November 22, 2024

Dings Dartitis

Ein paar Gedanken aus der Sicht des Mentaltrainers

Alle Angriffe sind abgewehrt, die Stellung ist stabil. 30 Züge lang spielte Ding ein Meisterwerk an aktiver Verteidigung. Im 31. Zug verschärfte er mit h4 unnötig die Stellung. Sein Zug war kein schachlicher Fehler, machte die Stellung aber riskanter – für beide Seiten. Dabei hätte er die Wahl zwischen mehreren einfachen und stabilen Zügen gehabt. In einer Blitzpartie hätte er die Stellung locker gehalten oder vielleicht sogar gewonnen. Aber nur noch 5 Minuten auf der Uhr für 9 Züge und es gibt keinen Zeitbonus.

Dann ein Schock: Nepo schlägt auf h4 – schnell und voller Selbstvertrauen. Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Dings Hand kann keinen Zug ausführen. Schwarz steht noch immer gut, hatte das Schlagen auf h4 aber scheinbar nicht erwartet und „fror ein“.

Hier glich er einem Dartsspieler, der im wichtigsten Moment seiner Karriere auf die „20“ wirft. Das Risiko des Fehlwurfs ist so groß, dass das Gehirn der Hand den Wurf verbietet. Dieses Phänomen wird als „Daritis“ bezeichnet. Und wenn der Druck dann so enorm ist, dass die Hand schließlich werfen muss, landet der Pfeil irgendwo – gleich Dings 33. Zug.

„Neuronales Kidnapping“ nennt Rowson solche Momente in seinem Buch „Die Sieben Todsünden des Schachspielers“. Der Druck auf den Spieler wird zu groß. Zunächst bricht er innerlich zusammen, dann seine Stellung, obwohl rein schachlich nichts passiert ist.

Die Zeit auf Dings Uhr lief unerbittlich ab. Man merkte, dass er nicht mehr Imstande war zu ziehen. Mit wenigen Sekunden auf der Uhr schoss er dann noch ein paar Züge heraus, aber diese verdarben die gute Stellung sofort.

Unter dem enormen Stress des Wettkampfs wurde Dings Gehirn völlig von Gefühlen überflutet. Er war nicht mehr fähig, klar zu denken. Neuronales Kidnapping tritt besonders in wichtigen Partien auf, bei denen das Nervenkostüm durch äußere Faktoren bereits belastet ist. Bei Ding war das die Last um den größten Erfolg in seinem Leben zu kämpfen, um den größten Erfolg den man als Schachspieler erreichen kann – den Weltmeistertitel. Dazu kam, dass er bereits zwei Schwarzpartien in diesem Wettkampf verloren hat. Und er fing in der Partie an, darüber nachzudenken. Dadurch verlor er den Fokus, das Selbstvertrauen und die Konzentration. So benötigte er mehr Bedenkzeit um gute Züge zu finden.

Weiters war die Intensität im Wettkampf und in dieser speziellen Partie enorm hoch. Er musste viele gute Verteidigungszüge finden, um die Stellung zu halten. Das Risiko des Scheiterns war hoch.

Und als schließlich auch die Zeit knapp wurde, brach Ding zusammen.

Wenn das Gehirn von Emotionen überflutet wird, ist bereits alles zu spät. Das Probleme sind nicht durch mehr sportartenspezifisches Training zu lösen, sondern nur über mentales Training. Wie mit dem Druck umgehen? Wie mit Situationen umgehen, in denen etwas Unerwartetes passiert? Und das muss weit vor dem Wettkampf passieren und intensiv trainiert werden.

Gerade in den letzten beiden Weltmeisterschaftswettkämpfen beobachteten wir das Phänomen, dass die mentale Stärke den Wettkampf enorm beeinflusst. Nepo, der 2021 nach der 6. Partie völlig zusammenbrach und danach weit unter seinen Fähigkeiten spielte – Ding, dessen Hand in der 7. Partie keine Züge mehr ausführen konnte. Ich bin gespannt, ob sich Ding von dieser schmerzhaften Niederlage erholen kann. Ein mentaler Kraftakt wird dazu nötig sein.

Harald Schneider-Zinner

Internationaler Meister und diplomierter Mentaltrainer

www.schachtrainer.at