Kurz nach Zug 30 roch es nach Remis, als sich zwischen Nodirbek Abdusattorov und Praggnanandhaa ein symmetrisches Turmendspiel entwickelt hatte. Eher scherzhaft, fast kichernd, zählten Yasser Seirawan und Anastasia Karlovych im Livestream die akademischen Vorteile der weißen Stellung auf: etwas mehr Raum, ein etwas aktiverer König, ein etwas aktiverer Turm. Sie sagten es nicht, ließen aber verlauten, dass sie jetzt jeden Moment mit einem Friedensabkommen rechnen.
Im Livestream referiert Anish Giri über den Unterschied zwischen menschlichem und maschinellem Vorteil. Ein Großmeister auf dem Sofa, Giri Second Jan Gustafsson, hört aufmerksam zu. Der andere, Turnierdirektor Sebastian Siebrecht, plant bereits fleißig den Rosenmontag. | Foto: Lennart Ootes
Die beiden Experten irrten. Bis zum 58. Zug versuchte Abdusattorov, seinen Mini-Vorteil in etwas Greifbares umzuwandeln. Erst als jeder von ihnen nur noch einen einzigen Turm hatte, schlossen der Usbeke und der Inder Frieden. Ihr makelloses Spiel mag als Beweis dafür dienen, dass es nicht an mangelndem Kampfgeist liegt, dass Unentschieden verbucht werden, nachdem sich der Staub gelegt hat. Fünf solcher Unentschieden wurden in der vierten Runde verzeichnet.
Als Beobachter das Spiel längst eingestellt hatten, musste Praggnanandhaa weitere Versuche von Nodirbek Abdusattorov abwehren. | Foto: Lennart Ootes
Jan-Krzysztof Duda und Levon Aronian hatten eine solche Partie nicht so lange, aber mit mehr Staub auf dem Brett. Wie sehr sie es beide wollten, war bald daran zu erkennen, dass sie beide die Sicherheit ihres Königs ignorierten. Anstatt die eigenen Linien geschlossen zu halten, griffen sie munter die Linien gegenüber an, ein Spiel nach dem Motto „Brenne Brücken hinter mir, trete Türen vor mir ein“.
Im Schach kann diese Art von Aktion jedoch zu erzwungenen Sequenzen führen. Das vorhersehbare wilde Gefecht fand nur rudimentär statt. Dann entdeckte Duda eine so erzwungene Zugfolge, die ihm ein ewiges Schach und einen halben Punkt sicherte. Und was noch wichtiger ist, es bot sich keine Alternative an. Da alles andere mit Matt bestraft worden wäre, nahm Duda das Dauerschach und den halben Punkt.
Anish Giri ersparte dem Publikum Schachwutanfälle wie im vorigen Absatz, als er nach dem Remis seine Partie gegen Andrey Esipenko im Stream sezierte. Giri hatte stattdessen Einblicke zu bieten. Im Schach, sagte er, gibt es zwei Arten von Vorteilen, den menschlich-organischen und den, der aus einer besseren Kenntnis der Engine-Varianten resultiert. Letzteres, dozierte Giri, sei viel schwieriger zu bekehren.
In der Tat: Hat sich ein Mensch aufgrund seiner Pläne und Manöver einen Vorteil verschafft, so ist die Grundlage für den Ausbau dieses Vorteils bereits gegeben. Sitzt ein Mann vor einer Position, von der er nur weiß, dass der Motor sie mit „+0,5“ bewertet, dann fangen seine Planungen und Manöver bei Null an. Giri, der schachtheoretisch vielleicht der versierteste Spieler der Welt, erzielt leider deutlich häufiger Engine-Vorteile als organische. Und er verwertet sie nicht – so wie am Sonntag gegen Andrey Esipenko.
Vincent Keymer würde sich über jeden Vorteil freuen, egal welcher Art. Mit 0,5 Punkten aus 3 Spielen schwebte ihm eine Zielscheibe auf dem Rücken, und nun stand er vor seiner dritten Partie mit Schwarz, diesmal gegen Gukesh. Dennoch war es für Keymer an der Zeit, zuzuschlagen, dachte Seirawan – er könnte ein Comeback hinlegen, wie es Praggnanadhaa am Tag zuvor getan hatte, und sich nach zwei Niederlagen einen Sieg sichern.
Dem Lokalmatador blieb ohnehin keine Wahl. Gukesh, der möglicherweise annahm, dass er einem angeschlagenen Gegner gegenüberstand, stiftete sofort eine Schlägerei an. Verteilt über das Brett musste Keymer hier einen Zwischenzug bändigen, dort ein Matt, hier einen Spieß und dort einen laufenden Freibauern. Der deutschen Nummer eins blieb nichts anderes übrig, als seine Deckung zu lockern und zu parieren, was kam. Keymer zeigte keine Schwäche, fand aber auch keine Lücke zum Kontern – Unentschieden.
Die meisten Schachspieler freuen sich über das Läuferpaar, und angesichts eines Mehrbauern schnalzt nicht nur der bekennende „Bauerngreifer“ Yasser Seirawan mit der Zunge. Wesley So hatte sowohl ein Läuferpaar als auch einen Mehrbauern gegen Ian Nepomniachtchi.
Ian Nepomniachtchi überließ Wesley So einen Bauern und das Läuferpaar. Das hatte nichts mit Freude am Schenken zu tun. | Foto: Lennart Ootes
Nepomniachtchi hatte ihm jedoch freiwillig beides gegeben, zuerst den Bauern und dann den Läufer. Dabei war er keineswegs von der Freude am Geben motiviert, sondern von der Einschätzung, dass So aus den beiden Vorteilen in der gegebenen Konstellation nichts machen könnte. Der angehende WM-Finalist sollte recht behalten. Nach der ersten Zeitkontrolle endete auch dieses Spiel unentschieden.
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Text: Offizielle Website
Foto: Lennart Ootes
Offizielle Website: wr-chess.com/
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