Nun ist die Magnus Carlsen Chess Tour Geschichte. Ob sie in die Schachgeschichte eingehen wird, das wird sich irgendwann zeigen – vielleicht wird es nur eine Fussnote: „das gab es eben, weil Corona richtiges Schach verhinderte“.
Dazu passte, dass die beiden grössten Corona-Profiteure im Finale des Finales standen – daneben waren Carlsen und Nakamura ja Favoriten, Opportunisten und Medienlieblinge. Ganz zu Beginn der beiden Halbfinales schien es anders zu laufen. Das Finale ging dann über die volle Distanz von sieben Matches, achtundzwanzig Schnellpartien, außerdem achtmal Blitz und zweimal Armageddon. 28 Schnellpartien empfanden beide allerdings als zuviel, daher haben einige nicht stattgefunden. Passend, dass das letzte Match unentschieden endete – aber da Carlsen im Armageddon Schwarz hatte gewann er so die von ihm nach sich selbst benannte Turnierserie.
Ich machte ja keinen Hehl daraus, dass ich lieber ein bis zwei andere Spieler im Finale gesehen hätte. Nakamura besiegte Dubov dann vom Ergebnis her souverän, Carlsen machte im Prinzip fast dasselbe mit Ding Liren. Entscheidend war dabei selbst für Carlsen-Verhältnisse unglaublicher Dusel in der entscheidenden Blitzpartie – eigentlich „stand bereits fest“, dass dieses Match über die volle Distanz gehen würde.
Aber zuerst zu Nakamura-Dubov. Im ersten Match schien Nakamura bereits fast mausetot: die erste Partie hatte er, nach einer Neuerung für den Papierkorb im 10. Zug, in 17 Zügen verloren. Und auch in der zweiten Partie stand er auf Verlust, aber dann verwandelte Dubov eine Gewinn- in eine Verluststellung. Anschließend entkorkte Dubov U12-Schach: Dame nach h5, das wird schon irgendwie Matt werden – wurde es nicht, er wurde recht locker ausgekontert. Unter Siegzwang schaffte er es, Nakamura mit Schwarz im Endspiel zu überspielen – Ausgleich und Blitzen. Entscheidend war dann Dubovs 35.-b4??? in der zweiten Blitzpartie – mal abgesehen davon, dass es einen wichtigen Bauern einstellte sehe ich die Idee dahinter rein gar nicht, eben ein impulsiver Zug. So konnte Nakamura ein Endspiel, in dem er zuvor eher schlechter stand, gewinnen – und damit das gesamte erste Match.
Die beiden weiteren Matches fasse ich kürzer zusammen. Hinterher lobte Nakamura den Opportunisten Nakamura: „Ich habe schnell gespielt, Komplikationen möglichst vermieden, keine eigenen Fehler gemacht und gegnerische Fehler ausgenützt. Ich bin stolz auf mich.“ [keine wörtliche Übersetzung des englischen Originals] Tatsächlich gewann er insgesamt sechs Partien, davon immerhin eine aus eigener Kraft – Plan entwickeln und umsetzen: in einem Sveshnikov-Sizilianer konnte Dubov den gegnerischen b-Freibauern nicht dauerhaft kontrollieren. Zweimal gewann er, weil Dubov zu wild auf Angriff spielte, dreimal weil der Russe plötzlich den Faden verlor.
