November 24, 2024

Rückblick auf das ÖSB-Jubiläumsjahr – Kurt Jungwirth im Interview

Die nunmehr 100-jährige Geschichte des ÖSB lässt sich gut in drei Perioden einteilen: vor, während und nach dem 2. Weltkrieg. 46 Jahre davon hat Kurt Jungwirth von 1971 bis 2017 den ÖSB als Präsident geführt, lässt man die acht Jahre der Kriegszeit aus, dann hat der Fan des SK Sturm eine ganze Halbzeit der 100 Jahre regiert.

 

WK: Lieber Kurt, wie geht es dir und wie hast du das Jubiläumsjahr des ÖSB persönlich erlebt.

KJ: Ein Virus hat das 100-Jahr Jubiläum leider stark gestört. In Graz hatten wir das Glück, das traditionelle, große Internationale Turnier im Februar gut über die Bühne zu bringen. Ein paar Wochen später hätten wir einen Scherbenhaufen erlebt. Es hat internationale Versuche gegeben, Corona online zu überspielen. Erfreulich war, dass es uns gelang, die Österreichischen Jugendmeisterschaften auf diese Weise zu retten. Eine organisatorische und technische Meisterleistung.

WK: Du bist 2017 als Präsident des ÖSB zurückgetreten. Wie ist seither deine Verbindung mit Schach geblieben?

KJ: Ich verfolge ungebrochen das Schachgeschehen in Österreich und international. Es ist erfreulich, dass mein Nachfolger, Christian Hursky, sehr ambitioniert tätig ist. Trotz mancher Diskussion muss Zusammenhalt oberstes Prinzip im ÖSB bleiben.

WK: Anfang Dezember ist im Beyer-Verlag von dir, Ehn und Ragger ein Buch über Eva Moser erschienen, das du initiiert hast. Warum war es dir ein so großes Anliegen dieses Buch herauszubringen?

KJ: Von allen Österreicherinnen, die seit 1920 auf die Welt gekommen sind und Schach spielten und spielen, ist Eva Moser die Größte. Mit ihrem fulminanten Aufstieg kam sie, wie ganz wenige Frauen auf der Welt, dem Titel eines (männlichen) Großmeisters ganz nahe. Ihrem schöpferischen Werk musste ein Denkmal gesetzt werden. In dem Buch hat Markus Ragger ihren wertvollen Nachlass analysiert. Michael Ehn hat einen umfassenden Artikel über Frauenschach in Österreich verfasst.

WK: Zurück zu den Anfängen und zu positiven Erlebnissen. Wie war es möglich 46 Jahre an der Spitze eines Verbandes zu bleiben, insbesondere wenn man bedenkt, dass du diese Funktion nicht aktiv angestrebt hast?

KJ: Eigentlich wollte ich ursprünglich ein starker Spieler werden, dann holten mich aber Funktionen ein. Dass ich in der Landesregierung der Steiermark landete, hatte ich nie geplant. Auch nicht, dass 1970 eine Delegation aus Wien mich bat, die Führung des ÖSB zu übernehmen. In Wien gab es sehr gute Spieler und starke Vereine, aber die Funktionäre, die dort den ÖSB leiteten, waren uneinig. So wurde ich im September 1971 einstimmig in der Versammlung aller Bundesländer gewählt. Die lange Dauer in einer Präsidentschaft musste mehrere Gründe haben. Sicherlich einen leidenschaftlichen Bezug zum Schach. Ich hatte das Glück, hervorragende Mitstreiter zu finden und muss an der Spitze für viele Karl und Gertrude Wagner zitieren, die für Schach sozusagen Tag und Nacht brannten. Im Laufe der Jahre bin ich ganzen Generationen von Spielern und Organisatoren begegnet, mit deren Einsatz sich der ÖSB weiterentwickelte.

WK: Zu deinem Abschied im ÖSB haben Eva Moser, Michael Ehn und das Team von Schach Aktiv in einer Sonderausgabe dein Schaffen für das österreichische und internationale Schach aufgearbeitet. Wenn du dir dieses Heft durchblätterst, bist du dann selbst überrascht wie viel da gelungen und innovativ aufgebaut worden ist? Ich denke beispielsweise an die Jugendmeisterschaften, die mit einer Altersklasse begonnen haben. 2017 waren es dann jährlich 37 Bewerbe (Buben, Mädchen, U8 bis U18, Standard, Rapid, Blitz). Oder an die Gründung der ECU, des Mitropacups, die vielen internationale Veranstaltungen…

KJ: Ich erinnere mich an weitere nachhaltig Etappen. Es gelang 1976 Schach in den Lehrplänen österreichischer Schulen als Freigegenstand oder Unverbindliche Übung durchzubringen. Daraus entstanden die Bundes-Schülerligen. Die Staatsliga wurde bereits 1975 als Vorgängerin der Bundesligen gegründet. International wurde 1976 der Mitropacup neu erfunden. 1981 übernahm der ÖSB die Herausgabe von Schach-Aktiv.

