Franz Jittenmeier hat bereits Kurzberichte veröffentlicht – so kurz, dass es nur zu Carlsen-Jubelsätzen reichte (Arien haben mehrere Strophen) – aber ich bringe doch noch meine eigene Sichtweise. Carlsens einige Jahre andauernde „Krise“, in der zwischenzeitlich sogar Platz 1 in der Weltrangliste gefährdet schien, lag aus meiner Sicht auch daran, dass die Gegner sich besser auf seine Spielweise eingestellt hatten. Nun waren sie wieder reihenweise lieb zu ihm – schon vor und erst recht nach dem Ruhetag.
Das kam dabei heraus: Carlsen 7/9, Ding Liren und Karjakin 5, Grischuk, Anand, Radjabov 4.5, Topalov und Navara 4, Mamedyarov 3.5, Giri 3. Das sieht aus wie Dominanz und ist es auch – ich bestreite es nicht aber werde Ursachenforschung betreiben. Zur Erinnerung: Vor dem Ruhetag hatte Anand ein Remisendspiel vergeigt – auf eine Art und Weise, dass selbst einschlägige Carlsen-freundliche Quellen auf überschwängliches Lob für den Norweger verzichteten. Und Navara hatte früh in der Partie eine Qualität verdaddelt. Was in der Endabrechnung auch eine Rolle spielen könnte: Mamedyarov und Giri erwischten beide sehr schlechte Turniere – in Wijk aan Zee konnte Anish noch fast mit Carlsen mithalten. Aber nun zum Geschehen nach dem Ruhetag:
Runde 6 lief noch nicht nach Wunsch für Carlsen – Remis gegen Ding Liren, wie immer, das sechste in sechs Partien mit klassischer Bedenkzeit. Carlsen stand mit Schwarz leicht schlechter – nicht viel, aber selbst das wurde übertrieben um dann zu sagen, wie toll er sich doch verteidigt habe. In seinem geliebten Schnell- und Blitzschach führt Carlsen übrigens 17-2 bei 13 Remisen, aber das lag fast ausschliesslich an einem Match 2017 in Saint Louis.
Ausrufezeichen setzten in dieser Runde andere – eher nicht Topalov, der gewann weil Mamedyarov patzte, sondern Karjakin. Die ersten 37 Züge blitzte er gegen Anand herunter, so weit ging seine Vorbereitung wobei die Neuerung im 31. Zug kam. So lange folgten sie Aronian-Caruana, es war Caruanas WM-Vorbereitung. Ab da konnte Karjakin viel Bedenkzeit investieren und ein leicht besseres Endspiel dann gewinnen – im Gegensatz zu Carlsen-Anand war nicht allzu offensichtlich, was Anand falsch machte. Dazu zwei Zitate: „Karjakin versucht, seine Gegner zu überspielen, Carlsen wartet vor allem auf gegnerische Fehler, Karjakin ist mir lieber.“ Das stammt vom ehemaligen Weltklassespieler Dreev – natürlich wurde es scharf verurteilt denn jede auch nur leise Kritik an Carlsen ist Majestätsbeleidigung und Gotteslästerung, aus meiner Sicht hat es jedenfalls einen wahren Kern. Und: „Wo Andere sich friedlich trennen, spielt er weiter auf der Suche nach dem Killerzug.“ Das schreibt Franz Jittenmeier über Carlsen – wenn es auf eine Partie in diesem Turnier zutrifft, dann auf Karjakin-Anand 1-0.
Damit teilte Karjakin nun die Führung im Turnier mit Carlsen, tags darauf geschahen erstaunliche Dinge:
Runde 7 mit vier Remisen, in denen nicht allzu viel los war. Ausgerechnet Anish Giri verhinderte eine komplette Remisrunde, dabei gingen ihm vielleicht zwei Dinge durch den Kopf: Sonst meckert Franz Jittenmeier wieder sowie „wenn ich Carlsen nicht gewinnen lasse, ist er beleidigt und verweigert Kindern Autogrammwünsche“ – zumal seine früheren Lieblingsgegner Topalov und Mamedyarov gegen Carlsen nicht gepatzt hatten. Also nahm er einen ziemlich offensichtlich vergifteten Bauern und ging dann sang- und klanglos unter. 18.-Dxe3+?? war, jedenfalls in Verbindung mit seinem nächsten Zug, grottenfalsch. Richtig war 18.-Kh7 – den Bauern auf h6 decken und dann mit g7-g6 die weisse Dh5 vertreiben. Carlsen-Fan Klaus Besenthal schrieb dazu auf Chessbase „auf eine solche Idee muss man als Mensch erst einmal kommen“ – ich würde sagen, das kann man als Großmeister durchaus sehen. Giri hatte es offenbar gesehen und erwogen aber betrachtete es als strategisch verloren – eine merkwürdige Mischung aus Pessimismus und Optimismus im selben Zug. 19.-f6 und dann mit dem König von g8 via e6 nach c8 in relative Sicherheit laufen war dann nicht naheliegend, aber 19.-Td8 war hoffnungslos. Da der 18. und 19. schwarze Zug eigentlich eine Denkeinheit formen sollten gibt es von mir zwei Fragezeichen für den Bauernraub.
