Bernd Schneider – Hier auf Facebook habe ich viele kontroverse Meinungen zum Krieg in der Ukraine gelesen. Ganz besonders interessiert mich in diesem Zusammenhang, wie die weltweite Schachgemeinschaft damit umgeht und ob z.B. Antaloi Karpow mit seinem Abstimmungsverhalten Schuld auf sich geladen hat. Meine feste Überzeugung ist es, dass Sport (Schach) und Politik nicht zu trennen sind. In meinem zurückliegenden Urlaub in der Eifel hatte ich die Ruhe und die Gelegeheit aktuelle Schachzeitungen zu lesen. Dabei ist mir der hervorragende Artikel „Schachspieler des Krieges: Menschen und Patrioten“ von Oleg Aronson (Moskau) in der Ausgabe 5/2022 der SCHACH ins Auge gestochen, der exakt meine Meinung zum Thema spiegelt. Eigentlich ist es für mich verwunderlich, dass der Beitrag des russischen Philosophen und Publizisten bislang wenig Aufmerksamkeit erregte. Ich habe mir deshalb die Erlaubnis von Chefredakteur Raj Tischbierek eingeholt, den Artikel hier zu veröffentlichen. Was sagt Ihr zu den mutig vorgetragenen Inhalten des russischen Geisteswissenschaftlers?
„Schachspieler des Krieges: Menschen und Patrioten
Von Oleg Aronson (Moskau)
Während ich diese Zeilen schreibe, läuft der Krieg seit einem Monat. Der Krieg, den Russland gegen die Ukraine entfesselt hat. Ein Krieg und nichts anderes, obgleich die offizielle Sprachregelung bei uns »Spezial-Operation zur Entnazifizierung und Entmilitarisierung der Ukraine« lautet. Für den Gebrauch des Terminus Krieg schließen die russischen Behörden Medien, bestrafen Blogger und verhaften diejenigen, die mit Antikriegsplakaten auf die Straße gehen. Die Weltgemeinschaft hat Russland nahezu einstimmig als Aggressor benannt. Eine solche Einigkeit scheint es in der Geschichte der UNO zuvor noch nie gegeben zu haben. Die Argumente der russischen Seite sind höchst nebulös: historische Exkurse über die Ukraine, die angeblich von Lenin erfunden wurde und die in allem der Sowjetunion verpflichtet sei; die Existenz von Nazis in der Ukraine, die dort angeblich die Macht übernommen haben; das Bestreben der NATO, Russland anzugreifen, wofür das westliche Militär-bündnis die Ukraine benutzen will. Und schließlich und vor allem: der Genozid an den Russen im Donbass. Es gibt keine Fakten, die diese Behauptungen beweisen. Die UNO, in der Russland Mitglied des Sicherheitsrates ist, wurde nicht angerufen. »Genozid«, »Entnazifizierung«, »Entmilitarisierung« und Sätze wie »Warum habt ihr acht Jahr lang geschwiegen?« (so lange dauert der bewaffnete Konflikt in der Ostukraine schon an) und »Haben Sie kein Mitleid mit den ermordeten Kindern im Donbass?« – all das wurde von der russischen Propaganda erst kurz vor Beginn des Krieges entwickelt. Memes, an denen Putins Propagandisten bzw. auch die Opfer des russischen Fernsehens, das diese Formeln von morgens bis abends herunterbetet, leicht zu erkennen sind.
Politologen können über die Ursachen, Ziele und Aufgaben dieses Krieges streiten, aber es ist unmöglich, nicht zu verstehen, wer der Aggressor und wer das Opfer ist. Für den Krieg sprechen sich vor allem naive Opfer der Propaganda, ausgesprochene Zyniker oder aber imperiale Patrioten aus, deren es in Russland viele gibt.
Unmittelbar nach dem Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine war die Schachgemeinschaft in meinem Land gespalten. 44 namhafte Spieler und Spielerinnen – darunter Njepomnjaschtschi, Swidler, Dubow, Khalifman, Kostenjuk und Gunina – unterzeichneten einen Offenen Brief an Putin, in dem sie ihn aufforderten, oder baten?, den Krieg zu beenden. Ihnen schlossen sich in persönlichen Erklärungen Grischuk und Witjugow an, die sich Anfang März bei einem Turnier in Belgrad aufhielten. Viele, die nicht auf dieser Liste standen, brachten ihre Haltung in den sozialen Netzwerken zum Ausdruck. Aber es gab und gibt auch diejenigen, die den Krieg unterstützen. Drei Namen stehen hier vor allem im Blickpunkt, wobei ich keine Zweifel hege, dass man die Liste erweitern könnte. Diese drei Namen – Karjakin, Karpow und Schipow –, von denen im Folgenden die Rede sein wird, bilden das gesamte Spektrum der Anhänger unserer Regierung ab. Sie sind in diesem Fall nicht als bekannte und starke Schachspieler interessant, sondern vielmehr, weil sie, jeder für sich, sehr markant einen sozialen Typus verkörpern.
