August 14, 2024

Relativität im Schach (4)

Relativität im Schach (4)

„Prinzipien wohnen zwar im Reiche des Gedankens, aber doch wurzeln sie im Leben“ Dr. Emanuel Lasker (Lehrbuch des Schachspiels 1925/1977, S. 164), Philosoph und Schachweltmeister.

 

Schachrelativität – Überlegungen zu einem generellen Relativitätsprinzip im Schach 


Wie schon erwähnt, brauchte Lasker aufgrund seiner umfassenden Schachfähigkeiten sowie seiner universellen Spielweise die eigenen Stärken, Mängel und Vorlieben kaum zu beachten und konnte sich bei der Vorbereitung auf Wettkämpfe und während der Partien voll auf seine Konkurrenten konzentrieren. Nun sind allerdings die wenigsten Spieler solche Schachtitanen oder Allroundtalente wie Lasker. Außerdem wissen Schachspieler manchmal nichts über ihren Gegner und können dessen Stärken und Defizite erst im Verlauf einer oder mehrerer Partien, wenn überhaupt, herausfinden.
Deshalb möchte ich meine folgenden Überlegungen zur Diskussion stellen: Für die allermeisten Schachspieler beinhaltet die Relativität des Schachs zunächst eine Beachtung der eigenen Stärken und Schwächen, Vorlieben, Abneigungen, Zielsetzungen sowie des momentanen Zustands (z.B. hochmotiviert oder müde). Erst dann ist es sinnvoll oder erfolgversprechend, die eigenen Fähigkeiten, die bevorzugte Spielweise usw. in Beziehung zu setzen mit den relevanten Charakteristiken, dem favorisierten Spielstil und den vermutlichen Absichten des jeweiligen Gegners – sofern darüber überhaupt Informationen oder Vermutungen vorliegen. Dabei gilt es, die Wechselwirkung der eigenen Plus- und Minuspunkte mit denjenigen des Kontrahenten zu berücksichtigen und günstig zu gestalten. Ein kompetenter Spieler ist bei der Auseinandersetzung mit dem Gegner bestrebt, die eigenen Stärken ins Spiel zu bringen und die Schwächen zu vermeiden sowie von Unzulänglichkeiten des Kontrahenten zu profitieren und dessen Stärken so wenig wie möglich zur Geltung kommen zu lassen. Man versucht also in Hinblick auf sich selbst und den Gegner sowie die Wechselwirkung potentieller Faktoren, den relativ besten bzw. einen vorteilhaften Zug oder Plan zu finden. Diese Form der Relativität im Schach ist noch „relativer“ als Laskers Ansatz. Ihre Berücksichtigung erfordert fraglos komplexes Denken, aber daran sind viele Schachspieler ja gewöhnt.

Wenn man die sprachliche Parallele zu Einsteins Relativitätstheorie aufrechterhalten will – der bekanntlich zwischen spezieller und allgemeiner Relativitätstheorie unterscheidet (siehe z. B. Einstein & Infeld 1987) -, bietet es sich an, auch im Schach von einer speziellen und einer allgemeinen Relativitätstheorie zu sprechen. Die umfassendere Konzeption ist hierbei die allgemeine Relativitätstheorie; Laskers Sichtweise stellt den Spezialfall der fast ausschließlichen Orientierung am Gegner dar.

Allgemeines Relativitätsprinzip im Schach 

In Erweiterung der speziellen Relativitätstheorie Laskers gilt für das allgemeine Relativitätsprinzip im Schach: Viele Züge sind nicht an sich gut oder schlecht, sondern erweisen sich erst in Hinblick auf die Mentalität des Spielers (eigene Stärken, Defizite, aktuelle Zielsetzungen) sowie Psyche und Fähigkeiten seines Gegners als ausgezeichnet, gut oder ungünstig!

Die praktischen schachpsychologischen Konsequenzen der speziellen und allgemeinen Relativität im Schach werden in meinem Buch Schachpsychologie (alle Auflagen) aufgezeigt und an Hand vieler Beispiele verdeutlicht.

Im SCHACH-Prozess-Modell (Munzert 1988 bzw. 1998 Kap. 20 & 29; 2023) werden psychische und/oder psychologische Aspekte und Faktoren sowie die psychologische Zugwahl berücksichtigt:

 

Schach und Quantenphysik: Das SCHACH-Prozess-Modell (Update 2023)

 

The SCHACH-Process-Model (Update 2023) – International Version

Kehren wir zurück zum ersten großen Meister der psychologischen Spielweise. Seine damals neuartigen Kampfmethoden sind mittlerweile für viele heutige Großmeister, Turnier- und Clubspieler eine Selbstverständlichkeit. Der Weltmeister machte starke und feine Schachzüge, die eine Art Relativitätstheorie des Schachs verkörperten. Wie Einstein revolutionierte Lasker die Grundlagen seines Fachgebietes, oder besser gesagt, er beschleunigte die Evolution des Schachs.

Im nächsten Beitrag folgen daraus gewagte Anmerkungen zur Vereinigung von Relativitätstheorie und Quantentheorie.

Wird fortgesetzt

Dr.  Reinhard Munzert

Copyright Dr. R. Munzert, 2023