Dabei hätte man – siehe Titelbild – Carlsen und Firouzja eigentlich disqualifizieren müssen: beide weit über das Brett gebeugt, damit weniger als 1,50m Abstand. Aber „Carlsen darf das“, und dann darf Firouzja es ausnahmsweise auch. Außerdem konnte das gewollte Armageddon-.Chaos auch mal zu zufälligen Berührungen der Hände führen.
Wie dem auch sei, zuerst der offizielle Endstand: Carlsen 19.5, Firouzja 18.5, Aronian 17.5, Caruana 15.5, Duda 9.5, Tari 3.5. Vier Spieler relativ dicht beieinander, dann zwei die zueinander und zu diesen vier Corona-Abstand respektierten. Entscheidend waren neben der Tatsache, dass Firouzja gegen Carlsen Schachgeschichte schrieb, unterschicdliche Ergebnisse in Armageddons. Dazu kam noch, dass im zweiten Duell Aronian-Caruana drei Ergebnisse möglich waren mit am Ende dem für den Armenier falschesten (das richtige für Carlsen und Firouzja).
Chess.com hatte dieselbe Idee, die ich auch hatte: Endstand nur aufgrund der Partien mit klassischer Bedenkzeit, das sieht dann so aus: Aronian, Carlsen, Firouzja 6.5/10 (beste Wertung für Aronian), Caruana 5.5, Duda 3.5, Tari 1.5. Da fehlt also noch die Armageddon-Wertung: Carlsen 3/3, Firouzja und Caruana 3/5, Duda und Tari 1/3, Aronian 1/6. Ursache bei Aronian: eher eigene als gegnerische Zeitüberschreitung oder schachlicher Selbstmord mit Weiß, da Remis ja auch verlieren würde.
Bevor ich wieder „Spieler für Spieler“ bespreche, erst allgemeine Foto-Eindrücke – für die Turnierseite (und für mich) hat wieder Lennart Ootes fotografiert.
Die Bühne in der letzten Runde, eine Entscheidung war schon zuvor gefallen
Noch mehr aus Zuschauersicht, was bringt es eigentlich den wenigen (und wohl geladenen) Zuschauern?
Und nun zu den Spielern:
Magnus Carlsen blieb nach seiner Niederlage gegen Duda am Ende der Hinrunde viermal in Serie ungeschlagen, mittendrin hing es gegen Caruana am seidenen Faden. Insgesamt gewann er trotz Schwächen in dynamischen Stellungen und auch Endspielschwächen. Wie bitte betrifft letzteres? Der Leser muss sich etwas gedulden, ich erkläre es dann.
Die direkte Revanche gegen Duda ein bisschen aus Versehen, ausgangs der Eröffnung sagte er im Beichtstuhl (confession box): „Ähm äh ich muss jetzt einen Bauern opfern – keine Ahnung, ob das gut ist“. Schließlich hatten seine Sekundanten es nicht für ihn analysiert, und generell macht Carlsen derlei nur dann. Es war spielbar, und nachdem der Pole einmal nicht die richtige Fortsetzung fand bekam der Norweger Oberwasser.
Schon sind wir bei Caruana-Carlsen:
Aus der Eröffnung heraus stand Carlsen verdächtig – wie er selbst einräumte war es eher Stellungsglück, dass es gerade so noch in der Remisbreite blieb. Armageddons ignoriere ich generell eher, kurz doch zu diesem: Caruana spielte grottenschlecht, Carlsen wusste mit dem geschenkten Vorteil nichts anzufangen aber mit Schwarz reichte ja remis. Am Ende überschritt Caruana die Bedenkzeit.
In Runde 8 dann der Pflichtsieg gegen Tari, eine Demonstration von Carlsens Patent ÄäImnmDdeF. Klingt genial, bedeutet nicht mehr und nicht weniger als „Ähm äh ich mach nichts mach Du doch einen Fehler“. Der d3-Spanier ist bekannt, dabei nicht allzu aggressiv, ehrgeizig oder ambitioniert. Tari wurde mit 14.-b4?! aktiv, schon hatte der nominell klar bessere Norweger positionelles Oberwasser. Da man Carlsen loben muss, wurde es als positionelle Meisterleistung bezeichnet, bei anderen Paarungen hätte eben der Favorit gewonnen.
