November 22, 2024

Die Schach-WM in Dubai findet in den Medien nicht nur eine positive Resonanz

Der Artikel stand am 4.12.2021 auf der Seite des Schweizer Schachverbandes. 

Markus Angst – Nicht zuletzt dank der Netflix-Serie «The Queen’s Gambit» und dem in diesem Herbst in die Kino gekommenen Film «Schachnovelle» nahmen – ausschliesslich wohlwollende – Schachberichte in den letzten zwölf Monaten einen breiten Raum in den Medien ein. Der derzeit in Dubai laufende WM-Match zwischen Magnus Carlsen und Ian Nepomniaschtschi sorgt aber nicht nur für positive Schlagzeilen.

«Zug um Zug ins Abenteuer» von Nicole Tabanyi in der «Schweizer Familie», «Où sont les reines?» von Ellen de Meester in «Femina» und «Eine wie Rocky Balboa» von GM Nico Georgiadis in

Die von der norwegischen Journalistin Kaja Marie Snare moderierten Live-Kommentare auf dem Chess24-Kanal von YouTube richten sich auch an ein breites Schachpublikum.

der «Weltwoche» sind nur drei Beispiele herausragender Artikel aus der Schweizer Medienlandschaft, die Schach verstärkt ins Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit gebracht haben.

Doch es war nicht nur Beth Harmon, die Schach als Sport und Spiel zu Hause in Zeitungen und Magazine brachte. Viel zur neuen Popularität von Schach trugen auch die attraktiven Online-Turniere bei. Weil diese dank der kurzen Bedenkzeiten Action, Spannung und Unterhaltung boten, auf verschiedenen Social-Media-Kanälen übertragen und auch mit für Laien verständlichen Kommentaren und Analysen begleitet wurden, fanden die Live-Übertragungen bald eine grosse Fan-Gemeinde – auch ausserhalb der traditionellen Schach-Community.

Doch genau das droht nun mit der Weltmeisterschaft in Dubai etwas verloren zu gehen. «Meine Freude auf die Schach-WM war gross – doch es folgte die bittere Enttäuschung», betitelte Philipp Reich vorgestern Donnerstag seinen Artikel auf dem Schweizer Online-Nachrichtenprotal Watson. «Jedes Duell endete bislang remis. Packend wurde es auf dem Brett bislang nicht, denn die beiden kennen sich bereits seit Kindertagen und gehen auch deshalb kaum ein Risiko ein. Carlsen und Nepomniaschtschi halten sich strikt an die von ihren Teams mithilfe von Supercomputern ausgearbeiteten Strategien und rühren defensiven Schach-Beton an. Sie neutralisieren sich und versuchen nicht zu gewinnen, sondern möglichst nicht zu verlieren.»

Tatsächlich gingen übergreifend über die drei WM-Matches Carlsen – Karjakin, Carlsen – Caruana und Carlsen – Nepomniaschtschi 19 Partien mit klassischer Bedenkzeit hintereinander unentschieden aus, ehe sich der norwegische Weltmeister gestern Freitag – mit 136 Zügen und nahezu acht Stunden Spielzeit notabene in der längsten Begegnung der WM-Geschichte – wieder einmal den ganzen Punkt gutschreiben lassen konnte.

Gerade diese Marathonpartie veranschaulicht die Problematik bezüglich Publikumsinteresse. Während Rapid- und Blitzturniere durchaus auch Hobbyspieler an den Computer locken, wird kaum ein Freizeitspieler so lange live zuschauen. Für Klubspieler hingegen kann eine solche Partie wie die sechste in Dubai durchaus eine Delikatesse sein.

Kommt hinzu, dass laut Philipp Reich die Einstiegshürde der Live-Kommentare für Laien viel zu gross ist. «Experten erklären für Experten. Sie erklären anschaulich nach jedem Zug, wie es weitergehen könnte und welche Züge für den jeweiligen Spieler infrage kommen. Katalanische Eröffnung, Russische Verteidigung – das kommt mir alles spanisch vor. Die zu erwartenden Züge werden von den YouTube-Experten viel zu schnell vorgetragen. Keine Chance, dass ich da gedanklich mitkomme. Dabei wäre beim aktuellen Modus mit der vielen Bedenkzeit ja gerade genügend Zeit vorhanden, um die Beweggründe für die einzelnen Züge oder Strategien verständlicher auszuführen.»

Und auch wenn ich mich als Mediensprecher des Schweizerischen Schachbundes (SSB) natürlich primär über rein positive Schachberichte freue, kann ich diese Sichtweise des Watson-Journalisten nachvollziehen. Allerdings muss fairerweise angefügt werden, dass es beispielsweise auf dem Chess24-Kanal von YouTube auch eine Live-Version gibt, die sich dank der originellen Moderation der norwegischen Journalistin Kaja Marie Snare (keine Schachspielerin!) durchaus auch an ein breites Publikum richtet. Und es gibt auch sehr gute Kommentatoren, die viel Wissen über die Art und Weise, wie Grossmeister ticken, preisgeben.

Der regelmässig über Schach berichtende «Spiegel» hatte wohl eine leise Vorahnung, als er in der Ausgabe 45/2021 (erschienen am 6. November) über genau diese Problematik berichtete. «Das klassische Schach will doch kaum einer mehr spielen, geschweige denn sehen. Die Aufmerksamkeitspanne der Menschen wird immer kürzer. Sie wollen Action. Das macht die schnellen Spiele so attraktiv», zitieren die beiden Autoren Matthias Fidler und Florian Pütz den als «The Big Greek» bekannten griechischen IM Georgios Souleidis, der einen der grössten deutschen Schachkanäle auf YouTube betreibt.

Demgegenüber steht die Sichtweise der Traditionalisten. So befürchtet beispielsweise Emil Sutovsky, Generaldirektor des Weltschachbunds FIDE, «dass das Schachspiel seine Wurzeln und seinen Ruf als einzigartige Subkultur verliert, wenn es ganz oder fast ganz auf den Spassfaktor ausgerichtet wird» (Zitat aus «Spiegel» 45/2021).

«Allen Schachinteressierten recht getan, ist eine Kunst, die niemand kann», müsste man zu diesem Thema wohl das bekannte Sprichwort von Robert Bosch adaptieren.