So kennt der Leser mich vielleicht nicht: ein Bericht nicht vor einem Ruhetag. Aber die allerwichtigste bis einzig wichtige Entscheidung im Kandidatenturnier ist heute bereits gefallen: im WM-Match stehen zwei Spieler, die vorher bzw. währenddessen ihren 31. Geburtstag feiern. Diese Beschreibung (Teil eins) trifft auch auf Vachier-Lagrave zu, aber der hätte sich frühestens morgen qualifizieren können. Nun muss er sich erst für das nächste Kandidatenturnier qualifizieren, und dann durchgehend etwa so spielen wie diesmal nur 2020.
Noch etwas haben sie gemeinsam: den langen Nachnamen. Da wäre eventuell der Bindestrich Tiebreaker zugunsten des Franzosen, und auch schachlich hat er den besseren Tiebreaker – aber das ist bei anderthalb Punkten Rückstand eine Runde vor dem offiziellen Turnierende irrelevant. Das Titelfoto zeigt beide, da MVL an der heutigen Entscheidung beteiligt war. Alle Fotos wieder von Lennart Ootes/FIDE, Quelle Flickr.
Auch ein Spieler mit recht kurzem Nachnamen konnte sich zuvor noch für ein WM-Match qualifizieren, das wäre allerdings – anders als ich zunächst dachte – kein Rekord: einige Jahrzehnte vor Anish Giri gab es bereits Max Euwe, ebenfalls aus den Niederlanden. Zurück zu langen Namen: Rameshbabu Praggnanandhaa kann nun nicht mehr Schachgeschichte schreiben, es sei denn man kombiniert Vor- und Nachname.
Situation vor der dreizehnten Runde war, dass zwei Spieler mit Schwarz unbedingt gewinnen mussten. Fast konnte man den Eindruck bekommen, dass sich die Freunde Maxime Vachier-Lagrave und Anish Giri gemeinsam vorbereitet hatten, denn sie spielten ähnliche Eröffnungen, jeweils mit -b6 und -Sa6. Unterschiede gab es früh und auch später in den Partien: Nur MVL fianchettierte beide Läufer (ein bisschen Grünfeld musste doch sein). Außerdem stand der französische Springer nach 19 Zügen immer noch bzw. wieder auf a6, der niederländische dagegen nun besser auf e6. Trotzdem bekam dann MVL einen halben Punkt, und Giri null Punkte – jeweils zu wenig.
Beginnen wir mit der Partie, in der auch deutlich wurde, warum Nepomniachtchi als einer von wenigen den überdimensionalen grünen Sessel verwendet. Eine Frage wurde nicht beantwortet: was macht MVL gegen 1.e4 ? Nepo begann mit 1.Sf3!?, schon zögerte MVL etwas und wählte dann das bereits erwähnte Doppelfianchetto. Komplett Eigenbau war es nicht, es gab durchaus Vorgänger – auch ein paar auf Niveau 2700+.
Zunächst schien der volle Punkt für Nepo möglich bis wahrscheinlich, vor allem nach 19.-Sa6 (zuvor hatte der Gaul das Feld c5 besucht) – unter anderen Umständen wäre das vielleicht auch passiert. Aber Nepo wollte vielleicht gar nicht gewinnen, und so war die französische Welt später wieder einigermaßen in Ordnung. Mit Bauernopfer landete der Springer wieder auf c5, der andere stand auf d6 zwar ungewöhnlich aber nicht schlecht. „Einigermaßen“ bezieht sich darauf, dass Schwarz ja gewinnen musste, und das war weiterhin unwahrscheinlich. Mit 28.-Tab8 nebst Abtausch aller Schwerfiguren hat MVL wohl sein Remis-Schicksal bereits akzeptiert, auch wenn danach noch ein paar Züge gespielt wurden.
Derlei Fotos von Anish Giri gibt es vielleicht auch zukünftig, bei Alekseenko war ich mir da nicht so sicher.
