Das Titelbild soll an – was mich betrifft – gute alte Zeiten erinnern, die hoffentlich irgendwann wieder kommen. Das alles gab es auch anno 2020: Händedruck, echte Schachfiuren, Fotografen auf der Bühne, Publikum das zu den Spielern 1,50m Abstand einhält aber nicht untereinander. Die Corona-Pause ist für echte Schachfiguren in meinem Verein seit gestern vorbei, eingesetzt werden bei der Jugend gar 64 pro Partie (an zwei Brettern). Dass sie vorher und hinterher desinfiziert werden akzeptieren sie anstandslos. Dass sie während Partien von jungen Jugendlichen mitunter falsch eingesetzt werden – nun das gab es auch vor Corona.
Irgendwie ist das Foto noch quasi aktuell, Carlsen machte auch in Wijk aan Zee im Januar den Wikinger. Caruana hat inzwischen noch mehr Haare auf dem Kopf, aber der stand ja nicht im Finale – das die beiden bereits abgebildeten Spieler auf unterschiedliche Art und Weise erreichten: Carlsen holperte und stolperte in der Vorrunde, auch wenn er seine Gruppe am Ende irgendwie gewann, und hatte dann in zwei KO-Matches recht leichtes Spiel. Bei Giri war es umgekehrt. Das Finale war dann knapper als das Endergebnis (nach Matches 2-0 für Carlsen) suggeriert. Aber der Reihe nach – die anfangs zehn anderen Spieler werden nur nebenbei erwähnt:
Vorrunde A: Da qualifizierten sich vier von fünf für die KO-Runde, bzw. Harikrishna hat auch mitgespielt aber war erwartungsgemäß chancenlos. Warum hat er mitgespielt? Sie wollten wohl einen Inder, und Anand hatte anscheinend keine Lust. Endstand: Carlsen und Artemiev 6/10, Nakamura, Grischuk, Dubov 5/10, Harikrishna 3/10. Dubov ist wie Harikrishna nicht fettgedruckt, denn auch für ihn war das Turnier nun vorbei. Das hat er sich selbst eingebrockt, und es wird erwähnt auch wenn ich generell nur Carlsen erwähne.
Am ersten Tag verlor Carlsen noch gegen seinen Sekundanten. Es lag nicht daran, dass er eine Qualität eingestellt hatte – selbst bezeichnete er es als Opfer, aber Carlsen opfert doch nicht oder nur wenn es offensichtlich ohne Risiko ist. Kompensation hatte er, Dubov wollte dann die Qualle zurückgeben und in ein Remisendspiel abwickeln. Carlsen war, obwohl er das eigentlich mag da Gegner dann später oft patzen, nicht einverstanden. 28.Da1??! war stattdessen ein brain disconnect, das überlässt der Norweger sonst seinen Gegnern. Ansonsten entwischte Carlsen aus Verluststellung gegen Grischuk und gewann gegen, nun ja, Harikrishna.
Am zweiten Tag gewann Carlsen gegen Nakamura, der früh in der Partie einfach schlecht spielte. Und auch Dubov hatte vielleicht ein schlechtes Gewissen, dass er Carlsen zuletzt mehrfach besiegte, und spielte nun mit Weiß grot-ten-schlecht: unnötigerweise eine Fesslung zulassen und den eigenen Turm auf e2 deplatzieren reichte noch nicht, um die Partie zu verlieren, also machte er direkt danach noch einen FEHLER. Carlsen konnte danach sogar ein Damenopfer á la Carlsen zelebrieren – offensichtlich und ohne jegliches Risiko. Wenig später gab Dubov auf. Er dachte vielleicht, dass er sich das in der vorletzten Runde leisten konnte. Aber dann verlor er auch noch gegen Nakamura und hatte damit nur noch 50% bei schlechtem Tiebreak.
