Markus Anhst – Vor 60 Jahren wurde der damals 22-jährige Marcel Markus überraschend Schweizer Meister. Danach überstürzten sich die Ereignisse.
Solothurn. Hauptgasse 50. Samstagnachmittag. Marcel Markus sitzt in der Galerie ArteSol gemütlich auf einem Stuhl. Seine Kleidung inklusive Käppchen weist daraufhin, dass er eng mit Brasilien verbunden ist.
Was machen Sie hier in Solothurn, Herr Markus?
Ich bin pensioniert, begleite aber schon seit rund 30 Jahren den brasilianischen Künstler Adelio Sarro als Kurator. Gestern verkaufte ich für ihn ein Bild.
Gratulation zum erfolgreichen Bildverkauf. Vor 60 Jahren waren Sie ebenfalls erfolgreich – auf einem anderen Gebiet.
In Montreux gewann ich 1964 die Schweizer Meisterschaft.
Sie waren erst 22 Jahre alt und landeten einen Überraschungssieg. Woran erinnern Sie sich noch?
Zeitungsartikel habe ich leider keine mehr. Ich weiss aber noch, dass ich in Eröffnungen immer Schwierigkeiten hatte. Meine Gegner hatten meistens gute theoretische Eröffnungskenntnisse. Sie analysierten viele spezielle Varianten. Aus diesem Grund setzte ich mit Weiss auf die sogenannte Orang-Utan-Eröffnung: b4. Und mit Schwarz bevorzugte ich die solide Caro-Kann-Eröffnung.
Welche Vorteile hatte denn b4?
Über diese Eröffnung wurde damals nicht viel geschrieben. Daher hatten mein Gegner und ich die gleichen Schwierigkeiten am Brett und mussten selbständig denken.
Ein Jahr später verteidigten Sie Ihren Titel in Bern.
Ja, ich war in guter Form. Es gelang mir im letzten Spiel, ein interessantes Doppelturm-Endspiel gegen Houshang Mashian, einem starken Spieler mit persischen Wurzeln, zu gewinnen, obwohl ich einen Bauern weniger hatte. Ich erzielte 7½ Punkte aus neun Runden. Meine Partie gegen Max Blau wurde verschiedentlich veröffentlicht. Edgar Walther erzielte dasselbe Resultat, und es kam zu einem vierrundigen Stichkampf in Zürich, den ich für mich entscheiden konnte.
Marcel Markus nimmt einen Plastiksack hervor und präsentiert mir eine alte, nicht mehr funktionstüchtige Schachuhr, die er aus Brasilien zurückgebracht und gerne repariert hätte. Auf einer Metallplatte ist eingraviert: Schweiz. Jugendschachmeisterschaft 1960 – Bern. Schönheitspreis.
Sie waren auch als Junior erfolgreich. Nach dem Schönheitspreis in Bern gewannen Sie 1961 in Zug die Schweizer Juniorenmeisterschaft.
Glücklicherweise hatte ich einen Schachmäzen. Es war Kurt Riethmann, der später auch dem schweizerischen Jugendschach vorstand und dem auch andere Verdienste im Schweizer Schach zuzuschreiben sind. Ohne ihn hätte ich weder die Junioren- noch die Schweizer Meisterschaft gewonnen. Er sah, dass ich Talent hatte und förderte mich.
Marcel Markus gab vor kurzem eine Autobiografie in Buchform heraus. Der Titel lautet: «Leben – Vida. Schicksal und Bestimmung». Auf dem Cover stehen Schachfiguren auf einem Schachbrett. Sie haben entweder Gesichter von berühmten Künstlerinnen sowie Künstlern oder stellen Meisterwerke der Kunst dar. Im Hintergrund ist ein Computerbildschirm abgebildet, denn Marcel Markus hat während Jahrzehnten als Informatiker gearbeitet. Darauf steht «Schicksal und Bestimmung».
In Ihrem Buch schildern Sie nicht nur Ihre Jugendzeit ohne Taschengeld. Sie erzählen auch über die emotionale Kälte Ihrer Eltern.