Einen Gegner hatte er natürlich auch, und hier war die Stellung zunächst etwa so ausgeglichen wie die Denkerhaltungen auf diesem Foto. Aber dann spielte Giri energischer auf Gewinn als MVL – die Idee war gut, die Umsetzung schlecht. Er landete in einem total verlorenen Endspiel, das er noch relativ lange weiterspielte bevor er Grischuk gratulierte.
Hinterher stand er auch Rede und Antwort. Rückblick auf die komplette zweite Hälfte und „Einzelkritik“ kommt erst nach dem offiziellen Turnierende, aber relativ viele Giri-Fotos in diesem Beitrag will ich bereits erklären: Eigentlich und trotzdem war er der Held der zweiten Turnierhälfte, während Nepomniachtchi sich vor allem auf den Lorbeeren der ersten Hälfte ausruhte – ist natürlich legitim. Drei Momente haben vielleicht das gesamte Turnier entschieden: 1) Giri-Nepomnaichtchi 0-1 aus der allerersten Runde anno 2020 verursachte Nepos Tiebreak-Polster gegenüber Giri. 2) Caruana-MVL 1-0 aus der ersten Runde anno 2021 warf den Franzosen zurück, ab hier führte Nepo alleine. 3) Wang Hao – Nepo 0-1 in Runde 12. Da wollte Nepo jedenfalls anfangs nur Remis, aber der Chinese wollte verlieren und schaffte das.
Was Helden betrifft: Wenn MVL das Ding doch noch gewinnen würde (bzw. gewonnen hätte), würde Peter Doggers dann wieder schreiben „A Hollywood blockbuster couldn’t have had a more dramatic scenario with the hero of the story going down just before the end, only to emerge as the winner after all.“ ? Das war 2013 und bezog sich auf Carlsens Tiebreak-glücklichen Sieg im Londoner Kandidatenturnier. Mir war damals nicht klar, warum eigentlich Carlsen der Held und Kramnik demnach der Schurke war, acht Jahre später kapiere ich es immer noch nicht. Eine Gemeinsamkeit gab es: auch Carlsen profitierte davon, dass Radjabov in der entscheidenden Turnierphase gegen ihn ein Remisendspiel vergeigte – in diesem Sinne ersetzte Wang Hao den diesmal fehlenden Radjabov.
War da noch was zur heutigen Runde? Nun ja, im Osten im Vergleich zur zwölften Runde nichts Neues – Wang Hao verlor wieder, Ding Liren gewann wieder.
Wieder verlor Wang Hao in ausgeglichener Stellung total den Faden und so die Partie, Caruana profitierte. Turnierrelevant war das dann nicht mehr. Zuvor hatte Caruana in einem ohnehin sehr unwahrscheinlichen Szenario eventuell noch Chancen auf ein weiteres WM-Match – je nachdem, wie Tiebreak-Regeln bei drei (oder mehr) Spielern auf dem geteilten ersten Platz genau ausgelegt werden. Da das nun nicht mehr eintreten kann, muss ich das hier auch nicht erläutern und vertiefen.
Alekseenko – Ding Liren 1-0 0-1 wurde offenbar, da sicher nicht mehr turnierrelevant, gar nicht fotografiert. Der Russe machte aus einem inkorrekten gegnerischen Figurenopfer ein korrektes – das Ganze kurz nach der Zeitkontrolle mit beiderseits reichlich Bedenkzeit. Er wollte vielleicht nicht immer nur direkt aus der Eröffnung heraus verlieren – bzw. in der ersten Turnierhälfte hatte er gegen Giri ein Remisendspiel vergeigt (aber das war zu diesem Zeitpunkt eher nicht turnierrelevant).
So verpasste Alekseenko den Wiederaufstieg in den Club 2700+. Morgen geht es dann nur noch um Elopunkte, Positionen in der Weltrangliste und ein bisschen Preisgeld. Wer sich dafür noch motivieren kann, wird sich zeigen. Kurzremisen geht im Prinzip nicht – Remisverbot vor dem 40. Zug. Aber vielleicht bekommen wir doch noch das, was bisher komplett fehlte: Berliner Remisvarianten.
Abschließend noch etwas, das auf Flickr noch nicht vorhanden war während ich die ersten Zeilen tippte: Siegerinterview von Nepomniachtchi.
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