Was starke Spieler so stark macht, ist gar nicht einmal der Umstand, dass sie Partie um Partie gewinnen. Wenn es eng wird auf dem Brett, wenn Dinge schiefgelaufen sind, dann trennt sich die Spreu vom Weizen. Wo der Ottonormalschachspieler frustriert einbricht und sich seinem Schicksal ergibt, da erwacht des Großmeisters Hartnäckigkeit und Erfindungsreichtum.
Viel schiefer als beim türkischen Großmeister Vahap Sanal in der vierten Runde der OIBM am zweiten Brett gegen Stelios Halkias kann eine Eröffnung nicht laufen. Neun Züge gespielt, und der Türke stand platt: Bauer weg, Läuferpaar weg, schlechtere Stellung noch dazu – oder in den Worten des Schachfreunds Stockfish: “minus fünf”. Sanal hatte nicht darauf geachtet, dass 8…Sfd7 (siehe Diagramm rechts) streng verboten ist. Weiß nimmt auf d5 raus, dann noch einmal und dann gerne ein drittes Mal, und am Ende hängt auf a8 ein nicht zu rettender schwarzer Turm. Ein bekanntes Motiv, das schon andere Großmeister vergessen haben. Wer die Stellung rechts in seiner Datenbank sucht, macht reiche Beute.
Vahap Sanal hätte nun die Hand übers Brett reichen können. Ihm wären knapp 24 Stunden geblieben, den Ärger abzuschütteln und am Folgetag mit 3/4 per verzögertem Schweizer Gambit den Kampf um den Turniersieg neu aufzunehmen. Stattdessen kniete er sich rein, wehrte ab, was abzuwehren war. Die Stellung blieb zwar schlecht, aber, immerhin, sie wurde nicht noch schlechter. Dann, im Schwerfigurenendspiel, tauchten plötzlich erste Gegenchancen auf. Dann, noch später, war es plötzlich ein Turmendspiel am Rande der Remisbreite. Und nach 91 Zügen war tatsächlich ein hart erkämpfter halber Punkt unter Dach und Fach.
Zum Repertoire großmeisterlichen Erfindungsreichtums gehört auch die Fähigkeit, in kritischer Lage den richtigen Moment für ein Remisangebot abzupassen. Eine Demonstration dieser Befähigung bekamen die Zuschauer am sechsten Brett zu sehen, wo nach 23 Zügen der Europameister 2021 Anton Demchenko gegen den ukrainischen Wunderknaben Tykhon Cherniaiev etwa so stand wie Vahap Sanal gegen Stelios Halkias nach neun Zügen gestanden hatte: platt – oder in den Worten des Schachfreunds Stockfish: “minus vier”.
Allerdings war der Vorteil für menschliche Schachfreunde nicht ganz so offensichtlich wie in der Partie vier Bretter weiter. Gewiss wird Cherniaiev gespürt haben, dass er hier sehr gut steht, aber so gut? Außerdem: Eine Elodifferenz von fast 350 Punkten mag dazu beitragen, dass das Vertrauen in die eigene Stellung nicht so groß ist, als wenn gegenüber jemand Schlechteres säße. Bevor Cherniaiev entdecken konnte, dass sich seine Stellung fast von alleine spielt, egal gegen wen, sandte Demchenko gerade rechtzeitig und bestens getimt eine Friedensofferte über den Tisch. Cherniaiev akzeptierte.
Mit den genannten großmeisterlichen Wassern ist natürlich auch der Australier Bobby Cheng gewaschen. Aber gegen jemanden, der erst noch Großmeister werden will, half ihm das in der vierten Runde nicht. Ihm half nicht einmal ein Übersehen von Shreyas Royal, der schon im 24. Zug per d4-d5! die Partie mehr oder weniger hätte ausknipsen können (siehe Diagramm rechts). Die schwarze Bastion wäre wahrscheinlich unmittelbar kollabiert.
Shreyas Royal verpasste die Gelegenheit. Aber das hielt ihn nicht davon ab, sich im Endspiel ein weiteres Mal gewinnträchtigen Vorteil zu erkämpfen. Und diesmal zog er die Sache durch. Gemeinsam mit dem Tschechen Jiri Stocek, der Gerlef Meins niederrang, liegt der 13-jährige Engländer jetzt mit 4 Punkten aus 4 Partien an der Tabellenspitze, gefolgt von 14 Spielern mit 3,5 Punkten.
Morgen treffen die beiden Führenden aufeinander, eine Gelegenheit für beide, zum ersten alleinigen Tabellenführer der 25. Offenen Internationalen Bayerischen Meisterschaft zu werden. Kurios: Nur eine GM-Paarung steht in der fünften Runde auf dem Programm. An Brett zwei trifft GM Matthias Womacka auf den Setzlistenersten Anton Korobov.
Morgen wird nicht nur klassisches Schach mit langer Bedenkzeit gespielt. Um 20.30 Uhr beginnt das Blitzturnier, bei dem auch Gäste, die nicht an der OIBM teilnehmen, willkommen sind. Startgeld: 10 Euro. Es wird Ratingpreise geben, so dass auch Spieler ohne Titel eine gute Chance haben, nicht leer auszugehen.
More Stories
Jugend-WM in Italien: Von Spürhunden im Turniersaal und dem Warten auf Erfolg. Vökler: „Bisher unglücklich agiert“
Presse
ZWEI LEGENDÄRE SPIELER, KEINE ERÖFFNUNGSVORBEREITUNG. WER WIRD GEWINNEN? 20.-22. November 2024
Am kommenden Wochenende in Thalwil: Schweizer Rapid- und Blitzschach-Meisterschaft
SCHULSCHACH Helft Rebecca Browning mit 5 Minuten bei einer Umfrage für Ihre Universitäts-Arbeit
Mädchen-Grand-Prix in Leipzig am 14. und 15.12