November 26, 2024

Das Credo muss lauten: „Viel hilft viel“

Interview mit Ullrich Krause

Sehr geehrter Herr Präsident, für die Schachfreunde Berlin ist es eine große Ehre und Freude, dass sich der Deutsche Schachbund in diesem Jahr verstärkt bei der Ausrichtung der zentralen und gemeinsamen Runde der Schachbundesligen engagiert. Sehen Sie die Durchführung einer zentralen Bundesligarunde als Eckstein des professionellen Schachs in Deutschland an? Welche Bedeutung kommt einem solchen Großevent neben anderen Mannschaftskämpfen auf nationaler und internationaler Ebene zu?

Ullrich Krause

Ich war jetzt zweimal bei zentralen Bundesligarunden dabei und war beide Male sehr angetan von der professionellen Durchführung der Veranstaltung durch die Schachfreunde Berlin. Die Schachbundesliga als stärkste Liga der Welt ist und bleibt ein wichtiges Aushängeschild des deutschen Schachs. Nach meiner Erfahrung müssen Schachveranstaltungen möglichst groß aufgezogen werden, wenn man die entsprechende öffentliche Wirkung erzielen möchte. Die Deutsche Schachjugend hat die Deutsche Jugendeinzelmeisterschaft als zentralen Höhepunkt des Schachjahres, der Deutsche Schachbund wird 2019 erstmals den Meisterschaftsgipfel durchführen, bei dem etliche Meisterschaften zur selben Zeit am selben Ort stattfinden werden, und die zentrale Bundesligarunde steht dem in nichts nach.
Das Credo muss lauten: „Viel hilft viel“ – und das gilt auch und vor allem für die zentrale Bundesligarunde und ihre vielen begleitenden Veranstaltungen.

Die Planungen für ein solches Ereignis beginnen natürlich immer schon viele Monate im Voraus. Viele ehrenamtliche Hände sind hier beteiligt. Wie bewerten Sie die (Rahmen-) Veranstaltungen, die die zentrale Bundesligarunde am ersten Märzwochenende 2019 in Berlin begleiten werden. Gibt es aus Ihrer Sicht weitere Akzente die gesetzt oder Veranstaltungs- oder Themenwünsche, die bei einer künftigen zentralen Bundesligarunde berücksichtigt werden sollten?

Der DSB und die DSJ werden zum dritten Mal die Bundesvereinskonferenz im Maritim durchführen, deren Attraktivität natürlich durch die zentrale Bundesligarunde gesteigert wird und umgekehrt. Uns ist es gelungen, Dr. Robert Hübner für eine Simultanveranstaltung und einen Vortrag zu gewinnen. Das Hauptproblem dabei bestand in der exakten Terminierung und in der Raumbuchung. Das zeigt einerseits, dass es bereits sehr viele Rahmenveranstaltungen gibt, weist aber andererseits auch darauf hin, dass man darauf achten sollte, den Rahmen nicht zu sprengen. Persönlich würde ich mir wünschen, dass im kommenden Jahr das 50-jährige Jubiläum der DSJ in geeigneter Form gewürdigt wird, vielleicht durch einige Vorträge oder eine Ausstellung.

Der (schachlichen) Biografie auf Ihrer Homepage ullrich.krause.de habe ich entnommen, dass Sie dem Lübecker Schachverein von 1873 im Jahr 1981 als Jugendlicher beigetreten sind und nunmehr seit 37 Jahren die Treue gehalten haben. Gab es in Ihrer schachlichen Laufbahn irgendwann einmal die „Verlockung“ eines Vereinswechsels und was hat Sie ggf. bewogen, dem zu widerstehen?

Der Lübecker Schachverein ist in der Tat „mein Verein“ im besten Wortsinne: Viele meiner Freunde spielen auch dort und ich bin seit 1985 im Vorstand aktiv, wobei ich in den letzten Jahren aufgrund meiner anderen Ämter nicht mehr so viel Zeit für den Verein investieren konnte wie früher. Meine Verbundenheit zum Verein ist anscheinend auch in Schleswig-Holstein und Umgebung bekannt, denn ich habe in den vergangenen 37 Jahren nicht einmal ein Angebot erhalten, für einen anderen Verein die Schachfiguren zu bewegen. Ich hätte allerdings auch alle Angebote dieser Art dankend abgelehnt. Schließlich möchte ich in 13 Jahren gerne die goldene Ehrennadel des Vereins im Empfang nehmen, die man bei uns für 50-jährige Mitgliedschaft erhält.