Zweifellos hatte ich keine schöne Jugendzeit. Um ein bisschen Taschengeld zu haben, spielte ich im Café «Select» am Limmatquai Schach und verdiente jeweils fünf Franken nach einer gewonnenen Partie.
Zum Schach kamen Sie dank Ihrer Grossmutter.
Ja. Dies beschreibe ich auch in meinem Buch im Kapitel «Schach matt». Ich schlug sie relativ schnell. Im Café «Select» verlor ich nie.
Erstaunlicherweise findet man Sie nach den Siegen an den Schweizer Meisterschaften nicht mehr in den Annalen des Schweizer Schachs. Warum verabschiedeten Sie sich vom Schach?
Um es Ihnen zu erklären, muss ich auch meine damaligen Lebensumstände schildern.
Wir hören Ihnen zu.
Im Dezember 1965 heiratete ich in Bratislava. Meine Frau erhielt nach rund einem halben Jahr die Bewilligung, aus der damaligen Tschechoslowakei in den Westen auszureisen.
Im gleichen Jahr fand in Kuba die Olympiade statt.
An dieser Olympiade hätte ich für die Schweiz am ersten Brett spielen sollen. Im Vorfeld hatte ich beim Schweizerischen Schachverband den Antrag gestellt, auch meine Frau mitnehmen zu dürfen. Es ging um ihre Flug- und Logiskosten. Bedenken Sie, dass meine Frau zum ersten Mal im Westen war. Ich wollte sie nicht einen ganzen Monat alleine in Zürich lassen. Ausserdem musste ich, um am Turnier teilzunehmen, in meiner Firma unbezahlten Urlaub beantragen.
Der Schweizerische Schachverband lehnte Ihren Antrag ab.
Ja. Ich reiste deshalb nicht nach Kuba und hängte das Schach an den Nagel.
Die Emotionen in Ihrem bewegten Liebesleben schildern Sie auch im Buch.
Das Buch ist nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Ich liess 100 Exemplare drucken, so dass meine Kinder, Enkel und Enkelinnen sowie mein engster Freundeskreis die Möglichkeit haben, Näheres über mein interessantes Leben zu erfahren. Ich unterscheide im Buch zwischen Schicksal und Bestimmung. Denn es geschahen in meinem Leben unglaubliche Dinge, die nicht als gewöhnliches Schicksal bezeichnet werden können.
Ihr Kapitel «Flucht nach Brasilien» enthält den Stoff für einen Kinofilm.
Ja, ich habe auch schon an die Möglichkeit einer Verfilmung gedacht. Zweifellos hatte ich ein spannendes Leben mit vielen schönen, aber auch traurigen Momenten.
Sie gaben Ihre Arbeitsstelle als Informatiker bei Sulzer in Winterthur auf und suchten mit Ihrer neuen Liebe aufgrund eines unerträglichen Seelenschmerzes Ihr Glück in Brasilien.
Ich möchte nicht über die Details sprechen, aber es stand für mich fest, dass ein Neustart in einem neuen Land erfolgen musste, da meine Ehe nicht mehr zu retten war.
Sie leben auf verschiedenen Kontinenten und fliegen heute regelmässig hin und her. Kommen Sie mit dem Schachspiel in Brasilien und der Schweiz noch in Kontakt?
An meinem Wohnort Fortaleza in Brasilien gibt es leider keine Schachkultur. Daher wurde ein vier mal vier Meter grosses Schachbrett in meinem Garten gebaut. Doch die Organisation von Schachveranstaltungen mit Grossmeistern klappte nicht, und das Schachspiel steht nicht mehr im Vordergrund meiner aktuellen Tätigkeit.
Und wie sieht es mit dem Schachspiel in der Schweiz aus? Sie leben ja rund neun Monate hier und verbringen lediglich die Winterzeit in Brasilien.
Ich besuchte im Oktober 2023 mit meinem langjährigen Schachfreund Markus Wettstein, der in Sydney lebt und zu Besuch war, die Nationalliga-A-Schlussrunde in Nottwil. Ich besuchte auch schon Schachanlässe in Biel, der Schachgesellschaft Zürich und vor kurzem das Seniorenturnier in Zürich, wo ich nur noch wenige Spieler kannte.