Europe Echecs schrieb zunächst „Giri nahm naiverweise einen Bauern“, löschte das später und brachte später im Turnier reinste Carlsen-Jubelarien. Hat das Carlsen-Lager etwa während dem Turnier die zuvor relativ kritischen Franzosen aufgekauft?
Doch noch zum Rest der Partie: Carlsen wollte offenbar gar nicht im Angriff gewinnen sondern erhielt ein Endspiel mit Mehrqualität – glatt gewonnen wobei selbst das nicht unbedingt sein musste. Giri war in extremer Zeitnot – da es in Shamkir erst ab dem 61. Zug Inkrement gibt war Zeitüberschreitung nahezu unvermeidlich, im 38. Zug war es soweit. Einmal hatte Carlsen bei Norway Chess in Gewinnstellung die Bedenkzeit überschritten – die Organisatoren entschuldigten sich dann bei Carlsen dafür, dass Carlsen die Zeitkontrolle nicht kannte. Eine andere Folge davon war später der Turniersieg für Nutzniesser Topalov, der sich vor allem dadurch nach Elo für das Kandidatenturnier qualifizierte in dem er abgeschlagen Letzter wurde. Nun kannte Carlsen die Zeitkontrolle und lobte sie ausdrücklich – zugegebenermassen schon bevor er davon (ein bisschen) profitierte.
Nun hatte Carlsen einen halben Punkt Vorsprung auf Karjakin, der tags darauf im direkten Duell Weiß hatte, aber …..
Runde 8: Carlsen spielte Sveshnikov-Sizilianisch, dafür wird er gelobt da man ihn eben lobt. Die Hauptvarianten haben auf höchstem Niveau heutzutage einen sehr remislichen Ruf, Karjakin wollte/musste gewinnen und spielte daher 7.Sd5. Dafür keine Kritik. Carlsen war dann offensichtlich mit Remis zufrieden aber Karjakin wiederholte nur einmal. Auch dafür keine Kritik, aber warum er für 16.Le2 (in einer Stellung, mit der er rechnen konnte oder musste) 20 Minuten brauchte ist rätselhaft – heute stimmte die Vorbereitung offenbar gar nicht.
Carlsen brauchte erstmals länger für 20.-0-0, das war vielleicht ein Dilemna für ihn. Vermutlich sagten ihm seine WM-Sekundanten (ich verdächtige Daniil Dubov), dass man den Bauern auf h5 in derlei Stellungen durchaus opfern kann und Carlsen hatte ein Problem: „soll ich auf meine Sekundanten hören, es passt doch gar nicht zu meinem Stil!“. Bauern opfert er nur, wenn es total ohne Risiko ist, davon musste er sich mühsam überzeugen. Definitiv Oberwasser bekam Carlsen nach 30.f4? mit vernichtender und dabei freiwilliger Schwächung des weissen Königsflügels – 30.f3 mit Rückgabe des Mehrbauern war noch relativ spielbar. Dass Carlsen seinen Se5 zunächst stehen liess und mit 30.-Dg6 einzügig Matt drohte (31.-Dxg3) war aus meiner Sicht nicht weltmeisterlich im Sinne von „das kann nur ein Weltmeister finden“.
Auch Karjakin war lieb zu Carlsen, der nun bereits als Turniersieger feststand. Ansonsten in dieser Runde: Grischuk bestrafte Navaras experimentelles Spiel, und Topalov schaffte es, gegen Ding Liren ein schlechteres aber objektiv remises Turmendspiel zu verlieren. Am Ende war es Springer gegen Turm – das war mal Tablebase-Remis und dann wieder nicht und so ging es hin und her bis Ding Liren gewann. Der Chinese ist nun definitiv der andere Sieger in Shamkir, was Elo-Qualifikation für das Kandidatenturnier betrifft: ohne selbst allzu viel zu zeigen konnte er seinen Vorsprung auf Mamedyarov und Giri ausbauen.
