November 22, 2024

Freude schöner Bücherfunken

Eine Doppelrezension von GM Gerry Hertneck, München

Quasi als verspätetes Weihnachtsgeschenk landeten in meiner Post zwei Eröffnungsbücher, die es verdienen, rezensiert zu werden. Eigentlich bin ich kein großer Fan der immer weiter ausufernden Eröffnungsliteratur, und entsprechend aufwändiger Abhandlung in den Spezialwerken, aber bei diesen beiden Büchern habe ich gerne eine Ausnahme gemacht, denn beide Systeme gehören zu meinem engeren Repertoire, und vor allem sind sie sehr lesenswert.
Das erste Werk das vorgestellt werden soll, behandelt meine alte Liebe „Wolga-Gambit“ – eine Eröffnung, die ich seit 40 Jahren spiele, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität.

Joachim Sieglen: Wolga-Benkö-Gambit. Kania Schachverlag 2020, kart., 215 Seiten. Hrsg. H. Keilhack. Illustration: F. Stiefel.

Zunächst ein paar Worte zum Autor: FIDE-Meister Dr. Joachim Sieglen war dreimaliger Württembergischer Meister, spielte in der 1. Bundesliga beim VfL Sindelfingen. Aktuell spielt er für den SC Untergrombach, bis 2018 in der 2. Bundesliga und derzeit in der Oberliga.

Dem Buch merkt man sofort an, dass es sehr sorgfältig gearbeitet ist. Es gibt relativ viele Bücher und auch Videos über Wolga-Gambit (weil dieses System gerade auch für schwächere Spieler aufgrund seiner Dynamik sehr attraktiv ist), doch gerade das vorliegende finde ich sehr empfehlenswert. Denn das Theoriematerial wird dort sehr gründlich abgehandelt. Fast mit wissenschaftlicher Akribie, könnte man sagen. Genau genommen auf 200 Seiten, wenn man das Vorwort und das Variantenverzeichnis abzieht. Die Kapiteleinteilung ist dabei sehr durchdacht. Im 1. Kapital wird die Hauptvariante mit dem Schlagen auf a6 betrachtet (ohne Fianchetto), und im zweiten mit weißem Fianchetto auf g2. Natürlich dürfen auch die zum Teil sehr populären Systeme mit 5.e3, 5.b6, und 5.f3 nicht fehlen, die in weiteren Kapiteln betrachtet werden. Hinzu kommt noch die Saitzew-Variante mit Sc3 und Sb5 sowie das abgelehnte Wolga-Gambit ganz zum Schluss (Weiß schlägt nicht auf b5). Insgesamt werden über die 7 Kapital 35 Hauptvarianten betrachtet. Mehr kann man doch nicht verlangen!

Der größte Wert des Werks liegt für mich neben der systematischen Betrachtung der Theorie darin, dass die moderne Hauptvariante erstmals umfassend theoretisch betrachtet wird. Man muss dazu wissen, dass das Wolga-Gambit vor ein paar Jahren in die Krise kam, weil Weiß sehr ein sehr giftiges System entwickelte, indem er das Opfer annahm und seinen Läufer nach g2 entwickelte, und mit genauen Zügen das schwarze Gegenspiel aus der Stellung nahm. Ehrlich gesagt hat mir dieses System jahrelang den Spaß am Wolga verleidet, bis Schwarz endlich ein Gegengift entwickelte, und zwar indem er den Bauern auf a6 zunächst stehen ließ, und sich so schnell wie möglich am Königsflügel entwickelte, um erst danach am Damenflügel zu Aktionen überzugehen. Im Ergebnis entsteht meist folgende Stellung als Basis für die weiteren Untersuchungen:

Schwarz droht, den Bauern auf e4 zu gewinnen, und zugleich auf a6 mit dem Läufer zu schlagen, und dann mit der Dame zurückzuschlagen, um die weiße Rochade zu verhindern oder Damentausch zu erzwingen. Als Nebendrohung kommt noch Db4 ins Spiel. Weiß muss hier sehr sorgfältig vorgehen, um zu vermeiden, dass Schwarz sehr kräftiges Gegenspiel erhält. Das verdienstvolle an dem Buch ist meines Erachtens, dass dieses System mit allen Abweichungen auf 45 Seiten erstmals intensiv analysiert wird – und damit hat das Werk meines Erachtens ein Alleinstellungsmerkmal. Noch einmal: das ist modernste Theorie im Wolga, und vor allem auch essenziell für die Spielbarkeit der Eröffnung. Und die Theorie ist gerade erst dabei sich zu festigen. Bis dahin kann Schwarz weiter “im Schlamm wühlen”, was er ja so gerne im Wolga macht. Und selbst wenn man sich im Turnier Wolga nicht traut, so bleibt es doch im Blitz ein großer Spaß und führt zu einer hohen Gewinnquote.