Drei Typen
Beginnen wir mit Sergej Karjakin, einem der stärksten Spieler der Welt, der noch vor einigen Jahren ein Match um die Schachkrone spielte. Auf der Krim gebürtig, lebte er bis 2009 in der Ukraine und focht für deren Nationalmannschaft, mit der er 2004 Olympiasieger wurde. Als er 2016 zu seinem Match gegen Carlsen antrat, hatte er bereits die Staatsbürgerschaft gewechselt und war zum Liebling der russischen Nomenklatura und Massenmedien avanciert. Karjakin machte von jeher keinen Hehl daraus, dass er ein ergebener Putin-Anhänger ist und diese Liebe ist frei von Pragmatismus. Obwohl Karjakin von der Russischen Föderation finanziell unterstützt wird, glaube ich, dass er völlig aufrichtig ist. Er macht den Eindruck eines sozial infantilen Wesens und hat einen persönlichen Brief an Putin geschrieben, in dem er die Invasion in der Ukraine unterstützt und all die nötigen Schlagwörter verwendet: »Spezi-al-Operation«, »Genozid«, »Entnazifizierung«, »Entmilitarisierung«, sogar die »acht Jahre« klingen an. Karjakin ist ideologisch absolut indoktriniert, er ist der Macht verfallen und ähnelt jenen unglücklichen Menschen, deren Hirne von der Fernsehpropaganda gegrillt worden sind.
Anders verhält es sich mit Anatoli Karpow. Niemand wird bestreiten, dass er einer der besten Schachspieler aller Zeiten ist. Ich persönlich habe sein Spiel so sehr bewundert, dass es mir schwer fiel, gegen ihn zu sein. Aber hier spreche ich über Karpow als einen sozialen Typus. Und dieser Typus ist ein Geschäftemacher. Von frühester Jugend an war er ein Pragmatiker und Zyniker, der unter allen Machtstrukturen und Regimen erfolgreich aufstieg. Selbst während der Sowjetzeit hatte er das Zeug zum Geschäftsmann und avancierte zu einem der reichsten Männer des Landes. Heute ist er Mitglied der Regierungspartei Putins, die er in der Staatsduma vertritt, und stimmt stets so ab, wie es die Macht von ihm erwartet. Dies gilt auch für die verbrecherischen Gesetze und Entscheidungen dieser Regierung. Karpows eigene Gedanken und Gefühle sind, so sie existieren, tief verborgen. In unterschiedlichen Phasen seines Lebens trat er zunächst als Kommunist, dann als Anhänger linksliberaler Ansichten und schließlich als unpolitischer Privatmann auf. Jetzt, da es die Zeit erfordert, ist er ein Anhänger Stalins und des russischen Militarismus.
Und schließlich Sergej Schipow. Im Gegensatz zu den ersten beiden Typen – dem naiven Einfaltspinsel und dem zynischen Geschäftemacher, für die die Figuren Karjakin und Karpow stehen –, verkörpert Schipow eine wesentlich komplexere und daher gefährlichere Spezies. Er ist höflich, gebildet, charmant und intelligent. Er ist zweifellos ein sehr talentierter Kommentator, der ein Publikum auch fernab des Schachs fesseln kann. Während er in seinen Schachsendungen demonstrativ davon Abstand nimmt, über Politik zu diskutieren, und sich als tolerant gegenüber anderen Meinungen erklärt, tritt Schipow in seinem Blog als aggressiver Verfechter des Putin- Regimes auf. Neben den üblichen Phrasen darüber, dass er durchaus auch Fragen und Beschwerden an unsere Machthaber habe, gibt er deren Rhetorik, Argumente und Lügen doch vollständig wieder. Ohne in primitive Propaganda abzugleiten, sieht er die nationale Größe Russlands in seinen Schwierigkeiten und Problemen, die vor allem das Ergebnis der in der Welt vorherrschenden Russophobie1 sind: »Man mag uns nicht, man fürchtet uns, es werden Sanktionen über uns verhängt, unsere Sportler werden von Wettkämpfen ausgeschlossen, man nimmt uns Flagge und Hymne«.
