Rundenberichte des russischen Schachverbandes in englischer Sprache gab es bereits auf dem Schachticker, nun auch ein bisschen was von einem deutschen Autor auf Deutsch. Für Fotos habe ich aber dieselbe russische Quelle. Generell schreibe ich vor allem zum Turnier mit deutlich höherem Eloschnitt. Aber beim Titelbild kann ich mich nicht zwischen Nepomniachtchi und Karjakin entscheiden, und Polina Shuvalova hat es sich mit ihrem bisher phänomenalen Auftritt verdient.
Dennoch beginne ich bei den Herren, erst eine Art Vorschau: Wer wird russischer Meister? Laut Elo Nepomniachtchi oder vielleicht Karjakin, aus empirischer Sicht dagegen Svidler, wer denn sonst? Na gut, seit 1994 schaffte er es nur, oder immerhin achtmal – es gab also auch viele Jahre mit einem anderen russischen Meister. Aus dem aktuellen Teilnehmerfeld schaffte es sonst nur Nepomniachtchi, einmal 2010 nach Stichkampfsieg gegen Karjakin – der noch nie im Leben russischer Meister war. Bei Grischuk (Sieger 2009) weiß ich nicht, ob er zugunsten von Schnellschach im Internet freiwillig auf dieses Turnier verzichtete. Die russischen Meister des letzten Jahrzehnts, die nicht Svidler heissen, haben sich wohl alle nicht qualifiziert – das waren je zweimal Andreikin und Tomashevsky, außerdem die überraschenderen Namen Lysyj und Riazantsev.
Oder doch jemand aus der jungen Garde, am ehesten Artemiev oder Dubov? Esipenko (*2002) ist bei den Herren der einzige, der das letzte Jahrtausend gar nicht mitbekommen hat. Derzeit sieht es – schon recht deutlich – danach aus, dass Elo doch am aussagekräftigsten ist, Stand nach sechs von elf Runden: Nepomniachtchi und Karjakin 4.5/6, Artemiev und Fedoseev 3.5, Chigaev, Svidler, Dubov, Vitiugov 3, Esipenko, Matlakov, Goganov, Antipov 2. Ich zeige zunächst den Turniersaal:
Außer einem Weihnachtsbaum hat der russische Schachverband auch Plexiglas-Trennscheiben spendiert. Dieses Foto suggeriert, dass dennoch Maskenpflicht herrschte – aber das machten die Spieler wohl freiwillig, und nicht alle machten es immer.
Bei „Runde für Runde“ nur zu den Partien mit Sieger und Verlierer, mit einer Ausnahme:
Runde 1:
Antipov-Karjakin 0-1: Weiß wollte angreifen, das klappte nie so richtig. Karjakin liess sich nicht aus der Ruhe bringen und sammelte Vorteile am Damenflügel, konkret einen b-Freibauern. Das war partieentscheidend, wobei er zum Schluss dann ebendiesen nicht einmal unbedingt brauchte.
Antipov war mal Juniorenweltmeister, und zwar 2015. Das war sicher sein grösster bisheriger Erfolg, was war der zweitgrösste? Vielleicht die Qualifikation für dieses Superfinale. Dadurch hat er auch wieder das, was er 2018 vorübergehend hatte: Elo knapp über 2600 – nicht schlecht aber für russische Verhältnisse auch nicht besonders toll.
Nepomniachtchi-Matlakov 1-0: Nepo war über weite Strecken der Partie am Drücker, dann hatte Matlakov das Gröbste überstanden und dann patzte er. Zu 38.-Tf6? (38.-Td6, nur so) hatte er nicht einmal die Ausrede „mouse slip“.
Dubov-Esipenko 1-0: Dubov wirbelte mit einem ungewöhnlichen Damenopfer, wobei er zu diesem Zeitpunkt auch ohne solche Mätzchen klar besser stand. Ergebnis des Damenopfers war fast freie Bahn für seinen d-Freibauern. Die gegnerische Dame blockierte ihn zunächst, aber Damen sind keine guten Blockadefiguren, hier und diesmal auch keine stabilen.
Runde 2:
Chigaev-Dubov 1-0: Wie gewonnen so zerronnen für Dubov, ein Rossolimo-Sizilianer á la Dubov funktionierte diesmal nicht. Weiß gab eine Qualität und hatte dafür überreichliche Kompensation.
Chigaev (*1996) ist ein noch relativ junger und relativ unbekannter russischer Spieler.
Matlakov-Fedoseev 0-1: Wieder nichts für Matlakov, diesmal hatte er in unübersichtlichen schottischen Komplikationen das Nachsehen.
Runde 3:
Vitiugov-Karjakin 0-1: Schwarz gewann ein Berliner Endspiel, auch das gibt es. Da sonst in dieser Runde niemand gewann, übernahm Karjakin die alleinige Führung im Turnier und wird dafür fotografiert:
Runde 4:
Antipov-Nepomniachtchi 0-1: Zunächst konnte Antipov mithalten, dann wählte er das falsche Feld für seine Dame und plötzlich hatte Schwarz vernichtenden Angriff. 22.Dc6? war der Knackpunkt, richtig 22.Da7 nebst wenn nötig De3 oder auch De7.
Vitiugov-Goganov 1-0 bespreche ich mal nicht, da nicht turnierrelevant. Stattdessen wird nun Nepo fotografiert:
So sehen Sieger aus? Noch ist er das nicht.
Runde 5:
Chigaev-Matlakov 0-1: Sieh an, Matlakov kann doch gewinnen – und Chigaev kann verlieren. Am Ende haben schwarze Schwerfiguren den weissen König entscheidend belästigt, wobei sich der Schwarzsieg schon lange zuvor abzeichnete.
