November 24, 2024

Wijk aan Zee vor dem ersten Ruhetag

Einerseits ist schon einiges passiert, andererseits nicht allzu viel. Da es kein Gruppenfoto der fünf Spieler gibt, die nach vier Runden vorne liegen, zeige ich im Titelfoto die besondere Atmosphäre in Wijk aan Zee anno 2021. Nun aber der aktuelle Zwischenstand:

Harikrishna, Caruana, Carlsen, Giri, Grandelius 2.5/4, Vachier-Lagrave, van Foreest, Esipenko, Firouzja, Wojtaszek 2, Duda, Anton Guijarro, Tari 1.5, Donchenko 1. Punktgleiche Spieler sind da nach aktueller Sonneborn-Berger sortiert – bei Donchenko irrelevant denn er ist Individualist. Als einziger konnte er in der heutigen vierten Runde sein Punktekonto verdoppeln, die drei vor ihm genannten Spieler schafften das nicht.

Zuerst der Hinweis zu den Fotos: © Jurriaan Hoefsmit – Tata Steel Chess Tournament 2021 – das ist die Turnierseite. Jurriaan Hoefsmit war einer von wenigen, die neben den vierzehn Spielern Zugang zum Turniersaal hatten. Im Bericht zeige ich nun die fünf momentan Führenden mit jeweils ein paar Worten zu ihrem bisherigen Turnier:

Carlsen und Caruana werden so oft fotografiert, da reicht diesmal ein gemeinsames Foto. Alphabetisch führen sie die Setzliste an, allerdings erst nachdem Abdusattorov absagen musste. Anand, Aronian, Adams (britische Variante des Corona-Virus!) und auch Artemiev sind nicht dabei. Die beiden Spieler mit Elo über 2800 sollten ihren Status behalten – daher wurde Dubov nicht etwa durch die deutsche Nummer 1 (laut offizieller Januar-Liste) Matthias Bluebaum ersetzt, sondern durch Alexander Donchenko.

Jurriaan Hoefsmit hat das prima hinbekommen: Carlsen zwar im Vordergrund aber etwas unscharf, Caruana dahinter gestochen scharf – so spielten sie bisher. Carlsen spielt in Wijk aan Zee generell so lange Remis, bis die Gegner endlich Fehler machen.

Das war diesmal schon in der ersten Runde der Fall, schließlich traf er auf Alireza Firouzja und der verliert fast immer gegen den Norweger. Aus der Eröffnung erreichte Carlsen mit Weiß nichts, dann randalierte er mit einem doppelten Bauernopfer – das war zwar eher inkorrekt aber Firouzja patzte dann. Der Fidestaner gilt als kreativ und findet immer neue Wege, gegen Carlsen zu verlieren – nur zu den Niederlagen mit klassischer Bedenkzeit: Letztes Jahr spielte er mit Weiß von Anfang an schlecht, bei Norway Chess vergeigte er ein elementares Bauernendspiel und nun verlor er auch in dem, was eigentlich als seine Stärke gilt: taktische Komplikationen. Das ist allerdings relativ – angreifen und eigene taktische Motive finden ist etwas anderes als verteidigen und taktische Motive für den Gegner nicht übersehen.

Carlsens Spezialität ist dabei nach eigener Aussage „angreifen ohne zu opfern“ bzw. wie er es selbst in der entsprechenden Videoserie formuliert „äh attacking“. Noch bekannter ist er für gegnerische Fehler in Endspielen, in den drei nächsten Runden riskierte er nichts mehr (das gegen Firouzja war ja auch genug für fünf Turniere0 und spekulierte darauf. Aber weder David Anton noch Aryan Tari noch Jorden van Foreest taten ihm diesen Gefallen – sonst würde vielleicht schon Langeweile im Turnier herrschen.

Caruana hatte erst ein besseres, einen Zug lang offenbar gewonnenes Turmendspiel gegen Jorden van Foreest aber das wurde remis. Dann hat er Donchenko mit Schwarz brutal ausgekontert, und auch tags darauf war er nahe am Sieg gegen JK Duda – zu dieser Partie ein separates Foto mit Text dazu. Auch gegen Harikrishna stand er mit Schwarz durchgehend jedenfalls etwas besser, bis er eine Remisabwicklung übersah. Generell zeigte er das, was bei Carlsen immer behauptet wird: unbedingten Siegeswillen.

Harikrishna wäre nach Sonneborn-Berger eigentlich zuerst dran, dafür bekommt er nun gleich zwei Fotos:

Er ist flexibel, sowohl bei der Aufstellung seiner Getränke als auch mit welcher Hand er Corona-Regeln verletzt – Hände/Finger gehören nicht ins Gesicht und schon gar nicht an den Mund! Mal mit Schwarz und mal mit Weiß spielen gilt natürlich auch für die dreizehn anderen Großmeister.

