Von GM Hertneck, München
Heute las ich, dass der ehemalige Weltklassespieler Vlastimil Hort heute seinen 75. Geburtstag feiert. Der breiten Öffentlichkeit ist er vor allem durch seine langjährige Tätigkeit als Fernsehkommentator Zusammen mit GM Helmut Pfleger bekannt, denn die Schachsendungen im WDR sind ja heutzutage bereits legendär! Großmeister Hort, oder „Vlasti“, wie er gerne genannt wird, ist zweifellos einer der angenehmsten und beliebtesten Schachspieler, den ich je getroffen habe! Folgende Geschichte ist mir noch in Erinnerung: einmal als wir in den 80er Jahren beim GM-Turnier in Dortmund spielten, und mir die Eröffnung völlig misslang, musste ich sehr früh aufgeben. Statt seinen Triumph auszukosten, nahm er mich beiseite, und meinte, und vielleicht können wir irgendwo analysieren, wo uns niemand sieht, damit es nicht so peinlich für mich ist. Das ist typisch Hort: er war nicht nur unter den stärksten Schachspielern der Welt (was einen gewissen Killerinstinkt erfordert), sondern ist immer menschlich geblieben, und auch seine Schach-Erinnerungen auf Chessbase werden von seinen Fans, zu denen ich mich auch zähle, sehr gerne gelesen.
Die folgende Partie ist meine erste überhaupt Veröffentlichte in der Megabase. Wie kam es dazu? Im Herbst 1976 trat ich im Alter von 13 Jahren in meinen ersten Schachklub, den SC Obermenzing ein. Drei Jahre später gastierte „Vlasti“ im Münchner Radstadion mit einem Blindsimultan. Er saß in einer Glaskabine und hatte nur ein leeres Schachbrett vor sich. Wenn ich mich recht erinnere, spielte er an 20 Brettern gleichzeitig und hatte an allen Brettern Weiß; die Wikipedia schreibt hierzu dass er in den 1980er Jahren gegen bis zu 20 Gegner simultan blind spielte. Unerwartet erhielt ich damals als stärkster Nachwuchsspieler (neben Robert Zysk, der auch bei Obermenzing spielte) das Angebot, an einem der 20 Bretter anzutreten. Da musste ich natürlich nicht zwei Mal überlegen. Die Züge für Hort führte übrigens der ältere Sohn von GM Wolfgang Unzicker, der spätere Physiker Alexander Unzicker aus, der damals auch für den SC Obermenzing spielte, heute aber schon lange nicht mehr schachlich aktiv ist.
Hort (2600) – Hertneck (ca. 2000) Schottisch C45
Münchner Blindsimultan im Radstadion auf dem Olympiagelände, Oktober 1979
1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.d4 exd4 4.Sxd4 Lc5 5.Sxc6
Die erste Überraschung. Ich rechnete nur mit der Hauptvariante 5.Le3 Df6 6.c3 Sge7 7.Lc4, zu der es tausende gespielte Partien gibt. Ehrlich gesagt, verstand ich damals überhaupt nicht, wieso Weiß freiwillig auf c6 schlägt, denn der Zug wird doch durch den nächsten schwarzen Zwischenzug quasi wiederlegt, zumindest dachte ich mir das so. 5…Df6 6.Dd2 dxc6 Auch wenn ich hier mit der Theorie nicht mehr vertraut war, griff ich intuitiv zum stärksten Zug. Natürlich wurde auch bxc6 und Dxc6 gespielt. 7.Ld3 Das häufig gespielte 7.Sc3 ist wohl ein wenig ungenau wegen 7…Ld4! 8.Ld3 Se7 9.0–0 Sg6, auch wenn die Stellung nach 10.Kh1 unklar bleibt. 7…Se7 8.0–0 0–0 9.Kh1!
Erst jetzt wurde mir klar, dass Weiß eine langfristige Strategie verfolgte, nämlich ein Spiel im Zentrum mit den verbundenen e- und f-Bauern. Aber Weiß hat ein Problem, und das ist seine Unterentwicklung. 9…Dg6! 10.f4 f5 11.Sc3 b5?! Sehr stürmisch gespielt, wie das bei mir in jungen Jahren üblich war. Das Analysemodul bevorzugt hier 11…fxe4!? 12.Sxe4 Lb6! (die Struktur am Damenflügel sieht rein optisch wirklich nicht schön aus, aber die Musik spielt woanders, nämlich im Zentrum und am Königsflügel) und nun z.B. 13.Sg5 Lf5 14.g4 Lxd3 15.Dxd3 Dxd3 16.cxd3 Sg6 mit unklarer Stellung.
12.De2?! Houdini bevorzugt 12.e5! Le6 13.De2 Sd5 14.Sxd5 Lxd5 15.c4 bxc4 16.Lxc4 mit angenehmerer Stellung für Weiß..12…Te8 Wieder war 12…fxe4 zu bevorzugen, denn nach 13.Sxe4 gewinnt Schwarz mit 13…Lg4! ein wichtiges Tempo. Zum Beispiel könnte folgen: 14.De1 Lb6 15.Sf2 Sf5 16.Sxg4 Dxg4 17.Ld2 Tae8 18.Dd1 mit völlig unklarer Stellung.
