Offiziell heißt es „Skilling Open“, aber das schafft meine Tastatur nur mühsam: es war ja ein Turnier für 16 eingeladene Spieler, damit kein offenes Turnier. Wer sich den Namen ausgedacht hat ist unklar – der Sponsor Skilling ist zwar Carlsen-Fan aber hat nicht unbedingt Ahnung vom Schach?
Wie dem auch sei, nun wurde das Teilnehmerfeld halbiert und acht von sechzehn haben bereits doppelt gewonnen, dazu später mehr. Bei fünf von sechzehn war es Tiebreak-knapp mit drei Siegern und zwei Verlierern – das gehört zum System dazu. Einige Spieler hatten drei unterschiedliche Tage, nur einer spielte total konstant und ist nun ausgeschieden. Das werde ich unter „Spieler für Spieler“ aufbröseln, zuerst der Endstand – wobei vor allem „top8“ relevant ist, die sind daher fettgedruckt:
Carlsen und Nakamura 9/15, So, Nepomniachtchi, Aronian 8.5, Radjabov, Vachier-Lagrave, Giri, Firouzja, Le Quang Liem 8, Ding Liren 7.5, Vidit und Anton Guijarro 6.5, Svidler 6, Karjakin 5.5, Duda 4.5. Steht eigentlich schon im Titelbild, aber zu Internet-Turnieren gibt es eben kein Bildmaterial – außer Screenshots aus Videos oder das Archiv bemühen. Vorher konnte man davon ausgehen, dass 50% eventuell für top8 reichen könnte – dem war nicht so, der Nachtmensch (gezwungenermaßen) Ding Liren ist ausgeschieden. Das lag daran, dass Karjakin und Duda schlechte Turniere erwischten und deutlich im Minus landeten. Nun Spieler für Spieler:
Carlsen 9/15 (3.5/5+2.5/5+3/5): Insgesamt machte er sein Ding, dabei war der erste Tag am Ende der beste, begann allerdings holprig. Die erste Runde schien prima zu laufen: Nepomniachtchi vergab erst den Vorteil, den er aus der Eröffnung heraus hatte, und entkorkte dann mit 33.Td5??? den schlechtesten Zug abgesehen von Turm- oder Dameneinstellern – nach 33.-c6 (kein Ausrufezeichen, da offensichtlich) wurde plötzlich die offene a-Linie relevant. Aber Carlsen revanchierte sich mit dem Mouseslip 38.-Db4????? und gab direkt auf. In der zweiten Runde stand Carlsen mit Schwarz gegen MVL in einem Berliner Endspiel (nur der Franzose macht das noch) über weite Strecken besser, zwischendurch aber – wenn MVL 19.Se2! gefunden hätte, was den schwarzen Läufer-Isolani auf a2 entscheidend belästigt – auch schlechter. Am Ende Remis, und ab hier lief es für den Norweger. Radjabov stellte in Runde 3 einfach so einen wichtigen Bauern ein – das war generell das Thema dieser Runde. Anton Guijarro opferte einen Bauern – korrekt, aber dann kam ihm die Kompensation abhanden. Dann ein Carlsen-Meisterwerk gegen Firouzja: 9. ähm äh Lh4-g3 verwirrte den Gegner so, dass er nun viel Bedenkzeit verbrauchte und 8 Minuten und 4 Züge später mit 12.-c5? daneben griff.
Danach gewann Carlsen noch ab und zu gegen Spieler der unteren Tabellenhälfte (Duda und Vidit), verlor allerdings gegen Karjakin. Womöglich von Daniil Dubov inspiriert versuchte er da Philidor und das ging schief – Magnus Carlsen ist eben nicht Daniil Dubov.
Nakamura 9/15 (3/5+2.5/5+3.5/5): Der Endstand verrät es nicht, aber lange schien das „unmögliche“ möglich – der Medienliebling und Corona-Profiteur (Schwächen mit klassischer Bedenkzeit derzeit irrelevant) scheidet nach der Vorrunde aus. Am ersten Tag konnte er nur gegen Karjakin gewinnen (was viele schafften), zu Beginn des zweiten Tages verdarb er eine vielversprechende Stellung gegen Le Quang Liem zum Verlust. Besser lief es in der letzten Runde des zweiten Tages gegen Nepomniachtchi, da der Russe diese Partie grottenschlecht spielte. Und dann am dritten Tag: Sieg gegen Anton Guijarro und dann gegen Firouzja – der andere Medienliebling übersah ein zwar hübsches, aber recht simples taktisches Motiv.