Runde 9 war Zugabe für Carlsen, nun mal wieder mit Ähm äh Schach. Nach 8 Zügen betraten er und Grischuk theoretisches Neuland, das lag an Carlsens 7.ähm äh La4 und 8.ähm äh Lc2 – letzteres war vielleicht auch ihm peinlich, da er dafür 16 1/2 Minuten brauchte. Das kann nicht vielversprechend sein, aber immerhin kann es den Gegner verwirren. Nach 13.Dxd8 Txd8 (also früher Damentausch) hatte Carlsen was er wollte, objektiv wohl schlicht und ergreifend nichts.
Wie und warum genau Grischuk es schaffte, das zu verlieren, kann ich auf die Schnelle nicht beurteilen. Später trennte er sich vom Läuferpaar – aus Enginesicht OK aber musste es sein? Dann hüpfte er mit seinem Springer herum: 18.-Sg4 (harmloser Angriff auf f2), 21.-Sf6, 23.-Sd7. Carlsen opferte danach einen Bauern – risikofrei sonst macht er es ja nicht. Grischuk, der zwischenzeitlich 25.-f6 gespielt hatte, gab den Bauern mit 37.-f5?! sofort zurück, da sein Pferd unbedingt wieder nach f6 wollte (Engines empfehlen stattdessen 37.-Sb8 nebst 38.-Sc6) und ging ab hier völlig unter. Dass er Carlsens 35.Td2 gar nicht gesehen hatte sagt einiges über seinen Auftritt an diesem Tag.
Schon tags zuvor konnte Carlsen sich auf der Pressekonferenz arrogant ausleben (Karjakin verzichtete auf eine Nebenrolle). Viel erwähne ich mal nicht, nur seine Antwort auf die äusserst nette Frage (norwegischer Reporter?) „Leben wir in der Carlsen-Ära?“ „Ich glaube, wir hatten bereits ein paar Jahre davon, von daher, ehrlich gesagt, ja!“. In diesem Zeitraum hat er u.a. zwei WM-Matches souverän 6-6 gewonnen …. . Nun bezeichnete er es auch als „eines der besten Turniere, die ich jemals gespielt habe, betrifft Resultat und Qualität der Partien“. Bei Halbzeit war er mit der Qualität der Partien noch eher unzufrieden, aber dann kamen ja noch drei liebe Gegner in den drei letzten Runden.
Wie geht es weiter? Demnächst mit Grenke Chess – abwarten, ob Carlsens Gegner dann wieder lieb zu ihm sind. Wenn er dynamisches Schach versucht, was eigentlich nicht so sein Ding ist, den Bogen überspannt und der Gegner auf der Höhe des Geschehens ist, kann er auch (gab es schon mehrfach) gegen Naiditsch verlieren …. . Wenn Europe Echecs da nicht Vachier-Lagrave sondern Carlsen die Daumen drückt wissen wir, dass irgend etwas nicht stimmt.
In Norwegen sagt man, es sind die Augen die sehen (bzw sehen wollen).
Magnus ist ein netter junger Mann, er stammt aus einer fantastischen Familie, hat eine bescheidene ruhige Mutter, einen sehr höflichen, freundlichen Vater, und drei wundervolle charmante Schwestern. Magnus ist ein sehr begabter aber auch ehrgeiziger Schachspieler, der sich sehr ärgert wenn er Fehler macht. Daß er da Emotionen zeigt bedeutet nicht gleich daß er unsympathisch ist. Wir in Norwegen kennen ihn sehr gut aus zahlreichen, längeren Interviews und wie er von seiner Familie und Freunden beschrieben wird. Es hilft natürlich, ihm in seiner Muttersprache zuzuhören.
Es muß sehr anstrengend sein, immer im Rampenlicht zu stehen, und immer perfekt TV-freundlich aufzutreten, auch wenn man eine wichtige Partie verloren hat oder stetig die gleichen zum Teil dummen Fragen beantworten muss. Nota bene: Ich habe Magnus noch nie über eine andere Person oder einen Gegenspieler schlecht reden hören!
Seit 2011 hält er ununterbrochen die Elo-Ratingspitze. Seit 2013 ist er zum 4. Mal Weltmeister. Vorgestern bestritt Magnus sein 50. Langschachspiel in Folge ohne verloren zu haben. Das hat nichts mit freundlichen Gegnern zu tun.
Zum Schluß empfehle ich Herrn Richter mal den Artikel «Who is the master» zu lesen:
ICGA Journal 39 (2017) 3–43
DOI 10.3233/ICG-160012
IOS Press
Who is the Master?
