November 27, 2024

Aeroflot, Dortmund und der Buchstabe K

Dortmund ist dieses Jahr ein Stammspieler, dessen Nachname mit K beginnt, abhanden gekommen – wer wird Kramnik ersetzen? Inzwischen ist klar, dass es nicht Karjakin sein wird – er spielt im Juli (etwas überlappend, es sei denn er scheidet im KO-Verfahren zuvor aus) beim FIDE Grand Prix in Jurmala und Riga. Aber nun bekommen sie einen Spieler, mit dem man kaum rechnen konnte, nach Elo ist er auch nach diesem Turnier noch etwas schlechter als heutzutage Karpov, dafür hat er das K gleich doppelt: Kaido Kulaots.

Der Leser kann selbst entscheiden, ob er meine Spielereien mit dem Buchstaben K klasse findet oder Klamauk – es wird noch etwas weitergehen aber zunächst der Endstand beim Aeroflot Open: Kulaots und Martirosyan 7/9, Sasikiran 6.5, Wang Hao, Wei Yi, Chigaev, Inarkiev, Sarana, Anton Guijarro 6, usw. – 15 Spieler mit 5.5/9 nenne ich nicht mehr alle. Der Russe IM Sychev ist wohl nicht allzu traurig, dass er in der Setzliste einen Platz vor und in der Abschlusstabelle achtzehn Plätze hinter Kulaots landete – immerhin erzielte er eine GM-Norm, wie auch weitere Spieler: der Usbeke Yakubboev, der Chinese Xu Yi, der Inder Sadhwani und mit Punktlandungen wohl auch Sargsyan aus Armenien und Tsydypov aus Russland.

Von den bekannten jungen Spielern überzeugten Abdusattorov und Nihal Sarin ohne Vorbehalte, Praggnanandhaa zeigte in Bezug auf seine Elozahl Normalform, Gukesh diesmal nicht. Aus deutscher Sicht: Svane (4.5/9) und Donchenko (4/9) am Ende beide mit Elo-normalen Ergebnissen, zwischenzeitlich sah es besser aus.

Und nun wieder K: Für eine Reihe der Elofavoriten wurde Aeroflot eine zumindest kleine Katastrophe. Das gilt nicht für die Chinesen Wang Hao und Wei Yi, auch nicht für Korobov, aber Fedoseev, Mamedov, Dubov und Kovalev landeten auf Platz 39, 40, 42 und 42 (die letzten beiden nach allen Wertungen genau gleichauf), der an acht gesetzte Tamir Nabaty direkt dahinter hat sich von Elo 2700 wieder etwas entfernt. Fedoseevs Elopolster reichte für die weitere Mitgliedschaft im Club, Mamedov, Dubov und Kovalev hatten zuvor 2703 und haben jeweils zwölf Punkte verloren. Nach fünf Runden schrieb ich, dass Sasikiran „wenn er annähernd so weiter macht“ Elo 2700 knackt, aber 1.5/4 war deutlich schlechter als zuvor 5/5, also hat er nun nur oder immerhin Elo 2690.

Sogar der russische Schachverband, wieder Foto-Lieferant, machte bei den K-Spielereien mit: Fotografiert haben die bekannte Eteri Kublashvili (Titelfoto zeigt Kulaots) und der mir total unbekannte Mohammad Kheirkhah (Foto später im Text). Und nun Runde für Runde ab der sechsten:

Runde 6 – vorne fast alles remis, darunter Tabatabaei-Sasikiran, Kulaots-Chigaev und Zho Jianchao-Martirosyan. An Brett 2 und 3 logisch, der Este Kulaots und der Armenier Martirosyan gewannen nur, und dabei immer mit Schwarz bzw. Weiß. Die Auslosung hat dies beiden ermöglicht, das direkte Duell in Runde 4 war Kulaots-Martirosyan 1/2.

Zu einigen Partien, die nicht remis endeten: Antipov – Wei Yi 0-1 begann mit 1.b3 e5 2.Lb2 Sc6 3.e3 g6 4.h4, was ist das denn? Es funktioniert offenbar nur im Blitz, und auch da nur gegen Dubov – Artemiev-Dubov 1-0 und Jobava-Dubov 1-0, gegen Le Quang Liem und Svidler verlor der b3-Spezialist Jobava dagegen. Der ehemalige Junioren-Weltmeister Antipov hat eventuell darauf beruhende Erwartungen eher nicht erfüllt, kreativ spielt er oft aber mitunter ist es kreativer Schrott. Wei Yi musste eigentlich nur normale Züge machen, um in 22 Zügen zu gewinnen.

