November 28, 2024

Vorrunde des Magnus Carlsen Invitational

Mittlerweile gehen ihnen offenbar die Namen für Turniere aus, deshalb heisst das laufende Turnier so wie das allererste der ersten Serie. Eines war wie immer oder jedenfalls meistens (es gab auch Turniere mit 12 Teilnehmern): nach dem Rundenturnier wird das Teilnehmerfeld halbiert, deshalb ist im Titelbild die rechte Hälfte eingegraut. Eigentlich kann man das dreiteilen: erst acht bekannte Namen, die das Etappenziel geschafft haben (einer schaffte es im vierten Versuch zum ersten Mal), dann vier bekannte Namen die es nicht geschafft haben, dann vier vergleichsweise unbekannte Namen, die ohnehin Außenseiter waren (auch wenn einer dieses Jahr ein Superturnier gewonnen hat). 

Auf alle Schnellpartien kann ich nicht eingehen, nur jeweils ein paar Worte, Sätze oder Zeilen zu den sechzehn Spielern – da wird auch das immergrüne und derzeit in Deutschland und weltweit wieder aktuelle Thema Verbandswechsel mitunter auftauchen.

Magnus Carlsen hat die Vorrunde gewonnen. Das schaffte er bisher immer und irgendwie, diesmal trotz einer Niederlage gegen seinen alten Bekannten Anish Giri. In der KO-Runde lief es in der zweiten Serie dann nie nach Wunsch, diesmal kommt sie noch. Ungeschlagen blieb diesmal am Ende nur der bekannte Opportunist Nakamura. 

Anish Giri gilt als Remisspieler – mag mitunter stimmen, wobei man ihm keine Absicht unterstellen kann. Diesmal war es phasenweise der Fall, vor allem zu Beginn und am letzten Tag. Fünf Siege tagesübergreifend in Runde 3-7, nicht nur gegen spanisch sprechende Kellerkinder (Pichot und Anton) sondern auch gegen einen Norweger und eineinhalb importierte Amerikaner (bei Aronian ja noch ein laufendes Verfahren). Nach derzeitigem Stand waren es insgesamt 2.5/3 gegen den Kaukasus – zuvor gleich zu Beginn Remis gegen Radjabov, später Sieg gegen Mamedyarov. Auch bei ihm gehe ich nicht auf einzelne Partien ein, da die Qualifikation nie gefährdet schien.

Einmal gab es für ihn Erinnerungen an Wijk aan Zee 2021 (gemeint ist nicht das Remis gegen Jorden van Foreest). Erinnerungen an ein früheres Turnier dieser Internet-Serie – Skilling Open – dagegen höchstens am fernen Horizont: auch da am ersten Tag 4/5, aber am zweiten Tag fünf Remisen – 6.5/10 war immer noch die alleinige Führung im Turnier. Dann am dritten Tag 1.5/5, und das war der geteilte sechste Platz – dabei war er unter den drei von fünf tiebreak-glücklichen, die die KO-Runde erreichten. Diesmal am letzten Tag nur eine Niederlage gegen Nepomniachtchi, der diesen vollen Punkt dringend brauchte, und vier Remisen.

Wesley So gilt zu Recht als Remisspieler, diesmal konnte er das aber erst am letzten Tag zelebrieren. Am ersten Tag 50% auf für ihn ungewöhnliche Art und Weise: zweimal patzte er mit Weiß (das ist ungewöhnlich), zweimal profitierte er mit Schwarz von gegnerischen Fehlern (das ist nicht ungewöhnlich), sowie ein Remis gegen Teimour Remisabov (auch normal). Die für ihn guten Nachrichten: Karjakin opferte inkorrekt, der im Turnier generell überforderte Pichot ließ sich recht widerstandslos abschlachten. 

Am zweiten Tag dann 4/5 für So. Dabei beging Aronian im 13. Zug schachlichen Selbstmord, und Dubov kam Kompensation für geopfertes Material abhanden – eher reaktives Schach von Wesley So, aber mit Schwarz ist das durchaus in Ordnung. Und danach konnte er endlich das machen, was er am liebsten macht: Remis spielen.