Der bekennende Opportunist Nakamura sagte danach, dass ihm Matches lieber sind als Rundenturniere – passt besser zu seinem Stil: ab und zu gewinnen und vor allem nicht verlieren.
So 8.5/15 (3/5+3/5+2.5/5) ist auch so einer. Es begann zwar mit einer Niederlage gegen Firouzja – Triumph für den Fidestaner in einer taktisch-chaotischen Lotterie. Macht nichts, in der nächsten Runde hat Aronian gegen So im 32. Zug einfach so einen Bauern eingestellt – Thema von Runde 3 und zusammen mit einem Bauerneinsteller im 33. Zug partieentscheidend. Im weiteren Turnierverlauf noch zwei Siege für So und ansonsten remis, remis. remis – auch in klar besseren Stellungen.
Nepomniachtchi 8.5/15 (3/5+2.5/5+3/5): Die erste Runde gegen Carlsen hatten wir bereits, auch in Runde 2 gewann er auf Umwegen: Eröffnungskatastrophe gegen Radjabov, irgendwie überleben und dann opferte der Azeri sinnlos eine Qualität – eben „high quality chess“. Statt 2/2 war auch 0/2 möglich. Zwar erlitt er dann mit 1.b3 gegen Anton Guijarro Schiffbruch, dennoch war er einer recht komfortablen Situation – erst recht nach einem Schwarzsieg gegen Duda in Runde 6. Das betonte er mit „was Nakamura (im Finale der letzten Tour gegen Carlsen) kann, das kann ich auch“ – drei theoretisch wohlbekannte Berliner Weißremisen in insgesamt 42 Zügen. Das war wohl im Sinne von „Energie sparen“ – fünf Runden pro Tag ist viel, und in Moskau dauerte es bis nach Mitternacht. Nach der peinlichen Niederlage gegen Nakamura wurde es noch knapp, klar in der Qualizone blieb er durch einen Endspielsieg gegen Svidler. Da hat er zwar den ersten Elfmeter verschossen (nach 38.Lxa5? war 38.-Se3+ nebst 39.-SxTf1 klar besser als das zuvor geplante und demnach a tempo gespielte 38.-Txc4+), aber Svidler griff nochmals kräftig daneben.
Keine gute B-Note für Nepo, aber nur Ergebnisse zählen am Ende.
Aronian 8.5/15 (3/5+1.5/5+4/5) – Ende gut, alles gut. Zu Beginn überzeugte er mit hübschen Siegen gegen Le Quang Liem und Vidit, dann der bereits erwähnte Bauerneinsteller gegen So. Am zweiten Tag lief es gar nicht, am dritten Tag lief es nahezu perfekt – musste auch sein. Das feierte er vor der Kamera zusammen mit seinem Hund.
Radjabov 8/15 (1.5/5+3.5/5+3/5): Generell ist der Azeri auch ein Remisspieler, diesmal klappte es nur sporadisch. Der erste Tag ziemlich misslungen – absurdes Qualitätsopfer gegen Aronian und Bauerneinsteller gegen Carlsen hatten wir bereits, am Ende verdarb er eine Angriffsstellung gegen Anton Guijarro zum Verlust. Viel besser lief es am zweiten Tag, und am dritten Tag dann nach Sieg gegen Karjakin noch vier Remisen (zuvor nur deren zwei in elf Runden).
Vachier-Lagrave 8/15 (2/5+3.5/5+2.5/5): Immer unternehmungslustig („das macht nur Firouzja“ ist Blödsinn) mit happy end. Knapp wurde es durch eine unnötige Niederlage am letzten Tag gegen Svidler. In einem Sizilianer schien Dauerschach unvermeidlich, Svidler wollte und bekam mit Weiß mehr wobei weniger für ihn möglich war. Warum MVL nach 23.Lh3??! auf 23.-cxb2+ verzichtete zugunsten des subtilen und schlechten 23.-Lf6? weiß wohl niemand, er selbst im Nachhinein auch nicht.
