November 2021, FM Christoph Eichler
Vor zwei Monaten wurde ich auf Michael Prusikins Neuerscheinung aufmerksam und zögerte keinen Augenblick, mir „Das Damengambit“ zu kaufen. Ich habe Michael als Gegner, Trainer und Ausbildungsreferent kennengelernt. In allen drei Rollen überzeugte er mich durch sein respektvolles, klares und fundiertes Auftreten. Umso gespannter war ich auf seine Herangehensweise als Buchautor. Um es vorwegzunehmen: meiner Meinung nach ist der deutschsprachige Schachbuchmarkt privilegiert, dieses Werk exklusiv zur Verfügung zu haben. Das Buch richtet sich ausdrücklich an Vereinsspieler und ist in drei Teile gegliedert.
Der erste Teil widmet sich im Stil eines Lehrbuchs besonders wichtigen Strukturen, Motiven und Plänen, die typischer Weise in der (aktuell kritischen) Abtausch- sowie der Tartakower-Variante auftreten. Diese werden, überwiegend aus Perspektive des Nachziehenden, anhand von Partien erörtert. Besonders gut gefallen mir die allgemeinen Leitsätze: in welchen Strukturen sollte man versuchen welche Figuren zu tauschen bzw. deren Abtausch zu vermeiden? Auf welche sogenannten Signalzüge man welche Gegenmaßnahmen in Betracht ziehen sollte und woher dieser Zusammenhang rührt. Ausführlich werden wirksame Reaktionen auf den Minoritätsangriff und die „Botwinniksche“ Bauernwalze (f2-f3, e3-e4) erläutert. Die Lektionen über hängende und isolierte Bauern tragen nebenbei zur schachlichen Allgemeinbildung bei.
Der zweite Teil umfasst die harte Theorie und beinhaltet ein komplettes (!) Schwarzrepertoire gegen alles außer 1. e4. In den Hauptvarianten finden sich immer wieder Erläuterungen und auch weitere Leitsätze. Der Detailgrad der Nebenvarianten braucht sich vor marktüblichen Repertoirebüchern nicht zu verstecken und zitiert zahlreiche Fernschachpartien. Das bringt mich zu einem Wunsch, den ich persönlich für eine zweite Auflage oder eine Übersetzung hätte: ich fände es hilfreich, wenn die für einen Vereinsspieler relevanten Varianten, z.B. farblich, gekennzeichnet würden, denn jedenfalls für dieses Niveau scheint mir die Anzahl der Nebenvarianten (inklusive diverser Neuerungen auch des Anziehenden) zu ausführlich. Auf der anderen Seite macht genau dieser Umstand das Buch auch für starke Turnierspieler attraktiv.
Einen wissenschaftlichen Beitrag leistet das Buch insbesondere gegen die Abtauschvariante. Auf Topniveau beginnen zahllose Partien mit 1. d4 Sf6 2. c4 e6 3. Sf3 und erst jetzt 3. … d5. Der Grund liegt darin, dass die Karlsbader Variante nur dann theoretisch kritisch ist, wenn Weiß seinen Königsspringer noch nicht auf das Feld f3 festgelegt hat. Die Zugfolge 1. d4 d5 2. c4 e6 3. Sc3 Sf6 4. cxd5 exd5 war bei den Profis in jüngerer Zeit weniger beliebt, weil die Resultate für Weiß sprachen. Zuletzt hatte Ntirlis 2017 in seinem Buch „Playing 1.d4 d5“ versucht der klassischen Zugfolge mit 1. … d5 neues Leben einzuhauchen. Prusikins Empfehlungen, die auf einer Verzögerung des Zuges Sb8-d7 basieren, erscheinen mir demgegenüber als Weiterentwicklung.
Gegen 4. Lg5 behandelt der Autor die Tartakower Variante, wobei sich hier auch die Lasker- und orthodoxe Verteidigung aktuell bester theoretischer Gesundheit erfreuen.
