November 27, 2024

Schockschwerenot!

Von Klaus-Jörg Lais – Jedes Wochenende ein anderes Hotel. Gar nicht so übel. Dass es von nun an immer so weiter ginge, war unwahrscheinlich, aber es war angenehm – keine Frage. Man kam gut rum im ganzen Land, sah‘ ne Menge und die Beziehung in der ich steckte, war alles andere als taufrisch, aber diese Art der Wochenendgestaltung legte eine angenehm weiche Watte über alles. Sich morgens über ausgedehnte Frühstückbuffets herzumachen, sich abends in den Pools das heiße Wasser übersprudeln lassen oder die Saunen nach ihren Duftnoten zu klassifizieren, war ein ausgezeichneter Zeitvertreib. Ich lernte, dass gute Hotelmatratzen mindestens 30 cm hoch sind, dass die Größe der Flatscreens mit dem Zimmerpreis stieg und obenauf gab es je nach Veranstaltung und Hotel richtig gut zu futtern. Meistens gingen die Getränke aufs Haus oder auf den Veranstalter. Das verstand ich ausgiebig zu nutzen. Aber der Lohn beschränkte sich auf diese Naturalien. Von Bezahlung konnte keine Rede sein. Es gab bestenfalls ein Taschengeld für den Job, über Schachturniere zu schreiben. Wenigstens kam ab und an was über die Honorare der Zeitungen rein, aber wenn ich jemandem erzählt hätte, was die paar Kröten an Stundenlohn bedeuteten, hätte mir das einfach keiner geglaubt. Und doch mochte ich es. Es passte einfach in diesen gut sechs Jahren, in denen ich für den Deutschen Schachbund unterwegs war und mit diversen Turnierveranstaltern abrechnete, die alle zumindest glaubten, darauf angewiesen zu sein, dass ihnen jemand die Turniere in die Zeitungen und auf die Internetseiten schreibt.

Der Job hatte noch einen weiteren Vorteil, denn ich hatte ausreichend Zeit, Deutschland besser kennenzulernen, als Andere Mallorca. Manchmal gab es auch organisierte Ausflüge, an denen ich teilnahm. In der Regel hing ich morgens samt Tageszeitung mindestens zwei Stunden im Frühstücksaal ab, danach ein Ausflug oder ein Spaziergang in der Stadt, dann fotografieren, ein paar Stunden schreiben und abends Buffet oder Menü, um sich anschließend an der Theke dem Alkohol zu widmen. Das war es im Großen und Ganzen – und es machte mich träge, gelangweilt und fett. In der ersten Zeit ging es noch, aber dann wiederholten sich die Reden, die Buffets, die Theken, die Saunen und irgendwann fing ich sogar an, die Dinge durcheinander zu bringen. War das gestern, als wir den Ausflug machten? Wieso kennen die meinen Namen an der Rezeption – war ich hier schon mal? Gab es hier nicht mal ’nen Whirlpool? Mit wem war ich morgen zum Interview verabredet? Wann war noch mal Redaktionsschluss?

Der Punkt, an dem ich merkte, dass ich an meinem Leben etwas ändern muss (bevor ich zum Rolf Töpperwien des Schachs mutiere) ereignete sich an einem Spätsommerabend auf der Dachterrasse eines Modehauses. Wir hatten die Simultanveranstaltung mit Anatoli Karpow hinter uns, die ich im Kaufhaus moderieren durfte. Ein Chauffeur brachte uns in einem fetten Benz hin. Man gab mir ein Mikro und ich lobte Karpow über den grünen Klee, stellte die Teilnehmer einzeln vor und kommentierte über mehrere Stunden launisch, was sich so auf den Brettern tat. Für das exklusive Modehaus ging es eigentlich nur darum, sich in Verbindung mit dem königlichen Spiel zu bringen. Wer konnte an einem Samstag in der City schon einen Weltmeister vorweisen, der live vor Publikum spielt? Für die Teilnehmer war es ein Highlight und für mich ein Taschengeld. Nur der Großmeister steckte ein fettes Honorar ein. Ich kannte ihn schon seit Jahren gut und hatte einige Interviews mit ihm geführt. Es war seine bevorzugte Art, über die Runden zu kommen und außer seiner Kunst hatte er mir vor allem voraus, noch schneller fett zu werden.