Doping – Carlsen darf das. Wenn andere Spieler es auch durften wurde es nicht fotografisch dokumentiert.
Firouzja-Carlsen bekam bereits das Titelbild und nun noch eines:
Zu Carlsens Arsenal gehört, sich hinter den grübelnden Gegner zu stellen und ihm über die Schulter zu schauen. Hier hält er Corona-Abstand, es funktionierte trotzdem. Zur Partie: Nach 16 Zügen waren bereits jede Menge Figuren abgetauscht. Firouzja spielte schon zuvor laaangsaaam, machte das weiterhin und landete in einer schlechteren, aber objektiv haltbaren Stellung. 33.Tc3?, was die Bauernstellung am Damenflügel schwächte, war dann ein Zug eines Carlsen-Gegners. Carlsen widerlegte diesen Verlustversuch mit 36.-Sc1? – was zwar einen Bauern gewinnt aber nun war es wieder remislich.
Bis Firouzja mit Sekunden auf der Uhr 69.Kc3??????? entkorkte – Fernopposition im Bauernendspiel ist ein Konzept das viele kennen, er anscheinend nicht. Twitter-Kommentar von GM Tisdall:
It seems a lot of people are having trouble understanding: how objectively unbelievable the Firouzja blunder was; And how being shocked is not offensive, if anything, it is a reflection of how incredibly strong the kid has already proven to be. [Offenbar haben viele Probleme zu verstehen, wie objektiv unglaublich Firouzjas Patzer war. Darüber schockiert zu sein ist nicht beleidigend, eher ein Zeichen dafür, wie unglaublich stark das Kid bereits nachweislich ist.]
So stark, dass man elementare Bauernendspiel-Kenntnisse eigentlich voraussetzen kann, also vielleicht Elo 1800? Ich kann mich nicht daran, erinnern, dass ich so etwas jemals von einem (angehenden/potentiellen) Weltklassespieler gesehen habe. Einige haben schon einzügig Figuren eingestellt oder Matt übersehen, aber das ist eine andere Dimension und schreibt demnach Schachgeschichte.
Carlsen strahlte danach im Interview: „Die beste Partie meiner Schachkarriere, so einen tollen gegnerischen Fehler mache selbst ich nur selten!“. Nebenbei stand er damit bereits als Turniersieger fest, was bei Norway Chess nicht immer der Fall war.
War da noch was?
Vor der letzten Runde zelebrierten Carlsen und Aronian den perfekten Namaste – Aronian steht abstandswahrend etwas vom Tisch entfernt. In der Partie dann ein Turmendspiel – für Carlsen schlechter bzw. er musste eher genau spielen. Aronian nutzte seine Chancen vielleicht nicht optimal, dann dieser Moment:
Gleich wird Carlsen 50.Txf6? spielen – ein unwichtiger Bauer und ein entscheidender Tempoverlust, nun wurden schwarze Freibauern am Damenflügel unwiderstehlich. Carlsens Fehler überraschte Kramnik, mich nicht unbedingt: in schlechteren Endspielen – die er dabei eher selten auf dem Brett hat – ist der Norweger durchaus verwundbar.
Und hier ist die Partie vorbei.
Alireza Firouzja hat diesmal außer gegen Carlsen nicht verloren und punktete als einziger voll gegen die beiden vom Tabellenende – der formschwache Duda und der in diesem Turnier überforderte Tari. Außerdem drei Armageddon-Siege. Gegen Aronian profitierte der erfahrene Internet-Spieler zunächst von einem gegnerischen mouse slip am Brett: 42.-Tc2 war hübsch aber brachte nichts ein, viel stärker und siegbringend war das ebenfalls auf Gabelmotiven beruhende 42.-Tc3+. Dann die entscheidende Phase:
Ziehen ziehen ziehen, schnell schnell schnell – Stellung auf dem Brett eher Nebensache. Ab dem 40. Zug gab es eine Sekunde Inkrement – das reicht gerade für Zug ausführen oder auch nicht:
Ein Bild sagt mehr als tausend Worte – Aronian hatte mal wieder die Bedenkzeit überschritten.
Levon Aronian führte bei Halbzeit und schien drauf und dran, die Führung jedenfalls nach Runde 6 zu behalten.
