November 27, 2024

Rückblick auf das Kandidatenturnier

Bei diesem Artikel habe ich ein kleines Problem: In wieweit sollen Ergebnisse der ziemlich irrelevanten letzten Runde mit einfließen? Sie brachten mein zuvor erstelltes Konzept einschließlich Vergleiche mit früheren modernen Kandidatenturnieren etwas durcheinander. Fast alle Kandidatenturniere seit 2013 verliefen ähnlich: Zwei führten bei Halbzeit, einer gewann danach während der andere einbrach, ein dritter Spieler mit bei Halbzeit 50% oder gar weniger konnte doch noch in den Kampf um den Turniersieg eingreifen. Die Ausnahme war 2018: recht ungefährdeter Start-Ziel-Sieg für Caruana.

Nun schien es ähnlich, mit den gerade erwähnten Rollen für Nepomniachtchi, Vachier-Lagrave und Giri. Und dann kam es – da man die Ergebnisse der letzten Runde nicht ignorieren kann – etwas anders. Es bleibt beim Konzept „Spieler für Spieler“. Für Fotos von Lennart Ootes/FIDE habe ich mir nochmals das gesamte Flickr-Album angeschaut, für einige Spieler mehrere zu ihrem Turnierverlauf passende Fotos. Am Ende hatten fast alle 2020 und 2021 recht vergleichbare Ergebnisse, Ausnahmen nur die zwei Chinesen.

Aber erst ist Nepomniachtchi dran. Das Solo-Titelbild hat er bereits, nun ein Foto mit auch anderen:

Seinen Helfer Potkin erkennt man auch von hinten, Ding Liren hört zu und arbeitet an seinen Russischkenntnissen – den Kameramann und die andere Person im Hintergrund (er)kenne ich nicht.

Man kann Potkin schon auch noch von vorne und patriotisch zeigen. Nepomniachtchi hat auch verraten, wer ihm noch geholfen hat: Khairullin, Vitiugov und … Peter Leko. Den hat er vielleicht ausgewählt und eingeladen, weil er in der zweiten Turnierhälfte vor allem Remis spielen wollte. Das ist natürlich, wie vieles, ein Klischee, nicht nur weil Lekos langfristige Rolle Trainer von Vincent Keymer ist – und der braucht für einen weiteren Aufstieg Turniere mit deutlich mehr als 50%.

Ian Nepomnachtchi (4.5/7 2020, 4/7 2021)  – das war, abgesehen von der langen Pause bei Halbzeit, wie bei Anand 2014 und Karjakin 2016. Carlsen hatte 2013 seine 8,5 Punkte anders verteilt (5/7+3.5/7). Allerdings waren zwei seiner entschiedenen Partien in der zweiten Turnierhälfte ein bisschen Zufallsprodukte: Der Sieg gegen Wang Hao war nicht eingeplant (zu Wang Hao später mehr). Die Niederlage gegen Ding Liren zum Schluss war ihm wohl relativ egal, da er das Turnier ja bereits gewonnen hatte. Elo-Konsequenzen später im Bericht.

Ansonsten spielte er recht konsequent auf Remis – das konnte er sich leisten und in seiner Turniersituation war es legitim. Teils wiederhole ich mich nun: Schlüsselpartien des gesamten Turniers waren:

Giri-Nepo 0-1 in der allerersten Runde, damit hatte Nepo den besseren Tiebreak und Giri musste das Turnier alleine gewinnen, um sich für ein WM-Match zu qualifizieren.

Gegenüber MVL hatte Nepo allerdings den schlechteren Tiebreak, aber das relativierte sich durch Caruana-MVL 1-0 (Runde 8) und auch Grischuk-MVL 1-0 (Runde 11).

Und dann noch Wang Hao – Nepo 1/2 0-1 in Runde 12.

Insgesamt ein verdienter Turniersieg. Die Prüfung in der vorletzten Runde gegen MVL bestand er souverän, parallel bekam er erneut Schützenhilfe von Landsmann Grischuk.