Jedenfalls, wir brachten die Show hinter uns und saßen nun auf der Dachterrasse in einem edlen Fischrestaurant, wo der Koch live für uns kochte. Es gab einen Restaurantchef, der irgendwie nur da war, um Chef zu sein. Dann gab es einen Oberkellner, der das Anrichten und die Tische vorbereitete und jede Menge an adretten jungen Damen in Kostümen, die das Essen und die Getränke servierten. Kurzum – ich war voll in meinem Metier als Gourmet in Teilzeitbeschäftigung. Als die Fischplatten kamen, versorgten sie zuerst den Russen, der sich umgehend daran machte, seine Delikatessen zu verspachteln, ohne auf die Anderen zu warten. Wir schauten ihm zu und leerten unsere Gläser. Als er fast fertig damit war, kamen die übrigen Teller und ich stellte fest, dass auf meinem ein zerteilter Oktopus lag, den ich auf gar keinen Fall essen würde. Nichts gegen einen gut gebratenen und fein zubereiteten Speisefisch mit leckeren Beilagen… aber diese als Meeresfrüchte gelobten Gummiteile waren nichts für mich. Ich winkte den Häuptling herbei, der dann den Oberkellner herbei winkte und der fand dann heraus, dass es der Teller des großen Meisters war, den man mir serviert hatte. Bloß hatte der inzwischen meine Portion weggeputzt. Dann zählte der Anführer den Oberkellner, der Oberkellner den Koch und alle gemeinsam drei von den Kostümkellnerinnen an. Es war plötzlich eine größere Versammlung äußerst besorgter und verärgerter Belegschaft zugegen; einfach nur, weil irgendwer daran schuld sein musste. Soviel musste einfach gesagt werden. Immerhin brachte mir das am Ende des Abends einen doppelten Aquavit vom Feinsten ein.

Es war halt so, dass Karpow Kohldampf hatte, also zog er sich’s mit der gleichen Selbstverständlichkeit rein, mit der ohne ihn die ganze Show nicht stattgefunden hätte oder mit der er einem Sechsjährigen am Nachmittag ein Matt in Vier angekündigt hatte. Ich orderte noch einen Zehn-Euro-Chardonnay und begann in Gedanken schon mal, mich damit zu beschäftigen, was ich in den Artikeln schreiben wollte. Zur Sicherheit notierte ich mir die Ergebnisse vom Nachmittag, die Namen aller, die genannt werden mussten und dachte darüber nach, ob es eine regionale Spezialität oder eine Sehenswürdigkeit gab, mit der ich eröffnen konnte. Wie war nochmal der Name des Bürgermeisters, der heute da war? Mein Blick verlor sich in den blinkenden Lichtern da draußen und dann, ganz plötzlich und ohne Vorwarnung, geschah es einfach.

„Wo bin ich eigentlich?“, fuhr es mir wie ein Blitz durch die Birne. „In welcher Stadt findet das hier statt? Himmelherrgott – wo bin ich?“ Panik überfiel mich. Mein Puls raste los. Ich versuchte, am Horizont irgendwas zu erkennen, was mir meinen Aufenthaltsort verriet. „In welches Hotel war ich eingecheckt? Versuch Dich zu erinnern, gab es ein Ortsschild, einen Hotelnamen, gibt es hier im Restaurant irgendwas, was Dir weiterhilft? Wer sitzt mit Dir am Tisch? Hilft Dir das weiter? Steht die Adresse in der Speisekarte?“ – es war wie der Moment, an dem die Achterbahn den höchsten Punkt überquert hatte. Ich raste hilflos einem Nichts entgegen. Der Kopf war leer. Alles war weg. „Was sollen die von mir denken“, dachte ich. „Ich kann die unmöglich fragen, wo wir gerade sind. Konzentrier‘ dich doch“, rief ich mir in Gedanken selbst zu und sah nach draußen. Da! Da war irgendwas am Horizont, was ich schon mal gesehen hatte. Ich fixierte den Punkt. Ein Turm. Ich sah mir die Silhouette an. Ich kannte ihn! Aber wo stand er? In welcher Stadt? Und dann endlich, nach quälend langen Sekunden, erkannte ich den alten Wasserturm als das Wahrzeichen Mannheims. Ich pustete hörbar durch. „Entschuldigen Sie die Wartezeit“, sagte der Mann neben mir. Es war der Chef, der Platz für den Oberkellner machte, der das Tischdeckchen gerade rückte, damit die Kostümdame den Teller abstellen konnte. „Ich wünsche Ihnen einen guten Appetit und genießen Sie Ihren Aufenthalt“, verfiel er ganz seiner Rolle – und ich war für die nächste Zeit heilfroh, keinen ansehen zu müssen.

So konnte das auf gar keinen Fall weitergehen, dachte ich. Gute 15 Kilo war ich jetzt schon schwerer, seit ich mich mit diesem Gourmet-Essen, dem professionellen Saufen an Hoteltheken und der Höhe von Hotelmatratzen beschäftigte. Ich machte mir klar, dass ich gerade vergessen hatte, weswegen ich hier war und das war kein beruhigendes Gefühl. In Watte eingepackt zu sein, lenkte mich von den wesentlichen Dingen ab. Anscheinend wurde die Rechnung immer größer, je länger ich mich weigerte, dafür zu zahlen. Eines Tages würde ich auch was bestellen und dann vergessen was es war, wenn es mir serviert würde. Nichts ist umsonst. An diesem Abend plünderte ich nochmal die Minibar auf meinem Zimmer, saunierte in Ruhe alle Schwitzkammern des Wellnessbereichs durch und machte mich am nächsten Morgen nach dem ausgiebigen Frühstück an die Arbeit. Ich suchte mir im Notizbuch die Seite mit dem richtigen Kalenderdatum und schrieb mir in fetten Lettern „MACH WAS ANDERES!“ auf – und das tat ich dann auch.

Quelle: http://www.wasissn.de/

Mit freundlicher Genehmigung von Klaus-Jörg Lais