Hikaru Nakamura konnte das ziemlich konsequent durchziehen. Gewonnen hat er gegen Grandelius – der es schaffte, in der Schlafwagen-Variante 5.Te1 gegen die Berliner Mauer mit Weiß zu verlieren – gegen Pichot (das schafften viele) und dann noch gegen Aronian. Regelmäßig protestierte er ansonsten zusammen mit diversen Gegnern gegen nur 15 Minuten Bedenkzeit (plus 10 Sekunden Inkrement). Die Lösung: ein paar Züge herunter blitzen und sich dann mit beiderseits über 17 Minuten auf Remis einigen – bzw. das passiert im Internet bei Zugwiederholung automatisch. Nur einmal war seine Qualifikation gefährdet: für die „Partie“ 1.e4 e5 2.Ke2 Ke7 3.Ke1 Ke8 4.Ke2 Ke7 5.Ke1 Ke8 6.Ke2 Ke7 hätte man die Spieler auch disqualifizieren können – „bringing the game into disrepute“. Aber das macht man dann doch nicht, jedenfalls nicht bei Carlsen und Nakamura. 

Nun kommen Spieler, deren Qualifikation länger gefährdet war:

Ian Nepomniachtchi machte, im Vergleich zu Skilling Open, den anti-Giri: 1.5/5 am ersten Tag, 3/5 am zweiten und 4/5 am dritten Tag. Zum Teil lag es vielleicht daran, dass er sich „minderwertige“ Eröffnungen abgewöhnte: Pirc funktionierte am ersten Tag nur gegen Wesley So, aber nicht gegen Dubov und van Foreest. Mit Königsgambit erlitt er gegen Aronian Schiffbruch, wobei er da aus der Eröffnung heraus jedenfalls nicht schlechter stand. 1.b3!? mit Weiß und Sizilianisch mit Schwarz funktionierte danach besser. Im (laut Titelbild) violetten Bereich war er erst nach Sieg in der letzten Runde gegen Pichot. Was er im Kandidatenturnier spielt wird sich herausstellen. 

Zu Alireza Firouzja schreibt FIDE „Der 17-jährige Heißsporn Alireza Firouzja zog ebenfalls mit Leichtigkeit ins Viertelfinale ein. Firouzja, der sich im Vergleich zu den Skilling Open deutlich verbessert hat, war nie in Gefahr und muss als eine Bedrohung angesehen werden.“ Sie müssen ihren Landsmann eben loben, solange das noch der Fall ist – nach neueren Gerüchten wird er wohl demnächst Schach-Franzose, vielleicht noch bevor Aronian Amerikaner wird. Ohnehin muss man Firouzja loben, wobei „Heißsporn“ vielleicht doch kein Kompliment ist – aber im Internet kann er sein Temperament kaum zeigen. Deutliche Verbesserung im Vergleich zu Skilling Open war ein halber Punkt mehr in fünfzehn Runden.

Aus meiner Sicht: diesmal hatte er genug Firouzja-Dusel, um sich im vierten Anlauf für die KO-Runde zu qualifizieren, jedenfalls – etwa gleichmäßig über das Turnier verteilt – in Runde 2, 6 und 11. Zunächst stand er gegen Giri über weite Strecken der Partie schlecht bis hoffnungslos, bevor Giri auf einen taktischen Trick hereinfiel. Danach schien es gar, als ob die Partie vielleicht komplett kippen würde, aber das wäre des Absurden zu viel gewesen, also dann Remis. Das gab es ähnlich in Wijk aan Zee, damals hätte ein logisches Ergebnis der Partie mit klassischer Bedenkzeit das ganze Theater um Ort und Zeitpunkt des späteren Stichkampfs Giri – van Foreest vermutlich verhindert.

Dann Runde 6 gegen Mamedyarov. Remis schien unvermeidlich, auch wenn der Azeri noch ein Turmendspiel mit drei gegen vier Bauern am Königsflügel verteidigen müsste. Stattdessen wählte er den Übergang ins Bauernendspiel. Ich weiß nicht, ob Mamedyarov Deutsch kann, das was nun kommt funktioniert wohl nur auf Deutsch – mit seinem Kumpel Naiditsch, dessen Verbandswechsel er mit eingefädelt hatte, redet er wohl Russisch. Jedenfalls hatte er „entfernter Freibauer“ falsch verstanden – Firouzja konnte diesen a-Bauern einfach vom Brett entfernen (39.-Kxa4), und dieses Bauernendspiel mit Mehrbauer war für Schwarz trivial gewonnen. 