Maxime Vachier-Lagrave (4.5/7 + 3.5/7) – das nach anfangs in der zweiten Hälfte 1/4. Zu diesem Zeitpunkt war er der potentielle Nachfolger von Aronian, Aronian und Aronian (2013 5/7 + 3/7, 2014 4.5/7 + 2/7, 2016 4.5/7 + 2.5/7). 2018 spielte Aronian dann konstanter (2.5/7 + 2/7), diesmal spielte er gar nicht. Das erste Foto des Franzosen nach der letzten Runde, er wirkt den Umständen entsprechend zufrieden und gewann zuletzt wieder an Selbstvertrauen. Weitere Fotos:

Während der letzten Partie gegen Wang Hao – noch einmal alle Kräfte mobilisieren!

Gegen Ende der ersten Partie anno 2021 gegen Caruana – natürlich hatte Weiß noch einen (auf dem Foto unsichtbaren) Turm. Später konnte MVL dieses Remisendspiel nicht Remis halten, schon zuvor hatte er etwas unnötig die Qualität geopfert. Der nächste Dämpfer dann – wie bereits erwähnt – gegen Grischuk. Nun brauchte er 3/3 aus den verbleibenden Runden und schaffte nur oder immerhin 2.5/3 – zwei Siege gegen die Kellerkinder Alekseenko und Wang Hao, dazwischen ein Remis (eher „Minus-Remis“) gegen Nepomniachtchi. Der Endspurt lag auch ein bisschen an den Gegnern, die er noch bekam. 

So kennt man den Franzosen in WM-Zyklen: knapp daneben ist vorbei. Ziemlich unwahrscheinlich, dass Nepomniachtchi nun auf ein WM-Match gegen Carlsen verzichtet, zugunsten von MVL.

Bei Anish Giri (3.5/7 + 4/7) zeige ich die Fotos mal in umgekehrter bzw. chronologisch richtiger Reihenfolge:

Das war nach dem Sieg in Runde 9 gegen Wang Hao, den er sich hart erarbeitet hatte – zu diesem Zeitpunkt war dieser Chinese noch kein Punktelieferant/Kanonenfutter.

Auch nach oder während Runde 12 (Schwarzsieg gegen Caruana) war seine Welt noch in Ordnung – betont durch fröhliche Farben auf dem Foto. Allerdings hatte er weiterhin Nachholbedarf.

Dann Tristesse nach der Niederlage in Runde 13 gegen Grischuk.

Runde 14 gegen Alekseenko aus der Rubrik „muss das auch noch sein?“. Da wollte er die Züge wiederholen – Alekseenko war nicht einverstanden und gewann dann mit Schwarz.

So wurde er doch nicht der Nachfolger von Kramnik 2013 (3.5/7 + 5/7) oder gar Karjakin 2014 (2.5/7 + 5/7), was nach 4/5 zu Beginn der zweiten Hälfte denkbar bis wahrscheinlich war. Rechnerisch war er der Nachfolger von Caruana 2016 (3.5/7 + 4/7), wobei Caruana damals in der letzten Runde noch Chancen auf den Turniersieg hatte. Nötig war ein Schwarzsieg in der letzten Runde gegen Karjakin, diese must-win Partie mit Schwarz hatte Giri in der vorletzten Runde – jeweils gewann der russische Weißspieler (2021 der bereits eliminierte Grischuk). Dass Remis in dieser Partie nebst Elo-konformer Weißsieg gegen Alekseenko auch gereicht hätte konnte Giri nicht wissen. Und in diesem Fall hätte Nepo vielleicht nicht abschließend gegen Ding Liren verloren.