Hari hat Grandelius positionell ausgekontert und damit dessen anfänglichen Lauf unterbrochen. Gegen die Turnierfavoriten: Plusremis gegen Vachier-Lagrave und (bereits erwähnt) Minusremis gegen Caruana, beide Partien wohl generell innerhalb der Remisbreite – es heißt ja -breite. Und noch ein Remis gegen Esipenko.

Nach Hari kommt jetzt Giri. Sein Erfolgserlebnis hatte er gleich zu Beginn gegen einen der beiden anderen Spieler mit kurzem Namen auch im Reisepass: Giri-Tari 1-0. Der Norweger machte dasselbe wie sein bekannterer Landsmann zuvor mal im Internet gegen Nakamura und opferte früh eine Figur. Giri war vorbereitet, neutralisierte das und stand besser, aber vielleicht hatte Tari ja eine Festung? Auf Dauer nicht, wobei das lockernde 39.-c6 Giris Aufgabe erleichterte. So konnte er, wie er hinterher selbst sagte, „ohne einen Durchbruch durchbrechen“: c2-c3 und d3-d4 hatte er lange vorbereitet bzw. angedeutet, nun drang er ohne Bauernhilfe mit seiner Dame in die gegnerische Stellung ein. Auch für Giri danach drei Remisen, u.a. gegen Duda (auch ein kurzer Name) – da hatte er in einem Grünfeld-Inder Kompensation für einen geopferten Bauern, nicht weniger aber auch nicht mehr.

Grandelius gut gelaunt, noch kennt er das Ergebnis gegen Harikrishna ja nicht und zuvor lief es nach Wunsch. Zu Beginn hatte er etwas aus Versehen gegen Donchenko gewonnen. Dann profitierte er davon, dass Duda gegen ihn einen schlechten Tag erwischte – die hat der Pole mitunter. Aus 2/2 wurde 2/3 und dann fast 3/4. Esipenko spielte mit Weiß zögerlich und etwas planlos gegen Najdorf-Sizilianisch, dadurch bekam Schwarz Oberwasser aber konnte den Sack nicht zumachen – Remis.

Ohnehin gehe ich nicht davon aus, dass Grandelius bis zum Turnierende vorne mitmischen kann – nun bekommt er nacheinander MVL, Caruana, Giri, Wojtaszek und dann Carlsen. Warum spielt er eigentlich mit? Belohnung für den neunten Platz im Challenger-Turnier 2020 ist es wohl nicht, vor ihm landeten damals neben Anton Guijarro und Abdusattorov (beide sollten diesmal mitspielen) auch u.a. Erwin l’Ami (der darf aber diesmal endlich auch in Wijk aan Zee Anish Giri unterstützen) und Vincent Keymer. Lob für die schwedische Corona-Politik ist es wohl auch nicht, zumal Grandelius in Dänemark wohnt. Carlsen-Sekundant könnte eine Rolle spielen. Dabei hatte Grandelius schon einmal fast 2700, aber Ende 2019/Anfang 2020 ging es für ihn generell bergab. Zuletzt machte er allerdings den Donchenko; 8/9 bei einem relativ schwachen Turnier und damit seine Elozahl wieder verbessern („wieder“ gilt da nur für den Schweden).

Da ich für eine deutsche Seite schreibe, nun noch Donchenko. Gegen Caruana war er gut vorbereitet – drei (3) Wasserflaschen und die Neuerung 12.g4!? – und hatte trotzdem das Nachsehen. Laut Engines und Perlen vom Bodensee lag es am überhasteten 18.e4?! – überhastet bezieht sich da auf den Zug an sich, nicht auf die 37 Minuten die er dafür investierte. Generell berichtet Kollege Conrad Schormann ausführlich zu Donchenko, zu Runde 4 gegen Wojtaszek bin ich aber nun vielleicht schneller: Auch da war 13.g4!? eine Neuerung, wobei sich anbahnende Najdorf-Komplikationen durch Damentausch im 17. Zug jedenfalls reduziert wurden. Später gewann Donchenko einen Bauern aber Schwarz hatte Kompensation.

Dann hatte Donchenko womöglich Glück: die kritische Stellung im Endspiel nach 40.-Lxc4+, also direkt nach und nicht vor der Zeitkontrolle. So konnte er 23 Minuten nachdenken und offenbar schon da fünf einzige Züge nacheinander finden. Wenn Wojtaszek mit Minusbauer zu lange auf Gewinn gespielt hätte, konnte er gar noch studienartig verlieren – aber es wurde Remis.

Laut seinem Deizisauer Mannschaftskollegen Peter Leko, der für chess24 live kommentierte, ist Donchenko großer Fan von Endspielstudien – das half ihm nun vielleicht. Generell hatte Leko neben penetrantem Carlsen-Hype (Auftrag vom Auftraggeber?) auch das eine oder andere interessante zu bieten. Auch er hatte am vierten Tag Glück: Zum Schluss outete er sich als Handball-Fan, der unbedingt Deutschland-Ungarn gucken will – und MVL beendete seine Gewinnversuche im Turmendspiel gegen Anton Guijarro gerade noch rechtzeitig.