Dann war da noch Runde 11 gegen So, der liebend gerne Remis spielt. Das machte er also auch in Gewinnstellung gegen Firouzja: 31./33.-Dg4, was den Weg der weissen Dame zum Königsflügel blockiert, war eigentlich nicht allzu kompliziert – und dann wäre das extra schwarze Material (Qualität und drei Bauern) partieentscheidend. Stattdessen, wie bereits angedeutet, Zugwiederholung.

Das waren insgesamt 1 1/2 Punkte über den Durst. Neben dem plötzlich-glücklichen Sieg gegen Mamedyarov gewann er noch gegen Radjabov, dessen Königsinder gar nicht funktionierte, sowie gegen die Kellerkinder Grandelius und Pichot. Niederlagen setzte es gegen Karjakin und Anton Guijarro.

Maxime Vachier-Lagrave: Schon sein Name hat Überlänge und wird daher oft abgekürzt, und auch zu seinem Turnier könnte man Romane schreiben. Dass er relativ wenige entschiedene Partien hatte (+4=9-2) war sicher keine Absicht. Dabei belasse ich es aber mal, wobei ich ihn unten nochmals erwähnen werde.

Levon Aronian hatte drei unterschiedliche Tage. Nach dem ersten Tag (3.5/5 trotz Auftaktniederlage gegen Mamedyarov aus jedenfalls klar besserer Stellung heraus) sagte er, dass er – nach definitiver Richtungsentscheidung in die USA – von einer Last befreit sei. Stolz war er vor allem auf seinen Sieg gegen Karjakin, der war schön (Qualitätsopfer auf lange Sicht für Läuferpaar) und am Ende sehr wichtig. 

Am zweiten Tag dann 1.5/5, und das war dreimal so viel wie eigentlich verdient: im Damenendspiel mit zwei verbundenen freien Mehrbauern fand Jorden van Foreest ein Selbstmatt. Am dritten Tag dann noch ein Sieg gegen Anton Guijarro, und so reichte es gerade: punktgleich mit Karjakin und besserer Tiebreak (direktes Resultat).

Mit Sergey Karjakin beginnt, trotz auch bei ihm über 50%, die untere Tabellenhälfte. Auch er hatte ein wechselhaftes Turnier, nach Tag 1 mit 1.5/5 schien schon nicht alles aber doch einiges vorbei, und danach punktete er ab und zu. Am dritten Tag erzielte er gegen seine Freunde aus Aserbaidschan 50%, aber nicht mit zwei Remisen. Gegen Mamedyarov hatte er aus komplizierter, dabei laut Engines für ihn vorteilhafter Stellung heraus das Nachsehen. In der allerletzten Runde besiegte er Radjabov. Klar war vorher, dass Remis keinem helfen würde, nicht klar ob die Spieler wussten, dass nach Aronians Remis in der letzten Runde auch der Sieger ausscheiden würde: auch Radjabov hätte gegenüber Aronian den schlechteren Tiebrek, in dem Fall (Remis im direkten Duell) Anzahl Siege bzw. Anzahl Niederlagen im Turnier.

Zu Daniil Dubov diesmal nur: er ist ausgeschieden – bei anderen Turnieren zuvor war er ja mehr und positiver aufgefallen.

Teimour Radjabov ist wieder einer, der bevorzugt ab und zu mal gewinnt und jedenfalls selten bis nie verliert. Letzteres klappte diesmal nicht, u.a. ein recht simpler Figureneinsteller gegen MVL. Der bereits erwähnte misslungene Königsinder gegen Firouzja direkt danach vielleicht auch aus der Rubrik „nun hatte er Nachholbedarf“, und die Partie zum Schluss gegen Karjakin war dann schon turnier-irrelevant. Gewonnen hat er nur, jeweils mit Schwarz, gegen Dubov und Anton. Gegen Dubov profitierte er von einem Dummbov-Moment: 14.Sxc5? (14.dxc5, nur so) war quasi bereits der Verlustzug. Und auch David Anton stand schon aus der Eröffnung heraus klar schlechter. 