Karjakin und Caruana konnten sich zwei Jahre nach Platz zwei im Kandidatenturnier doch für ein WM-Match qualifizieren. Ausschließen kann man das bei Giri nicht, auch wenn er am Ende Dritter wurde. Optimistisch betrachtet ist sein Kandidatenglas eher halb voll als halb leer. Laut von chess.com zitierten niederländischen Quellen (Giri-Sekundant Max Warmerdam und Jorden van Foreest) hatte er im Vorfeld vor allem daran gearbeitet, kritische Momente in Partien zu erkennen – das zeigte er bei seinen drei Siegen gegen China (Wang Hao und Ding Liren) sowie Italien und USA (Caruana). Wie man das trainieren kann ist aus meiner Sicht unklar, liegt das eher im psychologischen Bereich? Oft wird behauptet, dass er sich während der Pandemie stark verbessert hat, das würde ich relativieren: ein Sieg in einem Internet-Schnellturnier sowie ein Ergebnis in Wijk aan Zee, das er schon vor Corona mehrfach vergleichbar hatte.

Fabiano Caruana (3.5/7 + 4/7) 

Formal dasselbe Ergebnis wie er selbst 2016 und nun Giri. Dabei war er schon früher (nach der Niederlage in Runde 12 gegen Giri) de fakto aus dem Rennen um Platz eins ausgeschieden und zeigte schachlich weniger: trickreiche Eröffnungsvorbereitung gegen Vachier-Lagrave sowie der zu diesem Turnierzeitpunkt übliche Sieg gegen Wang Hao, das war es quasi.

Auch ihn zeige ich noch am Brett.

Ding Liren (2.5/7 + 4.5/7)

Er war am Ende gar „Turniersieger“ der zweiten Hälfte, dank abschließend 3/3 – Sieg gegen Alekseenko allerdings nach inkorrektem Opfer und daher eigentlich Verluststellung. So behielt er am Ende Platz drei in der Weltrangliste, zwischenzeitlich belegte er live Platz fünf hinter Nepomniachtchi und Giri. Auch 2800 ist wieder in Reichweite, eher als für Nepomniachtchi.

Sein mäßiges Ergebnis 2020 erklärte er nun mit doppelter Quarantäne – erst in China, dann vor dem Turnier in Russland (eine Datscha südlich von Moskau war da vielleicht besser als zuvor seine Wohnung in Peking). Das kann man als Erklärung akzeptieren, oder als Ausrede bezeichnen. Auch vor Corona hatten (Mit-)Favoriten mitunter enttäuschende Ergebnisse in Kandidatenturnieren. Und nun hatten er und Wang Hao im Vorfeld vielleicht bessere Corona-Bedingungen als die sechs anderen Kandidaten.

Alexander Grischuk (3.5/7 + 3.5/7)

 

Die „besten“ Fotos von ihm generell zwischen den Partien, aber auch ihn zeige ich noch am Brett:

Er war der konstanteste Spieler, dabei gegenüber früheren Kandidatenturnieren leicht verbessert – zuvor zweimal 6.5/14. „Konstant“ ist aber relativ, da er durchaus zwei unterschiedliche Turnierhälften hatte: 2020 sieben Remisen, 2021 nur drei Remisen. Einen kräftigen Dämpfer bekam er gleich zu Beginn ausgerechnet vom Landsmann und Elo-Außenseiter Alekseenko, so konnte er nur noch indirekt in den Kampf um den Turniersieg eingreifen – Siege gegen MVL und Giri.

Insgesamt: Natürlich ist er Weltklassespieler und während sowie nach Partien eine Bereicherung für jedes Turnier. (Vize-)Weltmeister wird er dabei wohl nie, bzw. nur in den von ihm ohnehin bevorzugten schnelleren Bedenkzeiten.

Kirill Alekseenko (2.5/7 + 3/7)

Der Höhepunkt seines Turniers wohl der Sieg gegen Grischuk zu Beginn der zweiten Hälfte, wie man den abschließenden Sieg gegen Giri bewertet ist mir unklar. Warum hat er auch fünfmal verloren? Dreimal lag es bereits an der Eröffnung (erste Hälfte gegen Caruana, zweite Hälfte gegen Nepo und MVL). Einmal vergeigte er in der ersten Hälfte ein Remisendspiel gegen Giri, in der vorletzten Runde verlor er eine Gewinnstellung gegen Ding Liren.

