Alexandra KOSTENYUK:
„Mein Traum ist es, Russland als ein freies, glückliches und wohlhabendes Land zu sehen. „Dieser Beitrag wird lang und wahrscheinlich zu emotional sein. Ich kann es nicht anders machen. Und ich kann nicht schweigen, wenn mein Herz vor Schmerz bricht. Heute lehren so viele Pädagogen, was Patriotismus ist, und teilen die Welt in „Patrioten“ und „Verräter“ ein.
Sie beweisen, dass die Regierung und Russland ein und dieselbe Person sind. Sie sind der Meinung, dass Kritik an den Maßnahmen der Regierung ein Verrat am Vaterland ist. Sie schwenken Fahnen, stoßen Obszönitäten aus und tauschen russische Buchstaben gegen lateinische aus, um zu verkünden, dass nur ihre Sichtweise die Wahrheit ist.
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Solchen Menschen kann man kaum etwas beweisen, aber für diejenigen, die noch bereit sind zuzuhören, möchte ich meine Geschichte erzählen.
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2002 gab ich mein Debüt für die russische Mannschaft bei der Weltschacholympiade in Bled. Nach fast 20 (!) Jahren in der Nationalmannschaft habe ich 220 Spiele bestritten. 220 Spiele für mein Land!
3 Gold, 2 Silber und Bronze bei der Schacholympiade. 2 Gold, 3 Silber und Bronze bei Mannschaftsweltmeisterschaften. 5 Gold-, Silber- und 2 Bronzemedaillen bei Mannschafts-Europameisterschaften. 2 Goldmedaillen bei Online-Olympiaden. Fast 2 Jahre meines Lebens habe ich in Mannschaftsturnieren und Trainingslagern verbracht.
In allen Interviews, die ich gegeben habe, wurde immer wieder betont, dass mir Mannschaftssiege und Wettbewerbe mehr bedeuten als Einzelsiege.
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Für mich macht es keinen Unterschied, welche Flagge wegen der Außen- oder Innenpolitik meines Landes neben meiner Mannschaft gehisst wird. Es war mir egal, ob es die Hymne von Glinka, Alexandrow oder Tschaikowsky war. Ich habe den nationalen Symbolen immer gelassen gegenübergestanden. Um an offiziellen Turnieren und Wettkämpfen in einigen Ländern teilnehmen zu können, muss ich unter der FIDE-Flagge spielen, was mich nicht zu einem nicht-russischen Schachspieler macht. Mein Land ist für mich nicht die Flagge, die Hymne und das Wappen, sondern das Land, in dem ich geboren wurde, die Menschen, die in diesem Land leben, meine Familie, die russische Sprache und die russische Kultur.
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Es gab für mich kein größeres Glück, als für mein Land zu spielen. Ich fühle mehr Schmerz in meinem Herzen als für Russland.
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Ich träume davon, Russland als ein freies, glückliches und wohlhabendes Land zu sehen, und ich werde weiterhin alles in meiner Macht Stehende tun, um diese Träume wahr werden zu lassen.
Übersetzt von Russisch
Foto u. Quelle: Instagram
Jede Kriegsrhetorik, die die Menschen für die eigene Sache zu mobilisieren sucht, braucht die klare Einteilung in Gut und Böse. Wenn der „Dämon“ einmal lokalisiert und personifiziert ist, werden im Sinne des „totalen Krieges“ alle in Sippenhaft genommen, die im weitesten Sinne mit diesem „Dämon“ verbunden bzw. von ihm kontaminiert sind. Welche Chance hat bei diesem „Vernichtungsfeldzug gegen das Böse“ noch die menschen- und völkerverbindende Kraft des Sports? Man könnte viel darüber reden, dass jede Geschichte eine Vorgeschichte hat, dass das Gegenteil jeder großen Wahrheit eine andere große Wahrheit ist und dass eine humanistische Moral unteilbar ist. Aber in der allgemeinen Hysterie, in der die Affekte „aufgekocht“, gebündelt und auf ein Ziel kanalisiert werden, braucht man viel Mut, um sich gegen die öffentliche Meinung zu stellen. Gab es eigentlich bei dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf den Irak und die staatlich legalisierte Folter irgendwelche Sanktionen gegen den Aggressor, die auch die amerikanischen Sportler oder Kulturtreibende einschlossen? Wer damals geschwiegen hat, hat m.E. heute kein recht, einen anderen Maßstab anzulegen.
Kriege sind immer ein Kriegsverbrechen, ob nun Amerikaner, Russen oder Ukrainer darin verwickelt sind. Es muss außerhalb der Hysterie sich immer steigernder Sanktionen und Gegensanktionen doch noch die Möglichkeit geben, dass sich Menschen – unabhängig von Geschlecht, Weltanschauung, Rasse und Nation – friedlich begegnen können. Wenn auch noch der Sport Teil des Krieges wird, sinken die Chancen auf einen Frieden oder eine spätere Versöhnung gegen Null. Der Frieden ist eine zu ernste Sache, um ihn nur den Politikern zu überlassen.
Frau Kostenyuk, ich danke Ihnen für diese persönliche Stellungnahme