Nach seinem Sieg bei einem Internet-Turnier zuvor wurde Radjabov ausgiebig gelobt, nun wird das vielleicht relativiert. Dabei bleibt er wohl Corona-Profiteur: wenn er beim Kandidatenturnier mitgespielt hätte (ohne Pandemie oder mit derselben Einstellung wie die anderen) hätte er nicht die Opfer-Rolle, von der er seither eher profitiert.

Shak Mamedyarov begann vielversprechend mit 3/4, dann aber tagesübergreifend vier Niederlagen nacheinander. Danach 50% (zwei Siege, zwei Niederlagen und zum Schluss drei Remisen). So konnte er nur indirekt in den Kampf um die Plätze 1-8 eingreifen – am letzten Tag Niederlage gegen Nepomniachtchi und Sieg gegen Karjakin. 

Dann noch die vier, die ohnehin eher Außenseiter waren:

Nils Grandelius ist formal der Beste, dank Sieg im tiebreak-relevanten direkten Duell gegen Jorden van Foreest. Gegen die beiden anderen Kellerkinder gewann er ebenfalls, gegen den grossen Rest 50% – sechs Remisen und sechs Niederlagen.

Für Jorden van Foreest war durchaus mehr drin: Gegen Grandelius hatte er in guter Stellung direkt nacheinander erst einen wichtigen Bauern, und dann eine Qualität eingestellt – oder waren das ziemlich verunglückte Opfer? Die Niederlage aus totaler Gewinnstellung gegen Aronian hatten wir bereits. Und dann war da noch Runde 14 gegen Vachier-Lagrave, der Caro nach wie vor nicht richtig Kann und schon nach acht Zügen laut Engines auf verlorenem Posten stand. Weitere Irrungen und Wirrungen folgten, van Foreest stand mehrfach wieder auf Gewinn und begnügte sich am Ende mit Dauerschach. Durch das nüchterne und Engine-assistierte Auge betrachtet war 40.Te1 nicht allzu schwer zu finden – es erzwingt Turmtausch und danach sollte der etwas wacklig stehende weisse König keine Rolle mehr spielen, im Gegensatz zu mehr Material (Qualität und Bauer).

Andererseits profitierte Jorden auch von einem groben Bock von David Anton, und sein Patt-Trick gegen Radjabov hätte auch nicht funktionieren müssen.

Noch weiter abgeschlagen:

David Anton Guijarro, der immerhin indirekt ins Qualifikationsrennen eingreifen konnte: nicht durch seinen Sieg gegen Firouzja, wie oben besprochen sonst genug Firouzja-Dusel, aber durch Sieg gegen Mamedyarov. Seinen Platz im Turnier verdankt er guten Kontakten zum spanischen chess24 und dort zu mobilisierenden spanischen Fans.

Alan Pichot, der nur zufällig mitspielen durfte – im Qualifikationsturnier kurzfristiger Ersatz für den erkrankten Norweger Johan-Sebastian Christiansen. Mit fünf Remisen und zehn Niederlagen hat er auch 50% klar verfehlt, aber freute sich dass er dabei sein durfte. Hinterher nannte er ein einerseits ehrgeiziges, andererseits bescheidenes Ziel: in 15-20 Jahren will er mit der Weltelite mithalten können. Pichot ist Jahrgang 1998, wie der nach Elo etwas bessere Alexander Donchenko. 

Wenn chess24 nochmals mit einem Südamerikaner im Turnier experimentiert, wird das vielleicht eine Chance für Neu-Uruguayaner Georg Meier? Dabei erfolgt dessen Verbandswechsel, wenn er erfolgt, offenbar erst gegen Ende 2021 – dann ist die Pandemie vielleicht vorbei und Schach am Brett wieder möglich. Es hängt anscheinend auch ab von a) Ergebnis der DSB-Präsidentenwahl, b) ob der eventuelle Nachfolger von Ullrich Krause dann Meiers Forderungen (welche das genau sind scheint mir unklar) erfüllt. 

Zurück zu diesem Turnier: Weiter geht es im Viertelfinale mit Carlsen-Aronian, Giri-MVL (beide auch im Kandidatenturnier), So-Firouzja (so-lides gegen spekulatives Schach) und Nakamura-Nepomniachtchi. Und nun schnell den Beitrag veröffentlichen, bevor die Uhren im Internet laufen.