Markus Angst – Igor Kupalov ist Präsident des Schachclubs Bois-Gentil. Der Genfer Verein stellt in der Schweizerischen Mannschaftsmeisterschaft (SMM) 2023 neun Mannschaften – so viele wie kein anderer Klub in der Schweiz.
Bois-Gentil Genf hat in der SMM 2023 neun Mannschaften – zwei mehr als in der vergangenen Saison und so viele wie kein anderer Klub. Worin liegt Ihr Geheimnis, dass Ihre Vereinsmitglieder so zahlreich in einem Teamwettbewerb mitspielen wollen?
Igor Kupalov: Das Geheimnis ist die allgemeine Atmosphäre, die in unserem Klub herrscht. Die Leute freuen sich aufs Treffen und auf die Team-Spiele. Entscheidend fürs Gelingen des Vereinslebens ist die Organisation der Veranstaltungen. Wir haben einen Vorstand, dessen Mitglieder die verschiedenen Aufgaben rund ums Klubleben teilen. Stellen Sie sich vor: Sie bekommen eine Einladung für einen Mannschaftswettbewerb, Sie kommen pünktlich zum Spiellokal, und alle Vorbereitungsarbeiten sind gemacht. Der Mannschaftscaptain nimmt Sie in Empfang, begrüsst alle und erklärt die Modalitäten. Die Getränke stehen zur Verfügung. Und für die externen Mannschaftsspiele versucht man, zusammen zu reisen. Was ich damit sagen will: Die grosse Mehrheit unserer Mitglieder sind wahre aktive Menschen. Aus diesem Grund haben wir entschieden, zwei zusätzliche Mannschaften für die laufende SMM-Saison anzumelden.
Gibt es noch andere erwähnenswerte Dinge?
Erwähnen möchte ich auch, dass wir keine «Söldner» haben in unserem Klub. Wir haben für die Teilnahme an den SMM – auch den Titelträgern nicht – nie bezahlt. Wohlverstanden, die Reisekosten werden übernommen, aber dies gilt für alle Spieler. Erwähnen muss man auch, dass das Jahr 2022 das Ende der Corona-Pandemie kennzeichnet. Nach dem Aufheben der Restriktionen zu Beginn des Jahres hat der Schachsport sich überaus positiv während der ganzen Saison entwickelt.
Führen die neun SMM-Teams auch zu organisatorischen Problemen – beispielsweise bei der Suche nach Captains und bei der Lokalbelegung?
Ich bevorzuge den Ausdruck «Fragen der Organisation» und nicht «Probleme». Für jede Runde muss man eine Einladung an alle Spieler schicken und eventuell Ersatzspieler aufbieten. Dies ist die Hauptaufgabe des Captains. Im Anschluss gilt es, das Lokal vorzubereiten, wenn man zu Hause spielt. Oder den Transfer bei Auswärtsspielen zu organisieren. Wir haben glücklicherweise Mannschaftscaptains wie Dmitrii Titov, Frédéric Walther und Marc Schaerer. Letzterer führt sechs von neun Mannschaften. Sie pflegen die Beziehung zu den Spielkameraden und dies hilft die Organisationsfragen rund um Teamwettkämpfe zu klären. Und in Bezug aufs interne Spiellokal gilt es zu erwähnen, dass unser Klub sich bestens einquartiert hat im Quartier Quatre Cités in Genf. Unser Verein engagiert sich im Kultur- und Sozialleben des Quartiers. Wir haben auch gute Beziehungen aufgebaut mit der Société Coopérative d’Habitations in Genf, die unser Hauptlokal in der Cité Villars zur Verfügung stellt – aber auch Spielsäle für die erste und zweite Mannschaft.
Vier ihrer neun Teams spielen in derselben 4.-Liga-Gruppe – es kommt also zu zahlreichen Klubduellen. Ist das für Ihre Spieler ein Problem?
Überhaupt nicht. Die Mehrheit der Spieler der 4. Liga sind Pensionierte. Für sie stellt das Schachspiel ein wichtiges Element des Alltags dar. Sie haben das Vergnügen, nicht nur die SMM zu bestreiten, sondern auch bei der Coupe du Léman teilzunehmen und bei der Klubmeisterschaft, die das ganze Jahr im Verein ein Thema ist. Sie sind einfacher für ein Spiel zu gewinnen und sie wissen, dass sie sehr geschätzt und willkommen sind. Zudem hat die Delegiertenversammlung des Schweizerischen Schachbundes 2019 entschieden, die Spieleranzahl in der 4. Liga von sechs auf vier zu reduzieren. Dies hatte eine positive Konsequenz. Unser Klub hat diese Gelegenheit genutzt, um die Anzahl Mannschaften in dieser Liga zu erhöhen.