Gegen Katalanisch macht Prusikin aus Repertoiregründen kleine Abstriche und verzichtet auf das wünschenswerte Läuferschach auf b4. Er empfiehlt die universell einsetzbare geschlossene Verteidigung mit Le7, 0-0, c6, b6 und weist selbst auf trickreiche Zugfolgen und Zugumstellungen hin, die ich bei ersten online Versuchen direkt am eigenen Leib zu spüren bekam. Bei der Entwicklung des Sb8 und des Lc8 steckt der Teufel im Detail und hier entscheiden Nuancen maßgeblich darüber, wer im frühen Mittelspiel auf dem Fahrersitz Platz nimmt. Wenn man diese Klippe erfolgreich meistert ist die Empfehlung interessant, weil sie scheinbar harmlos daherkommt, aber auch für den Anziehenden richtig schieflaufen kann, wovon ich ebenfalls ein Lied singen kann.
Gegen 4. Sf3 fiel die Wahl auf das moderne 4. … a6, was wiederum häufig zur Karlsbader Struktur führt und sich daher gut ins Repertoire einfügt.
Besonders relevant für Vereinsspieler: gegen das derzeit allgegenwärtige Londoner System wird ein u.a. von Adams geprägter Aufbau mit Ld6, 0-0, c5, frühem Dc7 und Sbd7 beleuchtet. Instruktiv fand ich die Nebenvariante 2. Lf4 Sf6 3. e3 e6 4. Sf3 Ld6 5. Se5 0-0 6. Sbd2 c5 7. c3 und jetzt das überraschende 7. … c4.
Eine Probe aufs Exempel machte ich noch gegen einen aktuellen Kurs von Simon Williams zur Variante 1. d4 d5 2. Sc3 Sf6 Lf4. Wie zu erwarten zieht Prusikin diesem extravaganten Aufbau gründlich den Stachel, beginnend mit 3. … a6. Auch auf Anhänger der Bird Eröffnung dürften schwierigere Zeiten zukommen, sobald sich das Buch verbreitet.
Insgesamt wählt Prusikin fast immer den prinzipiellen Weg, was das Repertoire durchaus umfangreich (auch bezüglich der Stellungstypen) gestaltet, dafür aber kerngesund und zukunftsträchtig.
Abgerundet wird das Buch durch 36 Teststellungen, die allesamt aus Partien zum Damengambit stammen, allerdings ohne konkrete Aufgabenstellung gestellt werden. Sprich, es bleibt offen, ob nach einer taktischen Lösung oder einer strategischen Idee gefragt ist, oder Letzteres durch Ersteres möglich gemacht wird. Pro Stellung werden 3 bis maximal 15 Minuten Bedenkzeit vorgeschlagen.
Frisch ans Werk, was für Vereinsspieler gedacht ist, sollte ich doch hoffentlich lösen können?! Nun ja, nach drei Aufgaben stand es 2-1 … für das Buch. Fürs Protokoll: mein gekränktes Ego hält die Aufgaben für zu schwer. Der selbstreflektierte Rezensent in mir erinnert sich aber auch an ein Gespräch im Verein. Auf die FAQ Nummer Eins an erfahrene Spieler „was sollte ich tun, um mich zu verbessern?“ stellte sich auf Rückfrage heraus, dass mein Vereinskollege wöchentlich ca. 50 Taktikaufgaben löst und diese zu über 95% korrekt. Witziger Weise verhält es sich mit uns Hobby Schachspielern allzu häufig umgekehrt zu Hobby Marathonläufern und Kraftsportlern, die im Training gerne zu schnell laufen bzw. zu viel Gewicht auflegen.
Eine Anregung hätte ich gleichwohl: ich hätte es gut gefunden, wenn in der Lösung auch auf (naheliegende) fehlerhafte Versuche eingegangen worden wäre und erklärt wäre, warum diese entweder konkret nicht funktionieren, obwohl sie eigentlich wünschenswert sind bzw. ob sie von Haus aus verkehrt sind.
Fazit: „Das Damengambit“ ist für mich eines der bereicherndsten Schachbücher der letzten Jahre. Die Erläuterungen finde ich durchgehend verständlich. Prusikin bemüht sich bei aller Sachlichkeit um eine abwechslungsreiche Sprache, die mitunter sogar etwas launisch wirkt. Insbesondere der erste und dritte Teil bieten denjenigen Lesern, die sich die Zeit und Ruhe nehmen sie ernsthaft durchzuarbeiten großes Potential, ihren schachlichen Horizont zu erweitern. Nebenbei bietet der zweite Teil auch eine Fundgrube für die Partievorbereitung. Für mich eine klare Kaufempfehlung.
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