Schipow ist nicht naiv. Er ist eindeutig in der Lage, sich Informationen aus den verschiedensten Quellen zu beschaffen, diese zu gewichten und sie mit den Postulaten der Propaganda zu vergleichen. Bei einigen Themen beweist er sogar Fähigkeiten zum kritischen Denken. Seine Position ist auch nicht pragmatischer Natur. Nein – er ist auf der Droge der imperialen Größe und des russischen Patriotismus. Während er mühelos über das erfundene Problem des Nazismus in der Ukraine räsoniert, geht ihm weder der offene Faschismus der Behörden in seinem Land noch der Krypto-Faschismus seiner eigenen Urteile auf. Warum spreche ich überhaupt über diese Putin-Patrioten, wo sich doch fast alle namhaften russischen Schachspieler gegen ihr Mantra ausgesprochen haben? Aus einem einfachen Grund: Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung unseres Landes – vielleicht macht man sich darüber im Westen ein falsches Bild – wird heute von genau diesen drei Typen repräsentiert!
Und dieses Land begeht in der Ukraine abscheuliche Verbrechen, die unmöglich zu übersehen sind. Die von der russischen Propaganda inspirierten Aussagen, die man allerorten hört, sind eine Sache. Aber es ist schwierig, nicht auf Bekannte und Kollegen zu reagieren, die man einst für intelligente und anständige Zeitgenossen hielt und von denen man jetzt enttäuscht wird. Im Umkehrschluss kommt es aber auch vor, dass Menschen, denen man bislang kaum Beachtung geschenkt hat, plötzlich und unerwartet eine bürgerliche Position einnehmen, was im heutigen Russland als ein Akt des Mutes angesehen werden kann. Natürlich ist die Figur des Beobachters nicht objektiv, aber selbst wenn man seine Voreingenommenheit eflektiert, kann man nicht leugnen, dass es um einen herum viele Karjakins, Karpows und Schipows gibt und nur wenige, sie sich gegen die Macht stellen, statt sich mit ihr zu identifizieren.
Wenn man also Protestbriefe gegen den Krieg sieht, fühlt man sich sofort solidarisch mit den Verfassern derselben und mit all jenen, die sie unterschrieben haben. Es ist sehr wichtig, dass die Mehrheit der besten Schachspieler Russlands beschlossen hat, sich zu äußern! Es ist wichtig, dass etwas von der Ungeheuerlichkeit und Offensichtlichkeit dessen, was geschieht, nicht spurlos an ihnen vorüber geht! Es ist wichtig, dass es viele von uns gibt.
Der Brief
Gibt es viele? Sind diese 44 Namen viele? Wahrscheinlich nicht. Es hätten mehr sein können – und sollen! Dieses Gefühl ist die erste Enttäuschung. Die zweite Enttäuschung liegt darin, dass der Brief an Putin gerichtet ist. Wieso? Ist es nicht klar, dass er es ist, der den Krieg angezettelt hat, der hinreichend bewiesen hat, dass alle Appelle an ihn sinnlos sind, dass er sich nicht um all die Briefe dieser Art schert? Warum versetzt man sich freiwillig in die Position eines Leibeigenen, der sich an seinen starrköpfigen Herren wendet? Am Ende des Briefes geht es um die sportliche Rivalität zwischen den Mannschaften der Ukraine und Russlands, die schon immer über den politischen Differenzen gestanden habe, und darum, dass es die Beendigung des Krieges den Schachspielern (wozu akkurat »und den einfachen Menschen« hinzugefügt wurde) beider Länder ermöglichen wird, die gegenseitige Achtung zu wahren. Das kann man für alles gelten lassen – aber nicht für diesen sinnlosen Krieg, der sich vor unseren Augen in ein brutales Massaker verwandelt und neben dem der Wunsch nach Frieden in der kleinen Schachwelt wie Heuchelei wirkt! Leider muss man konstatieren, dass die Phrase, der Sport stehe außerhalb der Politik, beide Seiten eint.
