Davon kann man wohl nun ausgehen, schließlich sind einige Spieler bereits vor Ort in Jekaterinburg. Ab Montag werden dann Figuren bewogen und Uhren gedrückt, von acht Spielern – es sei denn, jemand wird noch positiv getestet, dann muss er wohl sofort wieder verschwinden.
Dieser Beitrag ein bisschen durcheinander: Rückblick auf die erste Hälfte im März 2020 (und etwas auch auf Kandidatenturniere zuvor seit 2013) und Ausblick auf die zweite Hälfte. Als Titelfoto die „bisher“ entscheidende Partie Vachier-Lagrave – Nepomniachtchi 1-0 aus der letzten Runde der ersten Hälfte. Damit hatte der Franzose den Russen (beide Spielernamen werde ich im weiteren Bericht auch mal abkürzen) nach Punkten eingeholt mit besserem Tiebreak direkter Vergleich. Wenn man beschlossen hätte, dass die zweite Hälfte gar nicht stattfindet, wäre MVL für ein WM-Match gegen Carlsen qualifiziert (falls dieses dann stattfindet).
Das ist der Stand bei Halbzeit und auch noch, kalendarisch gesehen, nach über 365 von insgesamt knapp 400 Tagen: Vachier-Lagrave und Nepomniachtchi 4.5/7 (Vorteil MVL), Caruana, Giri, Wang Hao, Grischuk 3.5, Ding Liren und Alekseenko 2.5. Fotos von Maria Emelianova und Lennart Ootes auf Flickr (Album FIDE Candidates 2020), die Turnierseite ist hiermit auch verlinkt. Zuerst noch ein Paar Bilder und Worte zur ersten Hälfte:
Was machten die vor dem Turnier gemeinsam als relativ klare Favoriten bezeichneten Caruana und Ding Liren?
Der Chinese gewann das direkte Duell in Runde 3 – weniger als 50% hat er, da dies sein einziges Erfolgserlebnis war. Mit Weiß insgesamt schon 50%, dank
Niederlage gleich zu Beginn gegen Landsmann Wang Hao. Mit Schwarz weniger als 50% – tags darauf verlor er gegen MVL und in Runde 6 gegen Nepo. Man konnte lesen, dass dieses Abschneiden „sicher“ von der Pandemie verursacht wurde. Es stimmt schon, dass er damals mehr als andere quarantänisiert wurde: zuerst in einem Apartment in Peking, dann vergleichsweise komfortabel in einer Datscha südlich von Moskau.
Aber auch „vor Corona“ hatten Mitfavoriten in Kandidatenturnieren mitunter enttäuschende Ergebnisse. Das galt 2013 für Radjabov – der Anfang vom vorläufigen Ende für ihn, später musste er sich gar vorübergehend aus dem Club 2700+ verabschieden. Dann kam er zurück und konnte nun wieder im Kandidatenturnier mitspielen, wollte aber nicht. So ist Grischuk der einzige, der schon 2013 dabei war. Was die sechs anderen betrifft: Carlsen verzichtet seither auf Kandidatenturniere, Qualifikation durch Niederlage in WM-Matches war durchaus möglich (jedenfalls die letzten beiden gegen Karjakin und Caruana). Kramnik verzichtet inzwischen auf Schach am Brett mit klassischer Bedenkzeit. Svidler und Aronian konnten sich diesmal nicht qualifizieren (Svidler ist wohl – Rollentausch im Vergleich zu früheren Turnieren – als Sekundant von Alekseenko vor Ort). Gelfand und Ivanchuk konnten sich auch nicht qualifizieren – sie haben ja inzwischen die engere Weltklasse verlassen.
2014 wurde niemand abgeschlagen Letzter, 2016 erwischte es Topalov (für mich damals aber keine Überraschung). 2018 dachte Aronian dann vielleicht „wenn ich sowieso in der zweiten Hälfte einbreche, kann ich auch von Anfang an schlecht spielen“.
Generell noch kurz zur ersten Hälfte des aktuellen Turniers: Das vor Corona geplante Timing war eben unglücklich: ein Monat früher, und das Turnier hätte wohl komplett stattgefunden (für Ding Liren und Wang Hao hätte man auch da eine Lösung gefunden). Ein Monat später, und es hätte nicht stattgefunden.
Da es stattgefunden hat, zurück zu Caruana: Warum erzielte er doch 50%?
Weil er Alekseenkos Aufgabe in Runde 2 zwar nicht akzeptierte, aber trotzdem einen vollen Punkt in der Tabelle bekam.
Das machten Nepo und Alekseenko vor ihrer Partie – Plexiglas-Trennscheiben, die damit nicht einverstanden wären, gab es ja nicht. Ähnlich auch Nepo und Grischuk vor der Runde, nach den Partien dann jeweils doch ein Händedruck. So machten wir – mein Gegner und ich – es in der Münchner Bezirksliga im Frühjahr teils auch: vor der Partie weder Händedruck noch Ellenbogencheck, danach streckte er seine Hand aus und ich akzeptierte. So kennt oder kannte man es eben – in der „Nachsaison“ im Herbst war es nicht mehr der Fall, und nun dürfen wir gar nicht spielen, wir sind ja keine Profis.
