60 Jahre jünger, mit Schwarz ein Plusremis abringen. Nach einem großen Fest zu seinem 90. Geburtstag, bei dem er von nahezu der gesamten österreichische Schachprominenz gefeiert wurde, zog er sich ins Privatleben zurück. Einen allerletzten Turnierauftritt ließ er sich mit fast 91 Jahren nicht nehmen, nämlich bei der Seniorenteam-WM 2018 in Radebeul. Es war eine Art Verabschiedung von den vielen Freunden, denen er jahrzehntelang immer wieder begegnet war.
„Bandi“, wie ihn Freunde nennen durften (eine Koseform von ungarisch „Andor“), verbrachte noch friedliche Jahre mit seiner Familie in einem Reihenhaus im Süden Wiens; nach einem Sturz zwar nicht mehr allzu gut per Fuß, geistig jedoch bis zu seinen allerletzten Tagen topfit. Man konnte ihm den Namen eines beliebigen Schachspielers von 1950 bis heute hinwerfen – faszinierend, wie er über jeden Einzelnen Bescheid wusste und mit leuchtenden Augen Anekdoten erzählte. In seinen letzten Lebenswochen war ihm als Sportbegeistertem noch die große Freude vergönnt, die Fußball-EM und die Olympischen Spiele ausgiebig im Fernsehen verfolgen zu können.
Andreas Dückstein wird lange in Erinnerung bleiben. Nicht nur als „die Legende“ des österreichischen Schachs, sondern als besonders liebenswerter, bescheidener und humorvoller Mensch. (wk, Text: Martin Stichlberger)
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