Die sechste Runde hat zwar bereits begonnen, während ich diese ersten Zeilen tippe, aber die momentan seltene Chance zu einem Turnierbericht mit echten Fotos will ich mir nicht entgehen lassen. Es gibt zwei Gründe, warum Aronian das Titelbild bekommt: erstens seine bunten Hemden (weitere Fotos folgen), zweitens führt er bei Halbzeit. Nach einem schlechten Tag für den Buchstaben C – im Alphabet knapp hinter Aronian, in der Eloliste vor ihm, in der Norway Chess Tabelle nun mittendrin. Die Nummer 1 und 2 der Weltrangliste verloren in Runde 5, und zwar auf ähnliche Art und Weise.
Damit steht es momentan so: Aronian 11, Firouzja 10, Carlsen 9, Caruana 7, Duda 4, Tari 1,5. Bericht diesmal Spieler für Spieler statt Runde für Runde.
Zuvor der übliche Hinweis, dass Fotos von der Turnierseite stammen, fotografiert hat Lennart Ootes. Zunächst einige zum Corona-Drumherum:
Bei der Eröffnung wurden Abstandsregeln in etwa eingehalten. Carlsen hält am meisten Abstand und sitzt nahe an der Leinwand, damit er Infos z.B. zur Zeitkontrolle nicht verpasst. Die ist wieder etwas eigenwillig: 2 Stunden für die gesamte Partie mit nur 10 Sekunden Inkrement erst ab dem 41. Zug. Eine andere Norway Chess Spezialität ist ja Armageddon nach jeder Remispartie.
Die in Norwegen, teils auch anderswo, unvermeidliche isklar-Flasche hat Konkurrenz. Verwechslungsgefahr besteht eher nicht – dabei hat es auch kaum Konsequenzen, wenn man Brett, Figuren usw. aus Versehen mit Wasser desinfiziert.
Weiß beginnt demnach mit einer Mehrfigur, und antibac ist eines der Logos im Hintergrund. Neu ist offenbar auch chess24, wo Familie Carlsen finanziell beteiligt ist.
Die Uhren werden desinfiziert,
und auch die Figuren – dieses Foto wegen der langen Haare der Schiedsrichterin im Hochformat. Nun aber hinein ins Geschehen:
Levon Aronian
Hemd in Runde 1 siehe Titelbild. Die Partie mit klassischer Bedenkzeit gegen Carlsen hat kaum stattgefunden, dann gewann der Norweger im Armageddon.
Hemd in Runde 2. Da machte er das, was fast alle machten: Sieg gegen Aryan Tari.
Es lag also nicht an der farblich zum Hemd passenden Hose.
Hinterher noch ein Ständchen für ihn, da er an diesem Tag seinen 38. Geburtstag feierte.
Runde 3, was ist das denn? Na wenigstens ein eher buntes Jackett. Aronian gewann gegen Duda, der nach zwei Auftaktniederlagen mit Weiß konsequent auf Remis spielen wollte. Aber das kann der polnische Dynamiker eher nicht. Das Turmendspiel verlor er dann im Stil eines Carlsen-Gegners.
Auch in Runde 4 waren Firouzjas Bemühungen, ein buntes Aronian-Hemd mit dezenten Tönen zu neutralisieren, nicht nötig. Auf dem Brett: Remis mit klassischer Bedenkzeit in noch etwas unklarer, nicht total ausgekämpfter Stellung. Wechselnde Chancen im Armageddon, am Ende objektiv Remis (was Firouzja mit Schwarz gereicht hätte) und Aronian überschritt offenbar die Bedenkzeit.
Runde 5: Zeit für wieder ein Siegerhemd! Auf dem Brett die Konturen der Eröffnung (Nimzo-Indisch mit 4.f3), der Gegner hieß Fabiano Caruana. Der Italo-Amerikaner (mitspielen darf er, weil er noch einen italienischen Pass hat) musste später eine Qualität opfern/spucken. Kompensation hatte er, dann kam sie ihm abhanden und Aronian gewann das Endspiel.
Ein Blick in mein Fotoarchiv verrät übrigens, dass Aronian letztes Jahr einfarbige Hemden im Reisegepäck hatte: einmal leuchtendes hellgrün, einmal violett, lila oder was auch immer. Er ist eben unberechenbar.
Alireza Firouzja
spielte mit klassischer Bedenkzeit dreimal Remis und gewann gegen die Kellerkinder Duda und Tari. Außerdem zwei Armageddon-Siege, nur gegen Carlsen überschritt er die Bedenkzeit – sein Versuch, ein Remisendspiel auf dem Brett zu verlieren, scheiterte daran. Zuvor stand er glatt auf Gewinn, konnte aber den Sack nicht zumachen.
Besser als seine Online-Auftritte, allzu aussagekräftig ist es ansonsten nicht unbedingt. Anderswo die mittlerweile üblichen Jubelarien für den neuesten Medienliebling.
Magnus Carlsen
Jubelarien auch für den etablierten Medienliebling, selbst am Tag nach einer Niederlage, aber der Reihe nach:
Carlsen betete vor jeder Partie, was ist das denn? Neue Idee seiner PR-Berater? Erst kopiert Wesley So Carlsens Spielweise, nun kopiert der Norweger den Amerikaner mit philippinischen Wurzeln? Oder es ist Teil seines Desinfektions-Rituals – wer da so gewissenhaft vorgeht, kann dann andere Corona-Regeln verletzen (siehe unten).