Und wie wäre es mit einer aktiven Teilnahme an einem Seniorenturnier?
Ich werde nicht mehr teilnehmen. Ich gehe ja nicht zum Schachspiel, um zu verlieren. Denn ohne Eröffnungstheorie zu studieren, würde ich eventuell irgendwann einen zweitklassigen Zug spielen und käme sicher in Zeitnot. Eine Stellung kann ich noch gut analysieren und beurteilen und auch Schachprobleme lösen.
Und doch profitieren Sie weiterhin im Leben von Ihren kombinatorischen Fähigkeiten?
Als Kunstkurator gilt es, sich Ziele zu setzen und Pläne zu entwerfen. Den Überblick darf man auch unter Druck nicht verlieren. Und zweifellos ist es kompliziert, wenn man einen brasilianischen Künstler wie Adelio Sarro nach zahlreichen Ausstellungen auf der ganzen Welt ins Museum of Modern Art in New York bringen will.
Das wird wohl noch eine Weile dauern. Was steht denn in diesem Jahr bevor?
An der Kunstaustellung ArtdeSuisse in Luzern, die im Herbst stattfindet, werde ich ein paar Werke von Sarro ausstellen können. Im Vorfeld besuche ich im Sommer vielleicht noch das Samba-Festival in Coburg. Das Flugticket nach Brasilien habe ich auch schon gebucht. Ich fliege Mitte November.
Wir könnten noch viel miteinander reden, und noch mehr kann man über Ihr Leben schreiben. Dass zum Beispiel Ihr Vater die Sonnenblumen von Van Gogh besass, ist bereits mehr als einen Artikel wert.
Darüber könnte man sicherlich ebenfalls viel schreiben. Es schmerzt daran zu denken, wie er das Bild verloren hat.
Ich gebe Ihnen jetzt das Schlusswort. Was habe ich vergessen zu fragen, und was wollen Sie uns noch sagen?
Ich möchte den letzten Satz in meinem Buch, den ich am Schluss noch hinzugefügt habe, noch speziell erwähnen: «Fortsetzung folgt im nächsten Buch.» Das heisst, dass mein Leben im gleichen Stil weitergeht, ohne an ein Ende zu denken. Natürlich bin ich genügend Realist, um diese Situation zu beurteilen.
Die Bilder von Sarro hängte Marcel Markus in der Galerie ArteSol selber auf. Er nimmt sie auch wieder ab und verstaut sie im Lager von Sarro. Kunst ist auch zu seinem Hobby geworden. Die nächste Ausstellung von Sarro wird bereits vorbereitet. Kunstkataloge von Ausstellungen Sarros in Museen in Russland und China lagen in Solothurn auf. Und die Idee, eine neue thematische Kollektion Sarros im Rahmen einer Einzelausstellung im MOMA in New York zu präsentieren, wird weiterverfolgt. Die gewinnbringende Kombination wird Zug um Zug vorbereitet – vom Kurator und ehemaligem Schachmeister Marcel Markus.
Interview: Graziano Orsi
Marcel Markus persönlich
Wohnorte: Zürich/Fortaleza (Brasilien).
Alter: 81.
Beruf: Informatiker/Kurator.
Hobbys: Kunst und Musik.
Lieblingsschachspieler: Ein genialer Spieler war Michail Tal, der Zauberer von Riga. Das intelligente Schachspiel von Boris Spassky, das sich durch Kreativität und Ideenvielfalt ausgezeichnet hat, gefällt mir ebenfalls.
Weblinks
Adelio Sarro, brasilianischer Künstler – seine Werke wurden bereits weltweit präsentiert:
Ein wunderschöner Bericht, mehr davon!
Das scheint ein sehr ungewöhnlicher Mensch zu sein. Ein Individualist. Sehr schön, über so einen etwas zu lesen. Gerade das Schach bringt erfreulicherweise immer mal wieder solche „Einzelstücke“ hervor.