Beim zentralen Bundesligawochenende werden auch viele jugendliche Schachspieler an den Brettern sitzen. Die meisten von ihnen werden vermutlich an eine künftige Tätigkeit als Vereins- oder Verbandsfunktionär noch keinen Gedanken verschwendet haben. Sie hingegen haben sich bereits im Jugendalter für Ihren Verein, später aber auch als Verbandsfunktionär in Schleswig-Holstein und nunmehr als Präsident des Deutschen Schachbundes auch außerhalb der vierundsechzig Felder für den Schachsport eingesetzt und hier maßgebliche Akzente gesetzt. Welche innere Motivation hat Sie angetrieben und warum sollten es die heutigen Jugendlichen Ihnen nachtun?

Ich habe mich in der Tat bereits in sehr jungen Jahren ehrenamtlich engagiert, ohne groß darüber nachzudenken. Irgendwie erschien es mir vollkommen selbstverständlich, meinem Verein etwas zurückzugeben und dafür zu sorgen, dass das Vereinsleben nach wie vor lebendig bleibt – auch und gerade im Jugendbereich. Ich kann alle aktiven Jugendlichen nur dazu aufrufen, es mit der Vorstandsarbeit zumindest einmal zu versuchen, denn die älteren Mitglieder, die häufig in den Vereinen das Sagen haben, kennen die Bedürfnisse und Wünsche der jüngeren Generation aus naheliegenden Gründen in der Regel nicht. Es ist natürlich sehr einfach, sich darüber zu beschweren, aber viel spannender ist es, in der Vorstandsarbeit mitzuwirken. Ich habe bei den Diskussionen und Auseinandersetzungen, die es dort naturgemäß immer wieder gibt, sehr viel gelernt – unter anderem, dass man diesen „älteren Herrschaften“ auch durchaus zuhören sollte, denn die verfügen über Erfahrungen, die man selber noch nicht gemacht hat! Wenn es gut läuft, kann man dann selber irgendwann die Führungsrolle einnehmen, so wie ich es im Verein getan habe: Nach zwölf Jahren als Jugendwart war ich ebenso lange als Vorsitzender tätig.

Auf Verbandsebene, also in Schleswig-Holstein, bin ich erst relativ spät aktiv geworden, nämlich im Alter von 40 Jahren. Mein Antrieb bestand damals darin, dass der amtierende Präsident nach fünfzehn Jahren aufhören wollte und dass es keinen natürlichen Nachfolger gab. Meine Motivation, auf DSB-Ebene zu kandidieren, entsprang einer Unzufriedenheit mit der Arbeit des damaligen Präsidiums. In beiden Fällen, also sowohl im Verband als auch beim DSB, war ich sozusagen Quereinsteiger und musste gleichzeitig alle Abläufe kennenlernen und führen – das war nicht immer leicht und funktioniert nur, wenn einen die Vorstandskollegen nach Kräften unterstützen.

Ihr Verein verfügt derzeit über sehr starke Jugendliche, die sich gerade in der 2. Bundesliga ihre Sporen verdienen. Werden wir einige von ihnen am zentralen Bundeligawochenende im März 2019 in Berlin sehen?

Ich war wie bereits erwähnt zwölf Jahre lang Jugendwart meines Vereins (1989-2001) und war damals der klassische ehrenamtliche Einzelkämpfer. Mein Nachfolger hat meine Arbeit in diesem Sinne fortgesetzt. Im Jahr 2006 ist dann mit Michael Weiss ein professioneller Schachlehrer zu uns gestoßen, der am Anfang etliche Widerstände überwinden musste, denn im Lübecker Schachverein galt damals die goldene Regel „Ein Ehrenamt muss man sich leisten können“, d.h. eine wie auch immer geartete Entlohnung für die Arbeit im Verein kam nicht in Frage. Ich kann mich an viele hitzige Diskussionen erinnern und muss ehrlicherweise zugeben, dass ich zunächst auch dagegen war, dass man mit Schachunterricht an Schulen Geld verdient. Inzwischen habe ich aber gelernt, dass das der einzige Weg ist, wenn man die Jugendarbeit in großem Stil aufziehen möchte. Ich habe dazu bei der Bundesvereinskonferenz 2017 einen Vortrag gehalten: ullrich-krause.de/kandidatur-fuer-das-amt-des-dsb-praesidenten (dort Punkt 4). Die Mischung aus professioneller Arbeit an den Schulen und ehrenamtlicher Tätigkeit im Verein ist der Schlüssel zum Erfolg. Die beiden größten Schachvereine Deutschlands in Hamburg und in Magdeburg haben das schon vor längerer Zeit erkannt. Ganz so weit sind wir noch nicht, aber unsere Jugendabteilung kann sich in der Tat sehen lassen. Die von Ihnen erwähnten Jugendlichen, die inzwischen auch das Rückgrat unserer ersten Mannschaft bilden, sind mit einer Ausnahme alle über das Schulschach zu uns gekommen: Frederik Svane hat die Schachregeln von seinem großen Bruder gelernt, als er noch nicht zur Schule ging.
Um die Frage zu beantworten: Ich gehe davon aus, dass unsere Top-Jugendlichen auch in Berlin dabei sein werden!