13.Te1 a5?! 14.Le3 Wieder war 14.e5 genauer. 14…Lxe3 15.Dxe3 b4 16.Sa4
Strukturell steht Schwarz schlechter, doch das dynamische Gegenspiel gleicht dies aus. 16…fxe4 Alternativ kam auch 16…Sd5! in Betracht, und nach 17.Df3 fxe4 18.Lxe4 Lf5! 19.Sc5 ergibt sich eine Zugumstellung zur Partie.
17.Lxe4 Lf5 18.Sc5 Sd5 19.Df3 Lxe4 20.Sxe4 Df5 21.g3 Te7 22.Te2 Tae8 23.Tae1 h6 24.c4?! Besser war wohl das defensive 24.Kg2. Übrigens bot Hort ungefähr an dieser Stelle (genau erinnere ich mich nicht mehr an den Moment) Remis an, was ich nach einiger Überlegung ablehnte. Bis heute wundere ich mich immer wieder über junge Spieler, die sofort nach dem Remis greifen, wenn der Gegner nur 100 Punkte stärker ist. Aus diesem Holz war und bin ich nicht gestrickt! Was hätte mir das gebracht? Gerade mal 25 Züge gespielt, und mit einer unfertigen Partie nach Hause gegangen.
24…bxc3 25.bxc3 Oder 25.Sxc3 Txe2 26.Txe2 Txe2 27.Dxe2 Sxc3 28.bxc3 Dd5+ 29.Kg1 mit ungefährem Ausgleich. 25…g5!? Wie gesagt, in jungen Jahren spielte ich oft den aggressivsten Zug ohne Rücksicht auf positionelle Verluste. Wie sich noch zeigt, schwächt der Vorstoß das Feld f6 und ist daher riskant. Taktisch ist er aber spielbar. 26.c4 g4 27.Dd3
Nun erreicht die Partie ihren taktischen Höhepunkt. Bis hierher haben beide Seiten mehr oder weniger folgerichtig gespielt, und keine größeren Fehler begangen. Was übrigens für einen 16-Jährigen, der bis dahin noch nie gegen einen Großmeister gespielt hatte, und auch mit entsprechender Nervosität am Brett saß, keine Selbstverständlichkeit war. Doch nun wird es spannend. 27…Sb4? Der erste Fehltritt, denn der Springer steht hier deplatziert. Welcher Zug liegt hier auf der Hand? Natürlich nicht 27…Sf6? 28.Sxf6+ Dxf6 29.Txe7 Txe7 30.Dd8+ mit Vorteil für Weiß. Richtig war natürlich der hübsche taktische Stoß 27…Sc3! wonach Weiß schon aufpassen muss: 28.Dxc3 Txe4 29.Dd2 Txe2 30.Txe2 Txe2 31.Dxe2 Kf7 mit Ausgleich; ein weiterer starker Zug war übrigens 27…Kf8!? um die Schachdrohung auf f6 aus der Stellung zu nehmen.
28.Dd4 Nun hat sich die Stellung deutlich zu Gunsten von Weiß geneigt, da die zentralisierte Dame auf d4 die Diagonale bis nach h8 unter Beschuss nimmt. 28…c5?? Auf den ersten Fehler folgt oft gleich der Zweite, Schwarz musste hier unbedingt Kf7 spielen. 29.Df6! Dies hatte ich in der Nervosität völlig übersehen, wobei es natürlich der selbstverständlichste Zug der Welt ist. 29…Dh7 Bereits der einzige Zug, denn 29…De6 30.Dxe6+ Txe6 31.Sf6+ verliert sofort. Und doch hat sich Schwarz völlig ohne Not in eine passive und ausweglose Lage gebracht.
30.f5 Nur einer von vielen Gewinnzügen in dieser Stellung. 39…Sd3 31.Dc3? Überraschend revanchiert sich Weiß mit einem groben Fehler. Nach 31.Sg5! Txe2 32.Txe2! Txe2 33.Dd8+ Kg7 34.Dd7+ konnte Schwarz aufgeben. Nach dem Textzug entsteht hingegen forciert ein besseres Damenendspiel für Schwarz.
31…Txe4 32.Dxd3 Txe2 33.Txe2 Txe2 34.Dxe2 Dxf5 Ich kann gar nicht sagen, wie froh ich war, dass ich mich durch Abtausch entlastet hatte! 35.Kg2 Kf7 36.Df2
Der letzte interessante Moment: natürlich darf Schwarz nicht auf f2 schlagen, weil Weiß dann eine Festung hat, indem er mit seinem König zwischen e3 und d3 pendelt. Doch umgekehrt, wenn Weiß die Dame auf f5 schlagen würde, dringt der schwarze König über e4 ein. Somit gibt es drei Kandidatenzüge: 36…Kg6, 36…Kf6 und 36…Ke6. Natürlich rechnete ich hier länger an 36…Ke6, um den König zu zentralisieren, und das wäre auch genau der richtige Versuch gewesen, denn nach 37.De2+ Kd6 38.Dd2+ Kc6! 39.Dxh6+ Kb7 bringt sich der schwarze König in Sicherheit, und danach droht die schwarze Dame richtig unangenehm zu werden, z.B. nach 40.De3 Dc2+ usw. Tja da hätte ich den Großmeister ganz schön ins Schwitzen bringen können, doch an dieser Stelle hatte ich nicht mehr genügend Mut, und entschied mich für 36…Kg6 37.De2 mit Remisschluss.
Jedenfalls werde ich an diese Partie immer gerne zurückdenken. Dir lieber Vlasti wünsche ich abschließend noch viele gesunde und erfüllte Jahre!
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