Giri 8/15 (4/5+2.5/5+1.5/5): Lange führte er, am Ende immerhin Platz 8. Am Ende des zweiten Tages erwähnte er, dass Dubov in einem Turnier der letzten Serie vor dem letzten Tag +3 hatte, und am Ende 50% mit verpasster Quali. So ähnlich lief es dann fast für ihn, aber der Reihe nach: Am ersten Tag zwei hübsche Endspielsiege gegen Karjakin und Le Quang Liem sowie ein „Arbeitssieg“ mit Turm und Läufer gegen Turm gegen seinen Freund und Sekundanten Vidit. Noch mehr war drin, da er auch gegen Nakamura mit Schwarz klar besser stand. Dann verlor er jedoch etwas den Faden und begnügte sich in immer noch klar besserer Stellung mit Remis. Am zweiten Tag dann fünf Remisen, wobei man ihm keine Absicht unterstellen kann.
Der dritte Tag wurde dramatisch: Gegen Firouzja hatte er eine überwältigende sizilianische Angriffsstellung, spielte dann zu zögerlich und dann passierte, was in scharfen Sizilianern mitunter passiert: wenn Schwarz das Mittelspiel überlebt, gewinnt er im Endspiel. Vielleicht Unvermögen von Giri, jedenfalls Dusel für Firouzja. Danach hatte Giri mit Schwarz in einem Pseudo-Sizilianer (1.e4 c5 2.Sf3 d6 3.Lc4, 4.d3 usw. – keine typisch sizilianische Struktur) gegen Aronian das Nachsehen, der Armenier war eben an diesem Tag gut drauf. So wurde es knapp für Giri, aber zwei abschließende Remisen reichten dann.
Firouzja 8/15 (2.5/5+2.5/5+3/5) – so betrachtet (Tag für Tag) relativ konstant, Runde für Runde dagegen wechselhaft: sechs Siege und fünf Niederlagen. Ohne den bereits erwähnten „Kontersieg“ gegen Giri wäre es kein Thema gewesen, ob Firouzja sich qualifiziert (und ob Giri sich nicht qualifiziert). Auch die Partie gegen Nakamura hatten wir bereits, zum Schluss verlor er ein „unverlierbares“ Endspiel gegen Le Quang Liem. Endspiele scheinen generell eine Schwäche des Taktikers Firouzja – selbst gegen den insgesamt indisponierten Duda hatte er aus besserer Stellung heraus das Nachsehen. Ansonsten hat er einige Chancen nicht genutzt – u.a. war er in Runde 3 der einzige, der von einem gegnerischen (in diesem Fall Svidlerschen) Bauerneinsteller nicht profitieren konnte. Allerdings entwischte er auch gleich zu Beginn gegen Vidit mit Remis aus total verlorener Stellung. Insgesamt eben Licht und Schatten, und dann reichte es nicht.
Le Quang Liem 8/15 (2/5+2.5/5+3.5/5) ähnlich wie Firouzja. In der letzten Runde hat er sein Endspiel gegen ebendiesen erfolgreich geknetet – vielleicht dachte er, dass er sich so noch für die KO-Runde qualifizieren kann, aber auch er hatte einen schlechten Tiebreak.
Tiebreaks sind immer Geschmackssache. Nach direkten Ergebnissen untereinander wurden die fünf Spieler so sortiert wie angegeben. Nach Anzahl Siege hätten Giri und MVL das Nachsehen – das belohnt wechselhafte Spieler, wobei man Giri und MVL keine Absicht, keinen mangelnden Kampfgeist unterstellen kann. Nach Sonneborn-Berger hätte es wiederum anders ausgesehen. „Unfair“ ist vielleicht alles, aber noch ein Armageddon-Turnier mit fünf Spielern wäre wohl des vielen zu viel gewesen – erst recht wenn ein Asiate beteiligt wäre (Le Quang Liem wohnt in den USA), der bereits bis weit nach Mitternacht ausharren musste.