Jean-Marc Alliot∗
IRIT, Toulouse University, CNRS, France
Ich bin Deutscher, wohne seit über 40 Jahren in Norwegen. Man soll versuchen andere Menschen im guten Licht zu sehen, und nicht nach Äußerlichkeiten urteilen. Herr Richter schreibt sehr feine Schachkommentare, aber seine zur Schau getragene Antipathie gegen Magnus Carlsen verringert die Qualität seiner Reportagen und seiner Rolle als Kommentator, ebenso wie die Seriosität des Schach-Tickers. Also, versuchen wir alle mal Magnus Carlsen mit freundlichen oder zumindest neutralen Augen zu betrachten!
Wer „Ave Carlsen Halleluja“ lesen will wird ja im Internet reichlich bedient – auch auf dem Schachticker. Hier haben Autoren das Recht auf eigene Meinungen, auf kommerziellen Seiten gibt es vielleicht Weisungen das zu schreiben, was Carlsen-Fans lesen wollen.
Mag sein, dass ich Carlsen-Grischuk etwas unterbewertet habe. „eine der besten Schachpartien der letzten Jahre“ – würde Martin Rieger das auch sagen, wenn Aronian, Caruana oder gar Giri auf diese Art gewonnen hätten (was sie durchaus können)? Oder gibt es einen Carlsen-Bonus?
Ich muss meinen beiden Vorrednern zustimmen. Dieser Artikel schmälert die phantastische Leistung Carlsens auf geradezu unerträgliche Art und Weise. Ich bin gewiss kein Fan von Carlsen oder dessen Stil oder seinem Verhalten, aber ich finde, ein gewisses Maß an Respekt und Anstand sollte gewahrt bleiben weil man sich sonst nur der Gefahr aussetzt, unglaubwürdig und unseriös zu erscheinen. Im Übrigen empfinde ich die Partie Carlsen – Grischuk als eine der besten Schachpartien der letzten Jahre. Also: Natürlich hat jeder Autor das Recht auf seine eigene Meinung, sollte aber andere immer so behandeln, wie er selbst behandelt werden möchte.
Ich frage mich wirklich,ob man die Kommentare von Herrn Richter überhaupt noch ernst nehmen sollte. Sie sind einfach von einem abgrundtiefen Hass gegen M.C. geprägt.
Mann muss einfach mit großem Respekt konstatieren, dass seit langer Zeit M.C. die Schachwelt dominiert. Er erlebt genauso Höhen und Tiefen in seiner Schachlaufbahn wie jeder andere Spieler auch, aber immer auf so einem hohen Niveau, so dass kein anderer Spieler ihn wirklich gefährden konnte.
Seine Spitzenstellung nur mit der Dummheit seiner Gegner zu erklären ist respektlos und hanebüchener Unsinn.
Man kann sicher Kritik am Auftreten des Weltmeisters üben, aber den Respekt für eine starke schachliche Leistung zu verweigern, ist einfach unsportlich.
Schach ist Sport und damit Wettkampf.Da ist nicht jeder Partie immer ein Schönheitspreis. Aber auch bei den besten Spielern der Welt gilt, wer den letzten Fehler macht, verliert.
Ich hoffe, uns bleiben zukünftig ähnlich unerträgliche Kommentare von Herrn Richter erspart.
Hallo zusammen,
der Grundton in diesem Bericht und auch andere vom Herrn Richter, lassen insgesamt
einen gewissen Respekt gegenüber der Weltelite vermissen. Die Jungs spielen unglaublich
gutes Schach, aber sie sind eben keine Maschinen. Daher machen sie auch durchaus grobe Fehler.
Ich mag das Gehabe von Carlsen auch nicht und empfinde ihn ebenfalls als recht unsympathisch. Dennoch muss man seine Leistungen anerkennen und zufällig sind diese
auch einfach nicht. Lobhuddeleien sind mir auch ein graus, aber wie wäre es mit einem neutralen Bericht, oder ist das nicht möglich?
Gruß
Marcus Schmücker
Liebe Schachfreunde,
einen dümmeren und gehässigeren Kommentar, als den von Thomas Richter, habe ich auf anspruchsvollen Schachseiten noch nie über eine Schachpersönlichkeit gelesen! Wenn hier von der Arroganz von M.C. auf der Pressekonferenz geschrieben wird, dann Frage ich mich welche Arroganz besitzt eigentlich der Autor selbst. Nach einer Partie, die Engine-Bewertungen als Grundlage für die eigene überhebliche Bewertung zu nehmen, erscheint mir kein professioneller Journalismus. Oder möchte der Autor lediglich die neue Ratingzahl von M.C. mit 2860,8 dem Zufall bzw. ausschließlich der Nettigkeit der Gegner zu schreiben. Alleine in einem Bereich > 2.800 dauerhaft zu spielen kann schon kein Zufall sein, sondern verlangt einfach Respekt. Und genau dieser Respekt fehlt mir beim Autor in diesem Artikel.
R. Reiser