Ist die SMM ein zusätzlicher Anreiz, um ELO-Punkte gegeneinander zu spielen?
Ich glaube nicht, dass die 4.-Liga-Spieler Ambitionen hegen, einen Titel zu gewinnen. Es sind nicht die ELO-Punkte, die sie am stärksten motivieren.
Sind die neun SMM-Equipen Ihres Vereins ein Indiz dafür, dass Sie einen Mitgliederzuwachs verzeichnen?
Ja, die Mitgliederanzahl hat in den vergangenen Jahren klar zugenommen. Im Jahr 2021 verzeichneten wir 84 Mitglieder, im Jahr 2022 waren wir 93, und jetzt sind wir bei 99. Die Gründe? Zuerst einmal das Ende der Pandemie und das Aufheben der Restriktionen. Zusätzlich gilt es zu erwähnen, dass der Kanton Genf 180 Nationalitäten zählt. Die Migrationshöhe ist eine der höchsten in der Schweiz. Die internationalen Organisationen spielen hier eine sehr wichtige Rolle. Und zwischen den Zugewanderten hat es auch eine gewisse Anzahl an Schachspielern! Zudem: Das lokale Radio sendet Informationen über die Schachklubs in Genf. Schlussendlich sind wir auch stolz, eine ausgezeichnete Website zu haben. Diverse Personen informierten sich dank ihr über unseren Verein und sind deswegen zu uns gekommen. Zusammenfassend kann man sagen, dass es sich lohnt, sich bekannt zu machen.
Aus der Stadt Genf sind sieben Vereine beim Schweizerischen Schachbund (SSB) gemeldet. Erschwert das die Suche nach neuen Mitgliedern?
Ich sehe die Situation nicht aus dieser Sicht. Es existiert keine Konkurrenz zwischen den Genfer Klubs in diesem Bereich. Jeder Verein hat seine eigene Strategie, um neue Mitglieder zu gewinnen. Zudem gibt es gewisse Spieler, die zwei oder gar drei Mitgliederbeiträge zahlen, da sie in mehreren Genfer Schachklubs Mitglieder sind. Ich gebe Ihnen ein konkretes Beispiel: Bois-Gentil hat für die Schweizerische Gruppenmeisterschaft keine Mannschaften angemeldet, aber diverse Spieler unseres Klubs spielen die SGM mit Nyon, der fünf Mannschaften angemeldet hat.
Wie sieht es bei Bois-Gentil in Sachen Nachwuchs aus?
Wir sind privilegiert, da wir in unseren Reihen den aktuelles Bundesmeister haben, FIDE-Meister Aurelio Colmenares. Er investiert viel in die Ausbildung, insbesondere bei den Jungen. Seine Kinderkurse finden dienstags statt, die Junioren und Erwachsenen profitieren mittwochs. Das Interesse für diese Kurse hat sich gut entwickelt, da man 15 Schüler am Dienstag hat und am Mittwoch 12 Teilnehmer kommen. Wir haben 14 Junioren unter 20 Jahren, die im Klub und beim SSB eingeschrieben sind. Davon haben 9 eine ELO-Klassierung, wobei die höchste ELO-Zahl bei 1840 ist (Marcos Prieto/U20). Die Kurse haben uns nicht nur ermöglicht, neue Mitglieder zu gewinnen, aber auch eine Junioren-Mannschaft für die SMM aufzustellen, die in der 3. Liga Erfahrungen sammelt.
Haben Sie eine Tendenz erkennen können bei den Jungen? Beziehungsweise: Ist ein grösseres Interesse fürs Schachspielen erkennbar?
Ja, sicherlich. Der coronabedingte Rückzug war gekoppelt mit der Ausstrahlung der berühmten Serie «The Queen’s Gambit». Diese Kombination hat das Interesse für unser nobles Spiel geweckt – insbesondere bei den Junioren. Der Genfer Regionalverband und dessen Klubs – darunter auch Bois-Gentil – haben grosse Anstrengungen unternommen, um die Jugend fürs Schachspiel zu begeistern. Darunter befinden sich nicht nur die Kurse, aber auch die kantonalen Wettkämpfe, insbesondere die Turniere Quatre Saisons und das grosse Schülerturnier mit mehr als 250 Teilnehmern in diesem Jahr.