Carlsen-Ding Liren: da hat der Außenseiter das erste Match gar gewonnen, und war auch im vierten auf der Siegerstraße – da dann aber eine unglaubliche Reifenpanne. Der Reihe nach: Gleich zu Beginn zerlegte der Chinese Carlsens Najdorf-Sizilianer, aber Carlsen konnte mit seinem geliebten ähm äh London-System ausgleichen. Im weiteren Verlauf überschritt Carlsen zweimal die Bedenkzeit, das erste Mal griff aber „es gibt Regeln für alle, und Ausnahmen für Carlsen“. Die ganze Welt hatte Dings 26.Te2 gesehen, Carlsen aber offenbar nicht – so wurde es jedenfalls dargestellt und als Serverproblem definiert, nach einer längeren Pause wurde die Partie fortgesetzt. Das wurde Remis, zunächst für Carlsen und dann für Ding Liren war mehr drin. Die vierte Schnellpartie – 5.Te1 gegen die Berliner Mauer, Abtauschorgie, Remis – ist hiermit erwähnt. In der ersten Blitzpartie akzeptierte Carlsen, dass er die Bedenkzeit überschritt, und konnte danach erneut ausgleichen. Im fälligen Armageddon fand Ding Liren eine aktive Methode gegen Carlsens London-System, dominierte und gab dann Dauerschach – Remis reichte ihm ja.
Das zweite Match: In der ersten Partie wählte Ding Liren merkwürdigerweise eine Nebenvariante mit frühem Damentausch, derlei mag Carlsen doch? Objektiv falsch war es nicht, aber dann verlor er den Faden. Die zweite Partie wogte hin und her, bis Ding Liren am Ende – jeweils nach reiflicher Überlegung – den Doppelfehler 35.c5? und 36.Tb8? beging und direkt aufgab. Danach noch ein Plusremis für Carlsen – Ausgleich im Match.
Im dritten Match übernahm Carlsen die Führung, warum? Erstaunliche Duplizitäten der Ereignisse betrifft Vergangenheit und Zukunft. Zweimal gewann er, erst gegen und dann mit Najdorf-Sizilianisch. Mit Schwarz schenkte Ding Liren ihm ein Tempo: 12.-b6 und dann 14.-b5, vielleicht inspiriert von Gelfand bei Legends of Chess. Carlsen bekam eine vielversprechende Angriffsstellung, machte den Sack aber nicht zu – nicht 27.Txf7+! sondern 27. ähm äh Tf3. Sein Vorteil war danach dahin – macht nichts, dann vergeigt der Gegner eben ein Endspiel. Ab 39.-Sd4?! (39.-Sc5=) machte Ding Liren quasi alles falsch, was man falsch machen kann. Ungleichfarbige Läufer waren zum Schluss irrelevant, da Carlsen de fakto eine Mehrfigur hatte: sein König war nahe am Geschehen, der gegnerische nicht.
In der dritten Partie war Carlsens 19.-Db7 (Duplikat kommt gleich) falsch, wie er selbst hinterher zugab: nach 20.Sb3 hätte Weiß Oberwasser. Aber nein, 20.c3? was zwar -b4 vorläufig verhindert aber das Carlsen-Opfer 20.-Lxa3! erlaubt. Carlsen opfert doch nicht?! Nun, erstens war es offensichtlich, zweitens war es kein Opfer – er bekam auf jeden Fall Turm und zwei Bauern für zwei Leichtfiguren. Dazu kam es dann jedoch nicht, aber der weiße König wurde total entblösst.
Das vierte Match begann vielversprechend für Carlsen, da Ding Liren in der ersten Partie in einer Anti-Moskauer Nebenvariante falsch spielte. Das war die gute Nachricht für den Norweger, weitere folgten zunächst nicht. In der zweiten Partie kassierte er eine kräftige Tracht schachliche Prügel. In der dritten Partie stand er im von ihm selbst zielstrebig herbeigeführten Endspiel schlechter, aber wohl nie schlecht genug um das zu verlieren. Aber in der vierten Schnellpartie hat Ding sicher den Sieg verpasst. Nach Remis in der ersten Blitzpartie in der zweiten ein absurdes Ende dieses, und damit des gesamten Matches: Carlsens 25.-Db7? war (wieder) falsch, taktisch verwundbar ist Carlsen nun einmal – 26.Lxa5! und tschüss für Schwarz? Nein, diese Kombination gewann zwar Material (zwei Figuren für einen Turm) aber öffnete die a-Linie. Ding passte nicht auf, Carlsen konnte da eindringen und die Partie komplett drehen – ohne 25.-Db7? 26.Lxa5! usw. wäre das nie und nimmer passiert, 25.-Db7? wurde so ein „winning blunder“.