Wang Hao – Svane 1-0 war beiderseits kreativ, nicht von Anfang an aber ab ca. dem 15. Zug: bei figurenvollem Brett verzichteten beide auf die Rochade (15.Ke2, 23.-Ke7). Rasmus Svane stand dabei zumindest nicht schlechter, bis zum vielleicht kuriosen Eigentor 28.-a5? – das verstärkte die Wirkung des vom Gegner vielleicht ohnehin geplanten 29.Dc3, nun war es Doppelangrif auf a5 und g7. So waren beide Chinesen potentiell wieder im Rennen um den Turniersieg. Die 2700+ Spieler an den nächsten drei Brettern erzielten 0.5/3 und waren damit noch gut bedient: Dubov-Donchenko 0-1 1/2 wurde fast zum definitiven D-Day für den Russen (neben Klamauk kann ich auch dumme Sprüche). Einen Bauern hatte er wohl geopfert, Engines glauben dabei nicht an weisse Kompensation. Einen zweiten hatte bzw. hätte er wohl eingestellt, aber Donchenko sah das auf Grundreihen-Motiven beruhende 20.-Lxb2! nicht und so wurde es später remis. Dagegen Petrosian-Kovalev 1-0 und Narayanan-Mameddov 1-0.

Zu Runde 7 zunächst ein Foto:

Es zeigt Martirosyan (mit Banane), ihm gegenüber Sasikiran, daneben Kulaots und mit Bart und Karohemd Tabatabaei. Der beugt sich wie Sasikiran so weit über das Brett, dass Wang Hao auch noch sichtbar ist. Der Iraner Tabatabaei war am Ende wertungsbester von vielen mit 5.5/9.

Noch hielten Martirosyan und Kulaots sich an die jeweilige Farblogik, also Martirosyan-Saskiran 1-0! und Wei Yi-Kulaots 0-1! Im ersten Fall bezieht sich das Ausrufezeichen auf das Turnier bis dahin, im zweiten Fall auf den Elo-Unterschied von fast 200 Punkten zu Ungunsten des Schwarzspielers. Sasikirans Königsinder war wohl ohnehin etwas verunglückt, dann gab er eine Qualität und versäumte, sich diese zurück zu holen. Dann stünde er schlechter, so stand er schlechter und hatte eine Qualität weniger – das war auf Dauer hoffnungslos. Kulaots kann man keine Absicht unterstellen, mehrfach war er mit einer Zugwiederholung einverstanden – Wei Yi wollte mehr und bekam weniger. Dabei hatte David Llada ihn auf Twitter gerade für die tollen Siege zuvor „vor allem“ gegen Antipov und Fier gelobt. Die Partie gegen Antipov hatten wir gerade, gegen Fier spielte er ein durchaus schönes, aber objektiv nur Remis einbringendes Damenopfer. Wei Yis dritter Sieg gegen Esipenko war eher im Stil von Carlsen: der Gegner vergeigte ein Remisendspiel.

Da Sasikiran zuvor einen vollen Punkt Vorsprung auf alle hatte und da sich Chigaev und Tabatabaei an Brett 3 nach 15 Zügen remiseinig waren, führte nun mit Kulaots, Sasikiran und Martirosyan ein Trio, so nach Wertung sortiert.

Aus deutscher Sicht: Donchenko erlitt mit Weiß gegen Inarkiev Schiffbruch, überhaupt würde ihm der Buchstabe I nicht schmecken aber da greife ich etwas voraus. 12.Sh3? war eine ungewöhnliche Version von „Springer am Rand ….“ – bestraft wurde es mit 12.-Lxh3! 13.Lxh3 d5! und ab hier hatte Schwarz Oberwasser. Svane-Stupak wurde remis, damit war er wieder punktgleich mit Donchenko.

Aus indischer Sicht: Nihal Sarin-Praggnanandhaa 1-0 – lange zeichnete sich an Remis ab, dann war Praggnanandhaas Endspielschwäche partieentscheidend. Formal war 55.-e5 der entscheidende Fehler (Pragg bekam danach noch eine Chance, die er nicht nutzte), aus praktischer Sicht wohl direkt davor 54.-Sc2 – Abseitsstellung für den Springer statt Sicherheit mit 54.-Sc6. Man konnte lesen, dass es dieses Duell „noch oft“ geben wird. Dafür müssten beide in die Weltelite vorstossen, kann passieren aber muss nicht sein. An Brett 30 eines offenen Turniers kann es natürlich passieren, wenn die Auslosung es so will.

In Runde 8 wieder vorne vor allem Remis, Sasikiran-Kulaots und Martirosyan-Sarana trotz der jeweiligen Farbverteilung und jeweils ohne grössere Aufregungen. Zur Verfolgergruppe aufschliessen konnten Wang Hao und Khismatullin mit Weißsiegen gegen Firouzja (dieser junge Iraner hatte kein schlechtes, aber auch kein besonders gutes Turnier) und Fier.