Nun zu einigen Remispartien: Eigentlich hätte das Remis des Franzosen gegen Esipenko eher ein Foto verdient (spektakulär-ungewöhnliches Damenopfer) aber so kann ich mehrere Dinge nebenbei erwähnen: Firouzja vermied einen Fehlstart mit 0/2, da MVL ihm mit 30.Sc4?! Amnestie erteilte – so verflachte eine zuvor für Weiß vorteilhafte Stellung schnell zum Remis.

Tags darauf belagerte Firouzja die Stellung von Anton Guijarro endlos und hatte womöglich auch ein glückliches Timing: Laut Engines machte der Spanier den entscheidenden Fehler direkt vor der Zeitkontrolle, damit konnte Firouzja ihn direkt nach der Zeitkontrolle bestrafen. Soweit kam es tags darauf gegen Tari nicht: Lotterie in beiderseitiger Zeitnot und sicherheitshalber nach 30 Zügen (ab da ist es in Wijk aan Zee erlaubt) Remis vereinbaren. Die Stellung war hochkompliziert, da mag „nur Engines können die besten Züge finden“ durchaus zutreffen – im Gegensatz zu, so sehe ich es, Firouzjas Niederlage zu Turnierbeginn gegen Carlsen.

Noch etwas zeigt obiges Foto: Fotograf Harry Gielen, Dauergast in Wijk aan Zee, war auch diesmal willkommen. Aber nur mit (siehe auch Titelfoto) gebührendem Abstand zu den Spielern – deshalb ein starkes Teleobjektiv.

Caruana-Duda war wohl die Remispartie des Turniers, trotz Konkurrenz von Esipenko-MVL am selben Tag. Es begann mit Russisch und einem Abspiel, das Caruana schon mit beiden Farben auf dem Brett hatte: mit Schwarz im WM-Match gegen Carlsen, mit Weiß u.a. gegen einen gewissen JK Duda – der hatte dieses Russisch auch gegen die Russen Nepomniachtchi und Svidler versucht. Wer war besser vorbereitet? Wie sich herausstellte, Caruana – auch er machte den Donchenko und spielte 12.g4 (neu war schon das vorbereitende 11.Thg1).

Turbulent wurde es erst recht ab dem 16. Zug, der auch beiderseitige Zeitnot vorbereitete: 43 Minuten für 16.Se6!!?, 32 Minuten für 16.-Da5 (Duda war schon zuvor abgetaucht). Caruana stand klar besser, aber erstaunlicherweise wurde daraus nicht Matt für den schwarzen König sondern nur ein Endspiel mit Mehrqualität. Caruanas 38. Zug war dann suboptimal, so wurde es Remis.

Das NL-Derby van Foreest – Giri begann ebenfalls Russisch, auch mit 5.Sc3. Turbulent wurde es aber nicht, auch da hier beide lang rochierten. Giri strebt zwar nach Raumvorteil, aber es wurde Remis – eine von mehreren Partien bisher, die der Favorit nicht gewinnen konnte. Wenn das so weitergeht, fällt die Entscheidung um den Turniersieg vielleicht doch in direkten Duellen der Elofavoriten – die gibt es aber erst ab Runde 7.

Noch zwei Fotos zum Abschluss:

Esipenko ist nun einziger Russe im Turnier und übernimmt quasi auch Dubovs Rolle: Auch Dubov war vor einigen Jahren, damals im B-Turnier, lange vor Rundenbeginn am Brett und voll konzentriert – bei noch nicht laufender Uhr verwendete er 20 Minuten für „1.e4 oder 1.d4 ?“. Im Hintergrund haben die maskierten Schiedsrichter noch nichts zu tun, gegen Langeweile helfen bekanntlich Handys – im Turniersaal vielleicht verboten, aber dann bekamen beide vom Kollegen eine Ausnahmegenehmigung.

Und ganz zum Schluss noch ein bisschen Nostalgie:

Der Turniersaal anno 2020. Vor einem Jahr gab es zwar schon Berichte über ungewöhnliche Lungenentzündungen in China, das Virus bekam ja später den Namen COVID-19. Aber noch ahnte niemand, was das für die Schachszene, und nicht nur die Schachszene, bedeuten würde.

Wie geht es weiter? Zu Corona verweise ich auf andere Quellen, z.B. aktuelle Nachrichten in Deutschland – vieles ist dabei jedoch unklar. Zum Turnier in Wijk aan Zee: nach dem Ruhetag u.a. die Spitzenpaarung Giri-Harikrishna und das polnische Derby Wojtaszek-Duda. Jeweils trafen die Spieler zuvor schon relativ oft aufeinander, wobei noch bekanntere Paarungen wie gesagt erst ab Runde 7 vorkommen, die erste ist dann Caruana-MVL. Eher unwahrscheinlich ist, dass in Runde 5 ein Spieler sein Punktekonto verdoppelt: Dreizehn Spieler können das gar nicht mehr schaffen, und Donchenko hat Schwarz gegen Carlsen.