Aber dann kippte die Partie gegen Caruana, letztendlich komplett. Weiß hatte eine starke Angriffstellung, der erste kritische Moment im 23. Zug: 23.Sg5 wäre logisch, 23.-Le8 darauf praktisch erzwungen, und nun berechneten beide zuerst 24.De3 Sd5 – nicht optimal aus weisser Sicht – und dann 24.Df3. 24.De2 und es wird auf e6 knallen – außer wenn Schwarz mit 24.-Txd4 eine Qualität spuckt – hatten sie nicht erwogen, sind diagonale Damenrückzüge (von d3) so schwer zu finden? Stattdessen kam 24.g4?! was auch den weissen König schwächt. Nun war es Engine-ausgeglichen, aber Aronian verlor danach komplett die Kontrolle. Es lag auch an extremer Zeitnot, schon ab dem 10. Zug hatte er viel Bedenkzeit investiert.
Lag es auch am relativ dezenten Hemd? Nicht unbedingt, ein ähnliches trug er auch in Runde 10 gegen Carlsen. Runde 7 gegen Firouzja (nebst auf einem Foto die dazu passende Hose) hatten wir bereits, trotzdem Niederlage im Armageddon.
Tags darauf verlor auch dieses Hemd im Armageddon gegen Duda.
„Attacke!“ gegen Tari auch auf dem Schachbrett, objektiv wildes inkorrektes Kaffeehaus-Schach. Gegen Tari wurde das dann Remis – in der Hinrunde hatte der Elo-Außenseiter aus ebenfalls, dabei aber weniger vorteilhafter Stellung gegen Carlsen verloren. Die zweite Partie Carlsen-Tari hatten wir ja bereits. Danach das unglaubliche: Aronian gewann souverän im Armageddon.
Die letzte Runde (Carlsen-Aronian 0-1) hatten wir auch schon. Per saldo immerhin 14 Elopunkte für Aronian, damit live-aktuell Platz 6 in der Weltrangliste. Dabei wird es wohl vorläufig bleiben, siehe unter „Wie geht es weiter?“. Firouzja hat sich um 21 Punkte verbessert, da Arpad Elo ihn auch für jedes Remis belohnte.
Fabiano Caruana ist für das amerikanische chess.com auch ein Medienliebling, daher nennen sie eine Ausrede für sein eher durchwachsenes Turnier: ständige Verhandlungen mit FIDE zum Thema Kandidatenturnier. Was da eigentlich verhandelt wurde und warum Caruana das selbst machen musste wird nicht erwähnt.
JK Duda erwischte ein schlechtes Turnier, auf der Habenseite nur ein Sieg gegen Carlsen.
Aryan Tari war überfordert, damit war zu rechnen. In zehn Runden hat er dreimal nicht verloren.
Wie geht es weiter? Vorläufig nicht mit dem Kandidatenturnier, das soll nun im Frühjahr 2021 stattfinden. Was da ausschlaggebend war ist schwer zu sagen. Bei der Terminplanung muss dann berücksichtigt werden, ob und wann China Ding Liren und Wang Hao ausreisen lässt. Außer wenn China Ausrichter wird, aber da könnte Caruana vielleicht nicht spielen – es sei denn, Donald Trump verliert und akzeptiert seine Wahlniederlage. Hmm, meine Corona-Terminplanung als Mannschaftsführer und Jugendleiter ist auch ohne internationale Politik schon kompliziert und notgedrungen flexibel genug!
Tata Steel Chess soll dagegen im Januar stattfinden, obwohl die Niederlande täglich mehr neue Corona-Fälle haben als das etwas grössere Deutschland. Laut Homepage auch mit Amateurturnieren („adapted format“). Näheres dazu zwar erst Mitte November, aber ich verrate schon einmal das kreative Konzept: Amateure spielen draussen am Strand – zu täglich wechselnden Zeiten, da nur bei Ebbe genug Platz ist. Regenschirme werden gestellt – noch arbeiten sie an einem Konzept, dass sie auch bei Windstärke 8 zuverlässigen Schutz bieten. [Nein – ich habe oder hatte zwar Kontakte zu den Organisatoren, aber das habe ich erfunden]
Davor gibt es ab November eine Neuauflage von Carlsens Internet-Turnieren, nun unter dem Namen Champions Chess Tour. Matthias Bluebaum spielt dieses Wochenende ein Qualifikationsturnier – im Fall des Falles könnte er danach kaum schlechter abschneiden als Aryan Tari bei Norway Chess.
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