Dubov-Artemiev 0-1 1/2: In einem scharfen Sizilianer machte Schwarz 19 Züge lang alles richtig, von Weiß war dagegen schon 13.Sf5? d5! falsch. Für seinen 20. Zug investierte Artemiev 26 Minuten und seine Wahl bedeutete dann nur Dauerschach für ihn. Dass in der Stellung für Schwarz etwas ging ahnten wohl viele, was ging war ohne Engine-Hilfe nicht so leicht zu finden.
Runde 6:
Artemiev-Esipenko 1-0: Erfahrung besiegte Jugend, noch sind vier Jahre Altersunterschied der beiden Spieler relevant. Artemievs erster Sieg, aber der Abstand zu den Spitzenreitern wurde nicht kleiner:
Karjakin-Matlakov 1-0: Nach reiflicher Überlegung (21 Minuten für seinen 14. Zug) gewann Karjakin Dame für Turm und Leichtfigur. Selbst glaubte er offenbar nicht unbedingt, dass er diesen Materialvorteil dann verwerten kann, aber er schaffte es.
Goganov-Nepomniachtchi 0-1: Eine provokative Variante im angenommenen Damengambit funktionierte aus schwarzer Sicht wunderbar.
Wie geht es weiter? Zunächst ein Ruhetag, und dann in Runde 7 die Spitzenpaarung Nepomniachtchi-Karjakin. Meine Prognose: da fällt keine Vorentscheidung, es wird Remis – wobei auch zwei andere Ergebnisse möglich sind.
Bei den Damen wieder erst eine Vorschau mitten im Turnier. Wer wird russische Meisterin? Am ehesten der Buchstabe G, denn der ist zahlreich vertreten – alphabetisch sortiert Galliamova, Garifullina, Getman, Girya, Goryachkina, Gunina, Guseva, Grigorieva. Acht von zwölf – einige sind mir ein Begriff, andere nicht (Ursachenforschung kommt gleich). Jedenfalls in der männlichen russischen Schachszene ist der Buchstabe K erfolgreicher – auch wenn man die abtrünnigen Korchnoi und Kamsky außen vor lässt. Demnach Kosteniuk oder Kashlinskaya. Bleiben noch zwei, und eine von ihnen hat nun die besten Karten.
Ein Blick in die Vergangenheit hilft auch nicht, denn alle russischen Meisterinnen seit 2009 sind im Turnier dabei – zuvor waren es die nun verschwundenen Kosintseva-Schwestern. Als da wären Galliamova (zweimal), Gunina (dreimal), Pogonina (zweimal), Goryachkina (im jungen Alter schon zweimal), Kosteniuk (einmal und zuvor anno 2005) und Titelverteidigerin Girya.
Aber so steht es momentan: Shuvalova 6/6, Goryachkina 4.5, Garifullina 4, Pogonina 3.5, Galliamova, Guseva, Kosteniuk 3, Girya und Kashlinskaya 2.5, Gunina 2, Getman 1.5, Grigorieva 0.5. Aleksandra Goryachkina (*1998) ist die alte Dame im Spitzentrio verglichen mit Shuvalova (*2001) und Garifullina (*2004). Ganz geschlagen geben sich die etablierten Spielerinnen nicht, daher haben sie Getman (*2003) und Grigorieva (*2002) ans Tabellenende verwiesen. Die beiden kannte ich gar nicht.
Ein Blick in den Turniersaal – dekorativer oder barocker als bei den Herren?
In diesem Turnier ist Runde für Runde und alle entschiedenen Partien zu viel – die Remisquote ist auf niedrigerem Eloniveau niedriger. Und nicht nur, weil Gunina mitspielt, die gar nicht Remis spielen kann.
Shuvalova hat sechsmal gewonnen, mehr geht nicht. Das auf unterschiedliche Art und Weise, mal im Endspiel und mal im taktischen Mittelspiel. Mit Kashlinskaya, Kosteniuk, Gunina und Pogonina hatte sie dabei bereits „etablierte“ Gegnerinnen. Sie ist amtierende Juniorenweltmeisterin (anno 2019, 2020 hat nicht stattgefunden) – kann durchaus sein, dass sie (relativ gesehen, d.h. im Damenbereich) im weiteren Schachleben mehr erreichen wird als Antipov. Gefährdet war sie im Turnier nur einen Zug lang gegen Pogonina – im 46. Zug ging plötzlich ein sehr ungewöhnliches taktisches Motiv bzw. ein Zug, der sehr viele taktische Motive miteinander kombiniert.
Goryachkinas 4.5/6 würden bei den Herren für die geteilte Tabellenführung reichen. Dabei stand sie gegen Grigorieva auf Verlust, bevor die Partie innerhalb weniger Züge komplett kippte.
Gunina kann eben gar nicht Remis spielen. 50% war dennoch möglich, aber die letzte Partie gegen Getman war eine Achterbahnfahrt bei der ihr zuletzt schwindlig wurde. Zwischendurch war sie auch mehrfach mal wieder ausgeglichen, aber Remis geht ja nicht – in ihren Partien gibt es nur zwei Ergebnisse.
Wie geht es weiter? Die Spitzenpaarung Shuvalova-Goryachkina erst in der vorletzten Runde. Garifullina traue ich eher nicht zu, noch in den Kampf um den Turniersieg einzugreifen – sie spielt bereits weit über ihren nominellen Möglichkeiten. Wann wird Grigorieva eine Partie gewinnen? Vielleicht erst in der allerletzten Runde gegen Gunina (wie heute Getman), wobei sie heute gegen Goryachkina nahe dran war.
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