Während ich diese Fragen in den Rechner eingebe, läuft auf meinem Laptop gerade im Hintergrund die 6. Runde der Schachbundesligasaison 2018/2019. Auch wenn ich nur noch selten aktiv am Brett sitze, lässt mich die Faszination unseres Spiels doch nicht los. Es vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht wenigstens in einer Schachzeitung oder einem Buch gedanklich etwas nachspiele oder online die namhaften Wettkämpfe zumindest für ein paar Minuten verfolge. Geht es Ihnen auch so? Wie viel Zeit kann man als Präsident des Deutschen Schachbundes noch in das eigene Schach investieren und wie intensiv verfolgen Sie das nationale und internationale Geschehen auf den Brettern?

Ich habe lange Zeit für den Lübecker Schachverein in der 2.Bundesliga Nord gespielt und habe vor einigen Jahren eine kleine Auswertung in der mir vorliegenden entsprechenden Datenbank durchgeführt. Zu meinem eigenen Erstaunen hatte ich damals die zweitmeisten Partien aller Spieler absolviert! Ich habe außerdem über einen Zeitraum von fast 30 Jahren nahezu jedes Jahr an den Landesmeisterschaften von Schleswig-Holstein teilgenommen. Seit Mai 2017, also seit meiner Wahl zum DSB-Präsidenten, musste ich meine schachlichen Aktivitäten allerdings auf ein Minimum reduzieren, weil die Sonntage, an denen die Ligapartien stattfinden, für mich praktisch die einzigen schachfreien Wochenenden darstellten und ich diese freie Zeit einfach brauchte, um den Akku wieder aufzuladen. Nach mehr als anderthalb Jahren ohne Schachpraxis habe ich mich mit Beginn dieser Saison dazu entschieden, die Figuren wieder selber in die Hand zu nehmen: Ich spiele jetzt in der zweiten Mannschaft meines Vereins in der Landesliga und ich habe kurz vor Weihnachten an der DSAM in Dresden teilgenommen. Der Grund dafür ist einfach: Ich spiele nach wie vor sehr gerne Schach! Das Spiel übt immer noch eine Faszination auf mich aus, die hoffentlich bis an mein Lebensende erhalten bleibt. Außerdem haben Funktionäre, die ihren Sport selber nicht ausüben, immer das Problem, dass sie über Dinge reden, von denen sie streng genommen nichts verstehen.
Ich lese auch nach wie vor gerne Schachbücher, allerdings nicht mehr wie früher zu Trainingszwecken, und verfolge natürlich auch die wichtigen Turniere, im Falle des Kandidatenturniers 2018 sogar aus nächster Nähe. Und einige Online-Blitzpartien pro Tag sind eigentlich auch fast immer drin.

Eine abschließende Frage: Ihr Bundesland Schleswig-Holstein hat bis vor einigen Jahren an den Autobahnen mit dem Slogan „Land der Horizonte“ geworben. Welchen Horizont sehen Sie für das deutsche Schach in den nächsten 5-10 Jahren. Was möchten Sie bis dahin erreichen und welche Voraussetzungen müssten dafür ggf. geschaffen werden?

Die Führungsarbeit in einem Verband mit 90.000 Mitgliedern in 2.700 Vereinen besteht zum größten Teil darin, die einander oft widerstrebenden Interessenlagen der Verbände und Vereine unter einen Hut zu bringen. Artur Jussupow hat das einmal sehr schön wie folgt formuliert: „Wir sitzen nicht alle im selben Boot, aber wir sollten zumindest versuchen, in dieselbe Richtung zu rudern.“ Das war auch der erste Punkt auf meiner Agenda, als ich im Mai 2017 für das Amt des Präsidenten kandidiert habe. Ich habe den Eindruck, dass sich die Anzahl der „Quer-Ruderer“ inzwischen auf ein Minimum reduziert hat. Die anderen Punkte aus meinem Wahlprogramm waren Schulschach, Mitgliedergewinnung, Bekämpfung des Vereinssterbens und Online-Schach. Für alle diese Punkte gibt es spannende Projekte und Aktivitäten. Am 1.Juni 2019 findet der nächste DSB-Kongress statt, und bis dahin möchte ich gerne gemeinsam mit meinen Kollegen im Präsidium das Programm für die nächsten beiden Jahre festgelegt haben. Ob wir wiedergewählt werden und dann die Möglichkeit haben, dieses auch umzusetzen, wird man sehen. Eine längerfristige konkrete Planung ist aufgrund der beim DSB üblichen zweijährigen Amtszeiten realistischerweise nicht möglich.
Aber die Frage zielt vermutlich in eine andere Richtung, hier geht es um die Entwicklung des deutschen Schachs unabhängig von den handelnden Personen.