Die deutschen Spieler nicht mehr an den vordersten Brettern, Elo 2600 für Donchenko vs. 2599 für Svane hatte Auslosungs-Konsequenzen. Donchenko war gerade so in der oberen Elohälfte der Gruppe mit 3.5/7 und bekam mit IM Inyan eine „lösbare“Aufgabe. Mit Schwarz stand er auch besser, aber wohl meistens nicht gut genug. Gewinnchancen hatte er laut Engine-Orakel im 85., 90. und 98. Zug, nach 111 Zügen war das Remis unterschriftsreif. Svane bekam dagegen Kovalev, der doch noch eine Partie gewinnen wollte und selbiges mit Schwarz schaffte.

Runde 9: Da das Führungstrio bereits komplett gegeneinander gespielt hatte, wurden alle heruntergelost und es gab diese Paarungen: Sasikiran (6) – Wang Hao (5.5), Petrosian (5.5) – Martirosyan (6) und Kulaots (6) – Khismatullin (5.5). Drei dieser Spieler mussten für eine Chance auf den Turniersieg auf jeden Fall gewinnen, die drei anderen je nachdem was die Konkurrenten machen.

Schnell war klar, dass das Spitzenbrett friedlich enden würde: Sasikiran wählte gegen Berlinerisch die Baldrian-Variante 5.Te1. Die Stellung nach 12.Dxe1 gab es schon oft, auch auf sehr hohem Niveau, aber nur ein Schwarzspieler mit Elo über 2700 schaffte es, das zu verlieren: Kramnik dieses Jahr an der Küste in Wijk aan Zee gegen Nepomniachtchi, bezeichnend für das letzte Turnier des Ex-Weltmeisters. Wer schafft es als nächstes? Wang Hao schaffte es nicht.

Der mitdenkende Leser weiss bereits, dass Martirosyan und Kulaots trotz der jeweils falschen Farbe gewannen. Martirosyan wählte einen italienischen Dialekt ohne Rochade, dafür mit Bauern auf h5 und g4. Petrosians entscheidender Fehler im 22. Zug, da befand er sich offenbar bereits in starker Zeitnot. Kurz vor Schluss konnte er immerhin Matt drohen, aber erst war der Gegner dran und setzte Matt (bzw. Weiß gab rechtzeitig zuvor auf).

Kulaots-Khismatullin dauerte länger, eine der letzten Partien des gesamten Turniers. Der (vor)entscheidende Moment im 32. Zug: beide hatten einen einzugsbereiten Freibauern, und Khismatullin spielte das durchaus plausible 32.-De5+ nebst 33.-Dxc7 – aber sein eigener Freibauer auf e2 verschwand ebenfalls, und übrig blieb ein für Weiß besseres Damenendspiel. Richtig war 32.-Te8 nebst dem unvermeidlichen 33.-e1D, dann hat Weiß zwei Remiswege: entweder direkt Dauerschach geben oder 33.Df4!? e1D 34.axb7 – dann sind zwei Bauern auf der siebten Reihe genug Kompensation für die zweite gegnerische Dame, Engine-Urteil 0.00. So wurde es 1-0 nach 76 Zügen, kurz zuvor war es für Engines zweimal wieder fast ausgeglichen. Falls Martirosyan diese Partie (im Turniersall oder im Hotelzimmer) verfolgt hat, hoffte er jedoch vergeblich auf ein Wunder, und beide wird Dortmund wohl nicht einladen.

Da Sarana und Chigaev Remis spielten (80 Züge, voll ausgekämpft aber immer das logische Ergebnis der Partie), wurde Sasikiran immerhin noch alleiniger Dritter. Boden gut machen konnten Inarkiev, Wei Yi und Anton Guijarro mit Weißsiegen gegen Tabatabaei, Yuffa und Petrosyan (nicht mit Petrosian zu verwechseln). Wei Yi konnte sich noch einmal im Angriff austoben – nach Elo 2561 und 2589 hat er auch Elo 2578 in diesem Stil besiegt, überbewerten sollte man derlei Erfolge gegen die dritte Garnitur nicht, so sehe ich es.

Aus deutscher Sicht: Boden verloren hat Donchenko durch Niederlage mit Weiß gegen Iturrizaga, Boden gewonnen dagegen Svane mit Schwarzsieg gegen FM Gavrilescu. Wie eingangs bereits erwähnt, so war es am Ende ein „normales“ Ergebnis für beide.

Wie geht es weiter? In Moskau morgen mit einem wohl stark besetzten Blitzturnier (dafür hat vielleicht auch Karjakin Zeit). Dann ist im März international-weltweit jede Menge los, durch verschiedene Zeitzonen kann man sich den ganzen Tag mit Schach beschäftigen: langes Bundesliga-Wochenende, Rundenturniere in Prag und Saint Louis, Mannschafts-WM in Astana/Kasachstan. Geht bei mir nicht, da ich am Wochenende wieder selbst schachlich aktiv bin und unter der Woche arbeite.