WK: Bei all dem, das gelungen ist. Welche drei Ereignisse siehst du als deine größten Erfolge?

KJ: Mich interessierte stark das internationale Schach, wobei mir Sprachkenntnisse zu vielen Verbindungen verhalfen. 1978 wurde auf dem FIDE-Kongress in Buenos Aires Fridrik Olafsson neuer Präsident. Zum ersten Mal wurde in der anwachsenden FIDE ein Sprecher für Europa gesucht. Ich wurde gewählt und kam auf diese Weise in die Spitze des Weltverbandes. Das war ein entscheidender Moment für die Zukunft.

Am 30. August 1985 wurde auf dem FIDE-Kongress in Graz die erste Kontinentale Versammlung für Europa, die ECU, die European Chess Union, gegründet. Initiator und erster Präsident war Rolf Littorin aus Schweden. Er übergab mir das anfänglich schwierige Amt ein Jahr später. Der Kalte Krieg in der Politik verzögerte die Entwicklung, aber nach der Auflösung der Sowjetunion entstand der heute mächtige Verband, dem ganz Europa, mit Ausnahme des Vatikans, angehört.

Am 1. Jänner 2005 wurde der ÖSB Mitglied der BSO und damit in Österreich als Sport anerkannt. Nach langem Ringen eröffneten sich für Schach neue Möglichkeiten, Kaderarbeit, Trainersystem, Sekretariat für neue Organisation.

WK: Gab es auch etwas, das du letztlich nicht umsetzen konntest, aber gerne getan hättest?

KJ: Verbesserte Entwicklung des Schulschachs in Österreich, im Sinne des Beschlusses des Europäischen Parlaments, der den Mitgliedsländern der EU empfahl, Schach, soweit nicht schon geschehen, in ihr Bildungssystem aufzunehmen.

WK: In einem Interview mit der Journalistin Felicitas Freise hast du 1971 gemeint: Schach braucht Fantasie! Ich habe in unserer 15-jährigen engen Zusammenarbeit im ÖSB immer deine Zielstrebigkeit und Disziplin bewundert. Braucht es im Schach mehr Disziplin oder mehr Fantasie?

KJ: In jüngsten Jahren beginnt der Zugang mit der Neugierde auf das Spiel und der Freude am Wettkampf. Talent zeigt sich früh mit Fantasie, die auf dem Brett die Zukunft sieht. So beginnt ein Übergang zu einer sportlichen Aktivität. Wenn der Spieler oder die Spielerin es ernst meint, brauchen sie Fitness im Kopf und körperlichen Ausgleich. Fantasie ohne Disziplin reicht nicht. Disziplin ohne Fantasie reicht gar nicht.

WK: Wir beide sind in Graz im Bezirk Jakomini groß geworden, unweit der „Gruabn“, der Heimstätte des SK Sturm. Du bist ein Fan des SK Sturm und des Fußballs. Siehst du Ähnlichkeiten zwischen Fußball und Schach?

KJ: Schach ist Einzel-, Fußball Mannschaftssport. Beide treffen sich in der Notwendigkeit, intensiv zu trainieren, sich fit zu erhalten, mental während des ganzen Matches, der ganzen Partie, voll konzentriert zu sein. Klarer Siegeswille, Fairness.

WK: In wenigen Tagen beginnt das Jahr 2021. Was sind aus deiner Sicht die wichtigsten Aufgaben des ÖSB für die nächsten Jahre? Wo würdest du den österreichischen Schachsport in 10 Jahren national und international gerne sehen?

KJ: Den ÖSB in allen Kategorien breit aufstellen.
Mehr Frauen, die sich für Mädchen- und Frauenschach engagieren.
Sportliche Spitzenleistungen unterstützen, dadurch Interesse in den Medien halten und steigern, als Voraussetzung für finanzielle Förderung durch die öffentliche Hand und private Sponsoren.
Österreich sportlich und organisatorisch international gut positionieren.

WK: Danke für das Gespräch.

Die Ära Kurt Jungwirth, Schach Aktiv Sonderheft…

mit einem Porträt Jungwirths der Journalistin Felicitas Freise:

31.12.2020
Walter Kastner