Ding Liren 7.5/15 (2.5/5+3.5/5+1.5/5) – da haben wir einen Asiaten, der von 1:00-6:00 nachts am Monitor sitzen musste. Heraus kamen zunächst nur Remisen, am Ende des zweiten Tages zwei Siege (nun hatte er gute Karten) aber am dritten Tag zwei Niederlagen. Turnierbeginn um 18:00 mitteleuropäischer Zeit, so wollte es das norwegische Fernsehen. Das war für Nakamura 9:00 morgens oder „nachts“ – aber statt in Kalifornien hätte er wohl auch in Saint Louis spielen können (nur sieben Stunden Zeitunterschied).
Die anderen eher im Schnelldurchlauf: Vidit (1.5/5+2/5+3/5) steigerte sich im Turnierverlauf – bei ihm wie bei anderen lag es vielleicht auch daran, welche Gegner er wann bekam (am dritten Tag Siege gegen Svidler und Anton Guijarro). Anton Guijarro (3.5/5+1.5/5+1.5/5) war zu Beginn erfolgreich, Qualifikation für die KO-Runde schien möglich. Aber dann wurde er durchgereicht. Nach Runde 12 konnte er nochmals hoffen, da Karjakin in totaler Gewinnstellung keinerlei Sinn für Gefahren zeigte und das noch verlor – aber danach wieder 0/3 für den Spanier. Insgesamt hat er die Erwartungen übererfüllt und die Chance, die er wohl aufgrund seiner Kontakte zu chess24 bekam, genutzt. Svidler (2/5+2/5+2/5) war der konstanteste Spieler. Karjakin (1/5+3.5/5+1/5) hatte nur einen guten Tag, Duda (2/5+1/5+1.5/5) hatte keinen guten Tag.
Wie geht es weiter?
Zunächst mit diesen KO-Paarungen. Carlsen-Giri wird hervorgehoben, Aronian-Nepo und MVL-Nakamura werden vielleicht schachlich gehaltvoller. Bei So-Radjabov würde mich nicht wundern, wenn sie – falls Radjabov wieder seine Normalform findet – nach vielen Remisen am Ende armageddonisieren. Jeweils werden zwei Matches gespielt – im ersten Match wird ein 2-2 akzeptiert, nur im zweiten Match dann Blitzen und wenn nötig Armageddon. Am Horizont eventuell mal wieder/schon wieder ein Finale Carlsen-Nakamura.
In der Serie geht es am 26.12. weiter – kollidiert ja weder mit den deutschen Jugend-Vereinsmeisterschaften noch mit der WM im Schnell- und Blitzschach, beides Corona-bedingt abgesagt bzw. verschoben. Dabei sind auf jeden Fall die acht Sieger dieses Turniers. Wenn sie die Serie einigermaßen glaubwürdig als eine Art alternative Weltmeisterschaft verkaufen wollen, müssen sie mit Caruana, Grischuk und Mamedyarov die diesmal fehlenden top10-Spieler einladen. Auch dann wäre „alternative Weltmeisterschaft“ schon aufgrund des strukturellen Handicaps für Ding Liren fragwürdig. Es ist dabei möglich, dass Mamedyarov keine Lust auf Schach im Internet hat. Generell ist er momentan relativ „unsichtbar“, damit ein Verlierer der Corona-Situation? Das dann im Gegensatz zu seinem Landsmann Radjabov: wenn er im Kandidatenturnier mitgespielt hätte würde niemand sagen „er wurde unfair behandelt und muss dafür kompensiert werden“.
Das nächste Turnier hat nur 12 Teilnehmer und wird daher als „major“ eingestuft mit mehr Preisgeld, das verstehe wer will. Es bliebe noch ein Platz für einen frischen Spieler, z.B. Dubov, Rapport, Dominguez, Wang Hao (falls der Lust auf Nachtschichten hat), … . Aber nein: das Publikum (chess24 Premiummitglieder und Inhaber eines Tour Passes) darf abstimmen, wer von den acht ausgeschiedenen Spielern doch erneut mitspielen darf. Das wird dann womöglich Firouzja, und dann sagt Chess24 „so hat das Publikum entschieden, wir machen nur Hype um ihn“.
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