In den ersten Runden wurde meine Theorie bestätigt, warum Norway Chess Armageddon einführte: um die Chancen ihres Lieblings, der im Laufe der Jahre zuvor wechselhafte Resultate hatte, zu verbessern. Remis gegen Aronian und Firouzja, dann jeweils Sieg im Armageddon. Da andere mit klassischer Bedenkzeit gewannen, würde das auf Dauer aber eher nicht für den Turniersieg reichen. Also besiegte er dann seinen Landsmann Aryan Tari, wenn auch auf Umwegen. Aus der Eröffnung heraus (ein Richter-Rauzer Sizilianer) stand er schlecht, 18.-exf5?!? war, Weltmeister oder nicht, positioneller Schrott mit vertripelten f-Bauern. Aber der klare Elo-Außenseiter verlor dann den Faden, und Carlsen gewann im Gegenangriff.
Das hätte tags darauf wohl nicht funktioniert, also wieder Ähm Äh Schach – Ball flach halten, nichts riskieren, auf gegnerische Fehler warten:
Und das funktionierte gegen seinen alten Bekannten Fabiano Caruana. Früher Damentausch, und dann gegnerische Fehler: 25.-c3?! war wohl unnötig und kostete einen Bauern, 30.-Tc6? erlaubte den Vorstoß des nun weissen c-Bauern, 39.-e5? kostete einen weiteren Bauern. Wenn Schwarz so viel falsch macht muss man nicht untersuchen, was Weiß richtig und toll gemacht hat.
Tags darauf ging es allerdings, wie dieses Foto richtig suggeriert, bergab für den Norweger.
Gegner war JK Duda, der zuvor ein Remis gegen Aryan Tari erzielt hatte. Carlsens Hand mitten im Gesicht, was die Corona-Polizei an sich nicht erlaubt. Aber wenn bei anderen Geldstrafen oder gar Punktabzug fällig würden, dann gilt sicher die Sonderregel „Carlsen darf das“.
Hinterher auch noch ein Händedruck – gut, daran sind beide beteiligt.
Zur Partie, teils hatte ich es bereits: Caruana Carlsen brachte ein Qualitätsopfer, korrekt und mehr oder weniger erzwungen. Und dann kam ihm die Kompensation für die Qualle abhanden. Zuvor wählte Carlsen eine provokative Caro-Kann Nebenvariante und es entstand eine scharfe Stellung mit heterogenen Rochaden – eher Dudas Domäne, auch wenn bei ihm zuvor im Turnier gar nichts lief. Man konnte lesen, dass die Partie bis zum Schluss spannend war: ab 34.Txb8 – nun hatte Weiß (Duda) zwei Türme für einen Läufer – war eigentlich nur noch spannend, wann Carlsen denn endlich aufgibt. Nach 63 Zügen – auch noch Damenverlust für Schwarz – war es dann soweit. Damenverlust ging aus schwarzer Sicht schon zuvor – Carlsen hatte eine etwas ungewöhnliche, aber simpel-forcierte Kombination übersehen und gab im 34. Zug lieber einen (weiteren) Turm.
Ein paar Schachgebote hatte er danach, und Dudas Bedenkzeit war knapp – dennoch erinnerte es mich an Partien von U10-Spielern. Einen anderen Grund hatte es wohl: Carlsen wollte noch einige Minuten bis Stunden länger ungeschlagen bleiben. Zuvor hatte er das in 125 Partien geschafft, was auf den einschlägigen kommerziellen Seiten auch danach ausgiebig bejubelt wurde.
Ein Carlsen-Interview danach offenbar nur auf Norwegisch, vielleicht sagte er „Ähm äh dynamisches Schach kann ich nun einmal nicht“.
Duda hatte dagegen gute Laune, war zuvor im Turnier eher nicht der Fall. Aber der nächste in der Rubrik „Spieler für Spieler“ ist
Fabiano Caruana
Er gewann anfangs gegen die beiden Kellerkinder, dann Remis und glatte Armageddon-Niederlage gegen Firouzja, dann zwei Nullen gegen Carlsen und Aronian.
JK Duda
Zunächst lief es für ihn – Nachrücker für Anish Giri, der seine Einladung nicht akzeptiert hatte – gar nicht. Er bezeichnete dieses Turnier als das schlechteste seiner Karriere. Dann die fünfte Runde gegen Carlsen. Nachholbedarf hat er weiterhin.
Aryan Tari
Klarer Elo-Außenseiter und damit erwartungsgemäß Letzter im Turnier.
Wie geht es weiter? Bei Norway Chess dieselben Paarungen mit vertauschten Farben, wobei Runde 6 direkt die umgedrehte Version von Runde 5 ist. Danach nach derzeitigem Stand ab dem 1. November die zweite Hälfte des Kandidatenturniers, nach derzeitigem Stand wieder in Jekaterinburg. Aber FIDE hat, genau wie die bayerische Schachjugend bei KO-Runden der U12-Mannschaftsmeisterschaft, einen Plan B: Reserve-Ausrichter ist Tiflis. Kurz nachdem das Anfang September angekündigt wurde stiegen dann auch in Georgien (zuvor nahezu verschont) die Corona-Fallzahlen, offenbar gab es ohnehin auch noch einen (allerdings geheimen) Plan C.
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