Damit standen Carlsen und Nakamura im Finale. Beim obigen Zitat erwähnte Nakamura auch, dass es einen noch besseren Opportunisten gibt als ihn selbst – ohne einen Namen zu erwähnen, aber gemeint war sicher Carlsen.
Carlsen-Nakamura 4-3: Abwechslungsreich war es, generell gewannen beide abwechselnd, oft wurde Schach gespielt aber mitunter auch geräuschlos Remis. Das erste Match war im Nachhinein einmalig: Was passiert, wenn zwei Opportunisten den offenen Schlagabtausch suchen? Es geht drunter und drüber! Die erste Partie – Najdorf-Sizilianisch mit dann frühem Damentausch (so ist Carlsen nun mal drauf) – war noch auf recht hohem Niveau. Mal abgesehen davon, dass Carlsen nach 24.Le2! in der Beweispflicht wäre, dass sein Bauernopfer korrekt ist (zuvor hatte bei Legends of Chess Svidler gegen Carlsen eine Variante mit Le2 übersehen), aber Nakamura wählte 24.Lb6?! was dann eine Qualität kostete. Die gab Carlsen zurück, übrig blieb ein Remisendspiel – zu remislich, dass Nakamura einen Fehler machen konnte, also remis.
In der zweiten Partie gab Carlsen eine Qualität, bekam dafür sehr gute Kompensation aber machte daraus nichts – es war eben nicht sein Stellungstyp. Im Endspiel hatte er dann im Remissinne Kompensation, aber vergeigte das im Stil eines Carlsen-Gegners. In der dritten Partie hatte Nakamura Oberwasser, bis er mit 30.Lb6? (hatten wir das bereits?) einen Bauern einstellte. Gut stand er weiterhin, Carlsen gab dann eine Qualität, wohl um im Trüben zu fischen. Nakamura erlaubte unnötigerweise schwarzes Gegenspiel und nutzte auch spätere Chancen im Endspiel nicht – remis.
Die vierte Partie war dann Carlsen-typisches ähm äh Schach. Etwas bzw. optisch besser stand er, aber objektiv war es sicher immer in der Remisbreite und wurde remis.
Hinterher meinte Nakamura, dass kompliziertes Schach ihm eher liegt als Carlsen. Da mag was Wahres dran sein: Nakamura ist ursprünglich Dynamiker und wurde erst später Opportunist, bei Carlsen ist es umgekehrt. Warum Carlsen manchmal doch Komplikationen sucht, gute Frage: ist immer langweilig auch/selbst ihm zu langweilig, oder sagten seine PR-Berater, dass derlei auf Dauer zu wenig ist? Mit oder ohne Hinweis vom Gegner verzichtete Carlsen im weiteren Matchverlauf auf Experimente: gegen 1.e4 nur noch die Berliner Mauer, selbst 1.e4 nur sporadisch und dann verzichtete Nakamura auf Najdorf (vielleicht, weil er mit 3.Lb5+ rechnete).
Spannend blieb es, da beide abwechselnd Matches gewannen. Dabei konnte Nakamura im zweiten Match möglicherweise seine Führung ausbauen. Die erste Partie gewann er mit Schwarz, da Carlsen (von Dubov an Haudrauf-Tagen inspiriert?) wild opferte. Dauerschach war danach noch für ihn drin, aber er sah es nicht. Nakamura wollte das Match dann wohl nach Hause schaukeln und wählte gegen den Berliner eine altbekannte Nebenvariante mit Remis nach 14 Zügen. Oder wähnte er sich in einem WM-Match? Carlsen hatte derlei ja gegen Karjakin auch gemacht, aber Nakamura wird sich (solange klassische Bedenkzeit in WM-Zyklen eine Rolle spielt) nie und nimmer für ein WM-Match qualifizieren. In der dritten Partie stand Nakamura mit Schwarz prächtig aber übersah dann erst 22.Dg4+ und danach 38.Lxf6, jeweils mit Bauerngewinn für den Gegner. Zwei gegnerische Fehler = Sieg für Carlsen und Ausgleich in diesem Match. Was machte Nakamura nun? Wieder dieselbe Remisvariante gegen den Berliner!!?? Vielleicht hat Caissa ihn dafür bestraft, so etwas darf nur Carlsen!? Jedenfalls patzte er in der zweiten Blitzpartie übel – diesmal reichte Carlsen ein gegnerischer Fehler (27.Txd7??), wobei 29.De4?? das Ende beschleunigte.