Noch ein paar Fotoimpressionen von vor gut einem Jahr:
Turniersaal mit Stühlen auch für Zuschauer, aber ohne Zuschauer. Nun sind offenbar wieder Zuschauer erlaubt, Voraussetzung negativer Corona-Test oder Impfung. Nepomniachtchi, der schon seine Sputnik-Dosen bekam, darf dann wohl auch mal im Zuschauerraum Platz nehmen.
Masken waren damals nur was für Chinesinnen.
Damals Winter in Jekaterinburg, nun offenbar nicht – der Unterschied zwischen Mitte März und Mitte April.
Das allererste von 1017 Fotos im Flickr-Album: MVL „hurra, ich darf mitspielen!“. Seine gute Laune behielt er dann wohl. Und nun vage Prognosen für den weiteren Turnierverlauf:
Kandidatenhistorisch gewann seit 2013 ein bei Halbzeit führender Spieler am Ende immer. Wenn allerdings zwei führten, brach einer in der zweiten Turnierhälfte ein. Das „können“ wohl beide die derzeit führen – beide instabil-unberechenbar, und MVL scheiterte in WM-Zyklen öfters an der zu diesem Zeitpunkt letzten Hürde. Aus zwei Gründen muss sich derlei aber nicht wiederholen: soooo viele Ruhetage zwischen erster und zweiter Hälfte gab es noch nie, und vielleicht sollte man den Namen des Spielers erwähnen, der in der zweiten Hälfte zurückfiel: 2013 Levon Aronian, 2014 Levon Aronian, 2016 Levon Aronian. 2018 spielte Aronian dann recht konstant (2.5/7 und 2/7), und diesmal spielt er gar nicht.
Das Feld ist quasi zweigeteilt: vier haben zwischenzeitlich Figuren angefasst und bewegt, und vier nicht. Dass die vier oben zuerst genannten (MVL, Nepo, Caruana, Giri) Figuren bewegten ist wohl Zufall: Wang Hao und Grischuk haben auch 3.5/7 bei schlechterer Wertung, außerdem hat wohl März 2020 weder April 2020 bis März 2021 beeinflusst noch umgekehrt. Ob die vier anderen auch mal Figuren angefasst haben – private Trainingspartien oder altmodische Analyse mit Brett und Figuren statt am Computer – dazu kann ich nicht recherchieren.
Im Internet spielten alle, Caruana relativ wenig. Bei Wang Hao und Alekseenko musste ich recherchieren: Wang Hao im Mai 2020 beim Online Nations Cup sowie im Dezember 2020 beim Hainan Danzhou GM-Turnier – also nicht viel aber ziemlich starke Gegner. Bei Alekseenko dagegen – nicht gut genug für die russische Nationalmannschaft – eher Quantität als Qualität: ziemlich oft „Titled Tuesday“ auf chess.com. Da traf er auf z.B. Rinat Jumabayev oder Dmitrij Kollars oder Ruben Gideon Koellner, immerhin auch Niederlage gegen Nepomniachtchi sowie Niederlage und Sieg gegen Mamedyarov. Bei Ding Liren ist nun klar, dass er kein Nachtmensch ist: zwischen Mitternacht und 5 Uhr morgens zeigt er eher nicht sein bestes Schach, unzuverlässiges chinesisches Internet war mitunter auch ein Problem.
Hmm, das waren noch keine Prognosen, und auch nun keine. Grischuk erwähnte, dass schon nach der ersten (insgesamt achten) Runde eine ziemlich neue Turniersituation denkbar ist, vielleicht sechs Spieler mit dann 4.5/8 und zwei mit weiterhin 2.5 Punkten. Oder auch zwei mit 5.5/8 und sechs mit 3.5/8. Das sind die Paarungen, Ergebnisse und Namen kann der Leser selbst hinzufügen:
Caruana (3.5) – Vachier-Lagrave (4.5)
Wang Hao (3.5) – Ding Liren (2.5)
Nepomniachtchi (4.5) – Giri (3.5)
Alekseenko (2.5) – Grischuk (3.5)
Danach hat MVL dann Schwarz gegen Ding Liren, im aus seiner Sicht schlimmsten Fall hat er danach 50%. Eine Hürde hat er, wie er auf seiner Homepage erwähnt, bereits genommen: Ausreiseerlaubnis mit Sondergenehmigung des französischen Sportministeriums war offenbar nicht trivial, aber das schaffte er bzw. schafften sie (mitgeholfen haben sein Manager und der Präsident des französischen Schachverbands). Auch die Chinesen Ding Liren und Wang Hao bekommen offenbar eine Sondererlaubnis und dürfen sich den Gefahren einer Pandemie im Ausland aussetzen. Ob Giri Reiseprobleme hatte weiß ich nicht: auf Twitter erwähnte er, dass er jedenfalls das Gate für seinen Flug nach Moskau fand – E4.
Wenn die Partien zu spannend werden hat chess24 eine Schlaftablette: Livekommentar von Magnus Carlsen – Tania Sachdev muss das Publikum vielleicht ab und zu wieder aufwecken. So ist es jedenfalls für die ersten vier der noch zu spielenden Runden, ab Samstag spielt er selbst wieder im Internet. Seine Turnierserie pausierte für Tata Steel Chess, da Carlsen bei seiner Serie nicht fehlen darf. Terminüberschneidung mit dem Kandidatenturnier ist dagegen akzeptabel. Zum „New in Chess Classic“ (neuester Ankauf der Carlsen-Firmengruppe) und seinem etwas improvisierten Teinehmerfeld später vielleicht ein eigener Vorbericht.
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