Sie selbst sind Captain der ersten Bois-Gentil-Mannschaft in der Nationalliga-B-Westgruppe und spielen auch für diese. Welches Saisonziel haben Sie sich gesetzt?
Unser höchstes Ziel ist es, die wichtige Kameradschaft in unserem Klub zu pflegen. Auf sportlicher Ebene variieren die Ziele bedingt durch die Ligen. Für die zwei ersten Mannschaften, die in der Nationalliga B und 2. Liga spielen, lautet das Ziel, den Abstieg verhindern. In der 3. Liga, also für die Juniorenmannschaft, gilt es Erfahrungen bei Wettkämpfen zu sammeln. Und für die 4. Liga setzen wir alles daran, dass die Teilnehmer zusammen Freude haben am Spiel. Wenn aber eine Mannschaft einen Aufstieg anstrebt, gilt es zu prüfen, ob wir die Mittel haben und das Niveau vorhanden ist.
Wie wollen Sie dieses Ziel erreichen?
«Die Leitung von neun Teams erfordert viel Disziplin. Vor jeder Runde tauschen die Teamleiter ihre Aufstellungen per E-Mail aus. Man muss darauf achten, dass man sich an die SMM-Regeln hält, was die Qualifikation der Spieler betrifft. Auch die Einberufung und der Austausch per WhatsApp werden vorgenommen. Und sportlich gesehen ist bei einem Spiel alles möglich! Wenn ein Team verliert, versucht man, die Niederlage zu vergessen und sich auf die nächste Runde vorzubereiten.
Was zeichnet den Klub Bois-Gentil im Speziellen aus?
Zwei Punkte, die unseren Verein auszeichnen, möchte ich hervorheben. Erstens: Wir haben ein Führungsteam, das sehr effizient ist. Alle Entscheidungen werden auf eine kollegiale Art und Weise zusammen gefällt. Man trifft sich mindestens einmal im Monat, zuweilen auch öfters falls notwendig. Jedes Leitungsmitglied ist ein Spezialist auf seinem Gebiet. Dies ermöglicht uns, die diversen Aufgaben zu bewältigen. Und der zweite Punkt: Es ist die Aktivität unserer Mitglieder. Wir haben neun Mannschaften für die SMM und sieben Teams für die Coupe du Léman eingetragen. Die interne Klubmeisterschaft umfasst 58 Teilnehmer. Sie sind auf vier Kategorien verteilt und spielen die Meisterschaft die ganze Saison. Im nächsten Jahr wird eine fünfte Kategorie eingeführt, um neue Mitglieder zu begrüssen. Erwähnenswert ist auch unser Open-Turnier, das aus sieben Runden besteht und zwischen den Monaten Januar und März stattfindet. Es ist eines der beliebtesten im Kanton Genf. Zudem gilt es zu erwähnen, dass unsere Mitglieder viele Turniere in der Schweiz und im Ausland bestreiten.
Interview: Graziano Orsi
Igor Kupalov persönlich
Wohnort: Genf.
Alter: 54.
Beruf: Ökonom.
ELO (SSB): 1983 (Liste 1/23).
Hobby: Reisen.
Lieblingsspieler: Mein Favorit ist Anatoli Karpow. Er ist ein vielseitiger Spieler auf höchstem Niveau und ein exzellenter Taktiker. Sein Spiel zeichnet sich dadurch aus, dass er eine technische Perfektion hat beim Verwerten eines Vorteils. Zudem verfügt er über eine psychologische Widerstandskraft. Es gelingt ihm meisterhaft, den Spielverlauf oder Turnierspiele zu verarbeiten. Ich hatte 2020 das Vergnügen, bei einem Simultanspiel im Palais des Nations in Genf gegen ihn zu kämpfen.
Schach-Buchtipp: Ich empfehle Ihnen russischsprachige Bücher. Bobby Fischer hat Russisch-Sprachkurse genommen, um russischsprachige Bücher und Magazine zu lesen. Wenn Sie ein französischsprachiges Buch auswählen können, schlage ich Ihnen «100 Endspiele, die Sie kennen müssen» von Jesus de la Villa vor. Wenn Sie die Endspiele studieren, verstehen Sie besser die Kraft und den Wert jeder Figur!
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