Auf alle weiteren Matches gehe ich nicht ein, wie gesagt die beiden Spieler gewannen auch weiterhin abwechselnd. Ausgleich auch betrifft Kurzremisen im Berliner: zweimal auch Arbeitsverweigerung von Carlsen mit Weiß. Insgesamt bekam Carlsen zwar gegnerische Fehler, aber zu wenige bzw. er konnte sie nicht immer ausnützen – Nakamuras Version: „ich habe mich toll verteidigt“. Nur zum siebten und letzten Match: Die erste Partie gewann Carlsen mit Schwarz, irgendwas ging im Anti-Berliner mit 4.d3 aus Nakamuras Sicht total schief. Remis in der zweiten Partie, und dann erlitt Carlsen im selben (aber anders interpretierten) Anti-Berliner Schiffbruch. Wieder Remis und damit Blitzen. Zweimal gewann Weiß, jeweils ein für den Gegner vermutlich haltbares Endspiel – schlechtere Endspiele verteidigen ist (mangels Praxis?) eher nicht Carlsens Stärke.
Die alles entscheidende Armageddon-Partie war dann paradox: Carlsen glaubt nach eigener Aussage nicht an Endspielfestungen, aber er erzeugte eine mit Turm und Läufer gegen Dame und die hielt – da er Schwarz hatte reichte das ja.
Nun wird das alte Nakamura-Zitat „I am the only threat to Sauron“ wieder aufgewärmt. Das war anno 2013 – damals war es angesichts seiner (milde ausgedrückt) schlechten Bilanz gegen Carlsen mit klassischer Bedenkzeit absurd. Später hat Nakamura sich wohl von derlei Ambitionen verabschiedet und das Zitat nie wiederholt. Sieben Jahre später kam Corona und damit viel Internet-Schnellschach auf höchstem Niveau – wenn das irgendwann vorbei oder jedenfalls nicht mehr das einzige ist, dann ist Nakamura wieder Nummer 18 der Weltrangliste mit klassischer Bedenkzeit.
Wie geht es weiter? Die Online-Olympiade geht bereits weiter, Deutschland bekommt nun stärkere Gegner in Gruppe 1 als zuvor in Gruppe 2. Da hatten sie ja die Mitfavoritenrolle bestätigt, wobei einige Matches durchaus holprig und aus deutscher Sicht glücklich verliefen. Nun läuft es bisher: zweimal 3,5-2,5 gegen Indonesien (wohl eingeplant) und Iran (nicht unbedingt eingeplant). Abgerechnet wird zum Schluss, Ziel ist wohl Platz 3 hinter China und Indien – dann geht es für Deutschland weiter.
Und im Oktober wird Norway Chess (nach derzeitigem Stand) am Brett stattfinden. Norwegen will ja kein EU-Mitglied sein aber hat nun doch sein Herz für (quasi) EU-Bürger entdeckt, die dürfen einreisen. Caruana ist dabei, da er zwar seine italienischen Wurzeln generell kaum erwähnt aber noch einen italienischen Pass hat. Firouzja ist dabei, da er in Frankreich wohnt. Aronian ist dabei, da er zwar aktuell meistens in Jerewan aber auch mal in Deutschland und/oder Spanien wohnt. Nakamura darf sich dagegen auf seinen Internet-Lorbeeren ausruhen.
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