Dass dies von den Befürwortern des Krieges gesagt wird, ist verständlich. Aber warum äußern sich die Gegner fast gleichlautend? Indirekt steht es in dem Brief, aber Grischuk und Witjugow haben es offen ausgesprochen. Ich kann es verstehen, dass sich zum Beispiel Nakamura auf dieses Argument beruft, wenn er sich gegen die Disqualifikation Karjakins wegen dessen politischer Äußerungen ausspricht. Aber es wirkt befremdlich, es von russischen Schachspielern zu hören, die nicht anders können, als zu sehen, wie der Sport – einschließlich des Schachs – in ihrem Land in eine ideologische Waffe verwandelt wurde und zu einem integralen Bestandteil von Propaganda und Politik gemacht worden ist. In dieser Situation von der Autonomie des Schachs zu sprechen, bedeutet entweder, sich selbst zu täuschen oder sich der politischen Verantwortung zu entziehen, indem man so tut, als seien die Schachspieler in keiner Weise vom Krieg betroffen. Als könnten sie wie bisher leben, weiterhin um die Welt reisen und mit Schachspielen ihren Lebensunterhalt verdienen.
Aber die für manche vielleicht ernüchternde Wahrheit ist, dass sie sich jetzt nicht mehr nur an die Pandemie, sondern auch an den Krieg anpassen müssen. Wieder einmal wird deutlich, was für eine komplizierte Angelegenheit die »politische Verantwortung« ist. In ruhigen Friedenszeiten ist sie fast unsichtbar, aber in einer Situation der Verfolgung von Andersdenkenden und erst recht in Kriegszeiten kann sie nicht ignoriert werden. In solchen Momenten bedeutet Patriot zu sein nicht einfach, zu marschieren, zu wählen oder über Weltverschwörungen zu schimpfen. In solchen Momenten entscheidet ein Patriot für sich über die Frage: »Hat mein Staat recht oder nicht?« Hat er recht, muss man sich auf den Schützengraben vorbereiten, und wenn nicht, aufs Gefängnis. Im heutigen Russland ist es schon gefährlich, ein anständiger Mensch zu sein. Alle, die den Brief unterzeichnet haben, sind ein gewisses Risiko eingegangen. Das wissen sie. Daher diese seltsame Stilistik, diese Schüchternheit, um nicht zu sagen Angst. Das ist das Schicksal der anständigen Menschen in einer Diktatur: es ist schwierig bzw. unmöglich für sie, zu Helden zu werden, ihr Patriotismus zeigt sich darin, dass sie versuchen, anständig zu bleiben.
Sanktionen
Einige Zeit nach dem Brief wurden Sanktionen gegen russische Schachspieler verhängt. Karjakin wurde für sechs Monate gesperrt. Andere Russen, unabhängig davon, ob Kriegsgegner oder -befürworter, müssen unter FIDE-Flagge spielen, die russische Nationalmannschaft ist von den Teamwettbewerben ausgeschlossen. Klar ist ebenfalls, dass Russlands Vertreter nicht mehr zu vielen Turnieren eingeladen werden. Vor allem nicht, wenn die Möglichkeit bzw. Gefahr besteht, dass sie auf Ukrainer treffen. Diese Situation ist tragisch, aber gerecht. Und das gilt nicht nur für das Schach. Kontakte zu Kulturschaffenden, Wissenschaftlern und gemeinsame Bildungsprojekte mit Russland werden ausgesetzt. Überall auf der Welt werden Konzerte russischer Musiker und Ausstellungen russischer Künstler abgesagt. In einigen Theatern werden die Stücke von Tschechow aus dem Repertoire gestrichen, die Musik von Tschaikowski und Schostakowitsch wird aus den Konzert-programmen genommen.
Sowohl im Westen als auch in Russland sind viele Menschen gegen diese Praxis, die weitaus grausamer und absurder erscheint als die gegen Schachspieler verhängten Sanktionen. Die Geschichte der letzten Jahrzehnte hat uns gelehrt, dass Kultur, Kunst und Wissenschaft außerhalb der Politik stehen sollten. Das Gleiche galt für den Sport. Wir hatten uns einfach daran gewöhnt, dass das sowjetische Theater, Ballett und Sport auch während des Kalten Krieges Teil des Weltgeschehens waren. Selbst die sowjetische Invasion in Afghanistan führte nicht zur Absage der Olympischen Spiele 1980 in Moskau. Eine andere Sache war es, dass diese Spiele von vielen Ländern boykottiert wurden, die Athleten dieser Länder aber auf eigenen Wunsch unter neutraler (olympischer) Flagge teilnehmen konnten.
Jetzt ist die Situation umgekehrt: Es sind die Russen, die von der Teilnahme ausgeschlossen worden sind, und sie sind wegen der Politik ihres Staates ausgeschlossen. Dies wird als ein Mittel angesehen, die Politik zu beeinflussen und auf Verbrechen des betreffenden Staates zu reagieren. Es ist klar, dass Einzelne (Sportler, Schachspieler) mit den Handlungen ihres Landes und mit den Entscheidungen der Machthaber nicht einverstanden sind. Sollen sie unter Sanktionen leiden, wenn sie sich selbst nichts zuschulden kommen lassen haben und viele diese Handlungen sogar offen verurteilen?