Auch wenn ich mich in der Besprechung auf dieses wichtige System fokussiert habe, so sei angemerkt, dass alle weiteren System, denen Schwarz in der Praxis begegnet, mit derselben Gründlichkeit und Übersichtlichkeit abgehandelt werden. Manchmal fragt man sich allerdings, ob Varianten bis zum 20. Zug du darüber hinaus angegeben sein müssen. Aber so ist Wolga eben: der Eröffnungsplan reicht ja bis in das tiefe Mittelspiel.
Das Buch erhält daher für alle Wolga-Liebhaber eine dicke Empfehlung von mir. Abschließend sei noch erwähnt, dass es auch sehr sorgfältig gesetzt ist, so wie man das vom Kania-Verlag erwartet. Zusammenfassend: eine solide deutsche Wertarbeit!
***

Maxim Chetverik: The complete Bogo-Indian Defense. Elk and Ruby Publishing House, kartoniert, 253 Seiten. Übersetzt aus dem Russischen von I. Rubin

Das zweite zu besprechende Werk betrachtet ein viel solideres Eröffnungssystem gegen d4, und zwar das Bogoljubow-System. Also 1.d4 Sf6 2.c4 e6 3.Sf3 Lb4+. Das Buch ist auf Englisch verfasst, und führt den Leser anhand von ausgewählten Partien durch das Repertoire. Der Autor IM Maxim Chetverik war mir ehrlich gesagt unbekannt, aber laut Klappentext ist er einer der führenden russischen Theoretiker. Er ist Jahrgang 1963 und spielte mal auf einem Niveau von 2400. Auch dieses Buch ist ganz neu, erschien also 2020 und berücksichtigte alle bis dahin verfügbare Theorie.

Aus pragmatischer Sicht erscheint mir das Bogo-System deshalb empfehlenswert, weil es relativ leicht erlernbar ist, und die Pläne leicht nachzuvollziehen sind. Im Gegenzug muss man natürlich einräumen, dass das System nicht besonders aggressiv ist, und eher auf Remis als auf schwarzen Sieg zielt. Tatsächlich steht Schwarz oft etwas passiv, und muss sich hüten, sich zu sehr einengen zu lassen. Im Gegenzug geht er in der Eröffnung keine großen Zugeständnisse ein, zum Beispiel indem er einen schlechten Läufer auf g7 hat. Nein, sondern er tauscht diesen Läufer sofort ab, um sich schnell zu entwickeln, und freieres Spiel (zum Beispiel auf dem Feld e7) zu bekommen. ER muss dann aber auch bereit sein, den Läufer später gegen den Springer auf d2 abzutauschen, und gegen das weiße Läuferpaar zu spielen. Dies ist vielleicht der Aspekt, der vielen Weißen am Bogo-Inder nicht ganz behagt.

Interessant ist die Eröffnungsklassifizierung des Autors: er meint im Nachwort, dass „Bogo-Indisch“ der arme Bruder von populäreren Systemen wie Damenindisch, Nimzo-Indisch und Katalanisch ist. Man mag ihm unwillkürlich recht geben, denn Weiß kann ja schon im 4. Zug mit Sc3 in Nimzo-Indisch überleiten, was allerdings in der Praxis eher selten vorkommt. Weiß wird doch häufiger zu 4.Ld2 oder 4.Sbd2 greifen. Und genau diese Systeme werden äußerst gründlich abgehandelt. Das Buch füllt damit eine Lücke, denn die verfügbare theoretische Literatur zum Bogo-Inder ist eher spärlich.

Besonders erfreulich fand ich, dass die moderne Behandlungsweise gegen 4.Ld2, nämlich c5!? ausführlich besprochen wird. Folgende in den letzten Jahren immer häufiger anzutreffende Stellung ist gemeint:

Egal, ob Weiß sofort auf b4 schlägt, oder erst 5.e3 oder 5.g3 spielt oder sogar auf c5 schlägt, es ergeben sich immer spannende und nicht stark ausgetretene Stellungsbilder. Der schwarze Plan besteht natürlich darin, auf den schwarzen Feldern gegenzuhalten, und später den Vorstoß e5 unter günstigen Umständen durchzusetzen (wie fast immer im Bogo-Inder). Weiß kann im Gegenzug nach meiner Überzeugung keinen großen Vorteil erzielen, wenn sich Schwarz genau verteidigt. Dieses spannende System (das ich selbst auch in meinem Repertoire habe) wird auf immerhin 25 Seiten besprochen. Aber natürlich kommen auch die häufiger gespielten Systeme mit 4…a5 und 4…De7 nicht zu kurz, ganz im Gegenteil. Und natürlich wird auch der zweite Hauptzug 4.Sbd2 intensiv besprochen, worauf ich hier aber nicht weiter eingehen möchte.

Ich möchte noch einmal betonen, dass das Buch so aufgebaut ist, dass es den Leser von (hochklassigen) Musterpartien durch den Theoriestoff führt, und nicht aufgrund eines Eröffnungsbaums, wie man es vielleicht erwarten würde. Welche Methode man hier als Autor und Leser bevorzugt, dürfte Geschmacksache sein, aber wenn es ordentlich umgesetzt ist, dann sind beide Wege gangbar. Untervarianten werden also als Anmerkungen zu den Musterpartien besprochen. Wichtig ist natürlich auch, dass Diagramme an den richtigen Stellen gesetzt sind, und die Erläuterungen nicht zu kurz kommen, und dies ist meines Erachtens der Fall. Vor allem bleibt angesichts der Fülle des Materials definitiv kein System auf den 250 Seiten vernachlässigt. Positiv ist mir auch aufgefallen, dass der Autor nicht vor eigenen Beurteilungen zurückschreckt, und den Leser auf eine angenehme Reise mitnimmt. Er warnt auch mit erhobenem Zeigefinger vor Fallen, auf die man nicht hereinfallen sollte. Nicht so überzeugend finde ich hingegen, dass die Partien immer bis zum Ende abgedruckt und zum Teil auch analysiert werden. Das verlässt dann eigentlich schon fast den Rahmen eines Eröffnungswerks.

Im Ergebnis erhält auch dieses Werk eine uneingeschränkte Empfehlung von mir.