Zunächst würde ich mir wünschen, dass sich alle Delegierten bei den DSB-Sitzungen der Tatsache bewusst sind, dass genau sie diejenigen sind, die über die Zukunft des deutschen Schachs entscheiden, und zwar genau bei diesen Sitzungen! Ein Ehrenamt auf DSB-Ebene ist meines Erachtens keine persönliche Errungenschaft, auf der man sich dann ausruhen kann, sondern mit sehr viel Verantwortung verbunden. Wenn alle Delegierten nach diesem Leitsatz handeln würden, wäre schon viel gewonnen.

Zweitens möchte ich noch einmal auf die Bedeutung des Schulschachs für die Entwicklung des Schachsports in Deutschland hinweisen. Schulschach boomt, und es wäre absolut fahrlässig, wenn wir diese Gelegenheit verpassen würden. Also: Wir müssen die Lehrer ausbilden, Schachtrainer an den Schulen platzieren und auch die Eltern mitnehmen. Das kostet Zeit und Geld, ist aber eine absolut lohnende Investition in die Zukunft.
Drittens glaube ich, dass der Frauenanteil in den Schachvereinen signifikant erhöht werden muss, um das Schachspiel endlich aus der muffigen und spaßfreien Ohrensessel-Kamin-Zigarren-Zone herauszuführen, in der es sich für viele Nicht-Schachspieler immer noch befindet. Um das zu erreichen, sollte man aber meines Erachtens nicht nur das Frauen- und Mädchenschach explizit fördern, sondern ganz generell die Bedingungen in den Vereinen und bei unseren Turnieren so gestalten, dass sich dort auch Mädchen und Frauen wohlfühlen.

Viertens müssen wir die Senioren endlich als ebenso ständig wachsende wie wichtige Zielgruppe wahrnehmen. Die Absenkung der Altersgrenze auf 50 gibt uns gleichzeitig die Möglichkeit, die ehemaligen Vereinsspieler zurückzugewinnen, die mit Anfang 20 aus beruflichen und familiären Gründen dem Schachsport abhandengekommen sind und die sich jetzt eine Rückkehr an das Schachbrett wieder vorstellen können.
Fünftens könnte Online-Schach in Zukunft noch viel wichtiger werden, als wir das im Moment erahnen. E-Sport ist ein Thema, das auch beim DOSB intensiv diskutiert wird, und Schach ist die einzige Sportart, die man quasi aus dem Stand problemlos im Internet spielen kann. Aber das wird nur dann ein Erfolg, wenn wir den Spaßfaktor betonen und Schach auch für die breite Masse attraktiv präsentieren.

Sechstens verkaufen wir uns nach wie vor unter Wert. Ein stimmiges Gesamtkonzept, das alle Facetten des Schachsports und -spiels beleuchtet und mit dem man dann an potentielle Partner und Sponsoren herantreten könnte, gibt es immer noch nicht. Das Stichwort Fundraising kann hier auch eine große Rolle spielen. Hier benötigen wir die Hilfe von Marketing-Profis, die einen vollkommen unverbrauchten Blick auf die 64 Felder haben, der uns naturgemäß abhandengekommen ist.

Last but not least müssen wir endlich eine generelle Diskussion darüber führen, wie die Zusammenarbeit zwischen den ehrenamtlichen Funktionären und den Leuten gestaltet werden kann, die mit Schach ihren Lebensunterhalt verdienen. Eine vollständige Professionalisierung wäre dabei genauso falsch wie die vor allem in Vereinen noch häufig anzutreffende Verteufelung der Schachprofis. Ich bin mir aber sicher, dass es hier einen Mittelweg gibt, von dem am Ende alle profitieren – und auch und vor allem der Schachsport!

Das Credo muss lauten: „Viel hilft viel“