Zu misslungenen Eröffnungen: im Fussball würde man da den Trainer (Sekundanten) feuern, auch während der Saison. Das ist im Schach eher keine Option. Giri lobte Alekseenko abschließend, da er sich im Katalanen innerhalb weniger Tage stark verbessert habe. Das ist relativ: Giri spielte die Hauptvariante, Nepo zuvor eine trickreiche Zugfolge mit erst spät d2-d4. Im Caro-Kann war Alekseenko womöglich auf Hauptvarianten (3.Sc3 oder 3.e5) gut vorbereitet, aber nicht auf das fantasiereiche 3.f3!? von Vachier-Lagrave. 4.f3!? von Caruana im Nimzo-Inder ist etablierter als 3.f3 gegen Caro-Kann, aber auch nicht die einzige weiße Option. In Corona-Zeiten kann man vielleicht sagen: Alekseenko (und sein Sekundant Svidler) hatte(n) Probleme mit Eröffnungs-Mutationen.

Alekseenko hat (wieder) Elo 2700 knapp verpasst, live-aktuell hat er 2699.3 und daraus wird in wenigen Tagen (1. Mai) 2699. Ist er damit klar schlechter als Esipenko und van Foreest, beide 2701? Nur wenn man symbolische Limits hoch bewertet. Wird er weitere Fortschritte machen? Das ist jedenfalls möglich. Wird er sich nochmals für ein Kandidatenturnier qualifizieren? Eher unwahrscheinlich – aber wenn man es bei Esipenko (*2002) oder van Foreest (*1999) nicht ausschließt, kann man es auch bei ihm (*1997) nicht ausschließen, auch er ist noch relativ jung.

Wang Hao (3.5/7 + 1.5/7)

Der Absteiger der zweiten Turnierhälfte bzw. vor allem des letzten Viertels, zuletzt 0/3. Trotzdem wirkt er im Interview danach relativ gelöst … und verkündete eine drastische Entscheidung: das Ende seiner Karriere als Schachprofi aus gesundheitlichen Gründen. Diese Antwort auf die eher „unschuldige“ Frage „wie geht es für sie weiter?“ kam unerwartet. Nun nannte er anhaltende Verdauungsprobleme, die seit 2019 schlimmer wurden. Zuvor wurden mal Probleme mit dem Herz erwähnt – damals war mir aber nicht klar, ob das eher vorgeschoben war und er in Wirklichkeit bei chinesischen Autoritäten in Ungnade fiel.

Schon nach dem dramatischen Remis in Runde 10 gegen Grischuk wollte er eigentlich aufhören – diese Partie hatte ich im Bericht nicht erwähnt, da letztendlich Remis und eher turnier-irrelevant. Dann hätte er die letzten vier Partien kampflos verloren – so danach ein Remis gegen Alekseenko und drei relativ kampflose Niederlagen am Brett. 

Wie es für Wang Hao weitergeht, muss er selbst entscheiden – eine Rolle als Schachtrainer hat er nicht ausgeschlossen, aber der Stress von Turnierpartien wurde ihm zuviel.

Wie es sonst weitergeht? Das WM-Match Carlsen-Nepomniachtchi wird wohl stattfinden – im November in Dubai, wohl auch während oder nach einer vierten, fünften oder sechsten Corona-Welle verursacht durch die siebte, zwölfte oder siebenundzwanzig-ste Mutation des Virus. Wie der nächste WM-Zyklus stattfindet ist noch etwas im Fluss: Weltcup und Grand Swiss wurde erwähnt, und auch ein Freiplatz für Radjabov im nächsten Kandidatenturnier. Grand Prix Serie wurde meines Wissens nicht erwähnt. Was sonst stattfinden wird und wie es demnach für diese acht Spieler (und viele andere) weitergeht bzw. endlich wieder losgeht ist auch unklar – relativ wenige können regelmäßig oder zumindest ab und zu hochkarätige Turniere im Internet spielen.