Schuld & Verantwortung
Diese Frage ist nicht neu. Sie stellte sich in aller Schärfe nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland. Karl Jaspers fragte damals: »Ist es möglich, dem ganzen Volk die Schuld an den Verbrechen des Nationalsozialismus zuzuschreiben?« Und er anwortete: »Nein, Schuld ist immer individuell, auch wenn sie verschiedene Aspekte haben kann.« Die strafrechtliche Schuld wird vor Gericht ermittelt, die politische Schuld wird dir vom Sieger auferlegt, moralisch können nur Gleichgesinnte über dich richten. Aber nach Jaspers gibt es auch die »metaphysische Schuld«: wenn du nicht alles getan hast, um dich dem Bösen entgegenzustellen. Wahrscheinlich ist es nur das, was man den russischen Schachspielern vorwerfen kann. Jaspers schrieb von metaphysischer als individueller Schuld, aber es scheint mir, dass dies dem Verständnis von kollektiver Verantwortung am nächsten kommt, das Hannah Arendt zwanzig Jahre später entwickelte, als sie mit Trauer die Ergebnisse der deutschen Entnazifizierung mit ihrer Auferlegung von Schuld auf die gesamte Nation bewertete. Für sie, wie auch für Jaspers, kann Schuld nicht kollektiv sein – wohl aber Verantwortung! Sie kann zu einer politischen Illusion werden, die das individuelle Schamgefühl betäubt oder sie kann sich in politische Solidarität verwandeln.
Bei »politischer Verantwortung« handelt es sich für mich um eine Form von Kollektivität, die in Handeln umgesetzt werden muss. Sie vereint die Mitbeteiligung an den Verbrechen, die von der Gemeinschaft begangen werden, der man angehört (und der Mensch kommt nicht umhin, irgendeiner Gemeinschaft anzugehören) mit der Solidarität mit den Opfern dieser Verbrechen. Das ist weit entfernt von Reue. Es hat vielmehr damit zu tun, wieviel Nachteile du zu erleiden bereit bist. Leider liest sich der Brief gegen den Krieg, der an den Diktator adressiert wurde, der ihn begonnen hat, wie der Versuch, sauber und unbefleckt aus der Sache herauszukommen, aber sonst alles beim Alten zu belassen. Aber das ist unmöglich! Die Sanktionen, die gegen die russischen Schachspieler verhängt wurden, sind ein Minimum im Vergleich zu den Schrecken, denen sich ihre ukrainischen Kollegen ausgesetzt sehen. Die Sanktionen sollen dich lediglich daran erinnern, dass du Teil einer Gemeinschaft bist, die stärker sein kann als du als Individuum, die aber so nie gebildet wurde, auch nicht durch das stillschweigende Einverständnis eines jeden von uns.
Manchmal muss man, um Gemeinschaft zu finden, Solidarität und eine Wechselbeziehung mit jenen fühlen, die Not erleiden. Darin steckt auch jene Freiheit, die der Solidarität zugrunde liegt, die eine der Bedingungen der Demokratie mit all ihren sozialen Institutionen ist. Es ist die Solidarität mit den Schwachen, die der totalen faschistischen Mobilisierung entgegensteht. P.S. Um sich von einem anständigen Menschen, der angemessen auf die Unsinnigkeit des gegenwärtigen Krieges reagiert, in einen freien Bürger zu verwandeln, ist ein weiterer Schritt erforderlich – ein Akt kollektiven Handelns. Es ist schwierig, den hier diskutierten Antikriegsbrief als solchen zu betrachten. Er sollte ein Akt der Solidarität sein, wenn schon nicht mit den Ukrainern im Allgemeinen, so doch zumindest mit den Schachspielern der Ukraine. Die Ukrainer erklärten später, bei der Europameisterschaft in Slowenien nicht gegen Vertreter Russlands antreten zu wollen. Sie waren bereit, dafür Nullen in Kauf zu nehmen. Wie sich die Organisatoren diesem Problem künftig stellen werden, ist vergleichsweise uninteressant. Wichtig ist, dass die russischen Schachspieler darauf antworten. Besonders die, die den Brief unterschrieben haben.
Quelle: Zeitschrift SCHACH Ausgabe 5/2022
Fotos IM Bernd Schneider
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