Nakamura remisierte alles, bis auf die beiden bereits erwähnten Resultate. Grischuk remisierte auch alles, bis auf Niederlage und Sieg gegen Harikrishna. Überzeugt hat vor allem Artemiev, aber der war danach im Viertelfinale gegen Nepomniachtchi chancenlos.
Vorrunde B: Da war meine Prognose, dass drei Spieler sehr wahrscheinlich die KO-Runde erreichen und dass Giri, Radjabov und Vachier-Lagrave den vierten Platz unter sich ausmachen. Giri ist generell kein besonders guter Schnellschachspieler, MVL hatte im Internet reihenweise schlechte Ergebnisse, Radjabov ist ein relativ unbeschriebenes Blatt (auch wenn er sich als Weltcup-Sieger für das Kandidatenturnier qualifizierte). So kam es dann auch, und doch etwas anders: Giri 6/10, Ding Liren und Nepomniachtchi 5.5/10, Caruana 5/10, Radjabov 4.5/10, Vachier-Lagrave 3.5/10.
Dass Giri Remis spielen kann war bereits bekannt. Außerdem gewann er hübsch mit Schwarz gegen Caruana und weniger hübsch gegen Ding disconnect Liren – das Internet des Chinesen versagte im remislichen Turmendspiel. Allerdings hatte er auch mit Schwarz gegen Nepomniachtchi eine Gewinnstellung und begnügte sich mit Dauerschach – weil er den Gewinn nicht sah und/oder weil er sich so sicher für die KO-Runde qualifizierte.
Alle anderen spielten wechselhaft. Ding Liren konnte seinen Unfall gegen Giri durch danach zwei Siege kompensieren. Nepomniachtchi und Caruana hatten beide drei Siege auf ihrem Konto, aber auch zwei bzw. drei Niederlagen. Am buntesten trieb es Vachier-Lagrave: nach dem ersten Tag lag er noch gemeinsam mit Giri vorne, am zweiten Tag nur 0.5/5 – das musste passieren, sonst wäre Thomas Richter kein Schachexperte. Bei Giri lag ich allerdings daneben – ich hatte eher mit 50% (zehn Remisen) gerechnet, was generell wohl Platz 4 bedeuten würde.
Giri-Grischuk 2-0 (3.5-3.5 und 3-1): Wieso gewann Giri das erste Match? Im Armageddon hatte er Schwarz, zuvor bereits sechs Remisen. Einmal verpasste er den Endspielsieg im Leichtfigurenendspiel.
Am zweiten Tag gewann er dann zweimal mit Schwarz – einmal souverän, einmal Kontersieg aus zuvor verdächtiger Stellung heraus.
Carlsen-Caruana 2-0 (2.5-0.5 und 2.5-0.5): Zuvor spielte Caruana wechselhaft, beim Turnier zuvor hatte er selbst gegen den Remisspezialisten Wesley So diverse Siege und Niederlagen. Nun spielte er konstant – konstant schlecht.
Carlsen-Ding Liren 2-0 (3.5-2.5 und 2.5-0.5): Im ersten Match vor allem Internet-Aufregungen. Wieder verabschiedete sich Ding Lirens Internet in Remisstellung, so wollte Carlsen nicht gewinnen – also spielte er in der zweiten Partie noch schlechter als Hou Yifan damals in Gibraltar und gab bereits nach vier Zügen auf. Diese „sportliche Geste“ konnte Carlsen sich leisten, der Gegner wird schon noch ein Remisendspiel vergeigen – etwas Geduld brauchte der Norweger, es geschah erst in der zweiten Blitzpartie.
Am zweiten Tag hatte dann Ding Liren einen brain disconnect: in der ersten Partie stand er lange besser, dann nicht mehr, verschmähte eine Zugwiederholung und dann 66.Db3?????? Tc1+ – eine wohlbekannt-elementare Taktik. Für so etwas schämt Magnus KggF (König des groben gegnerischen Fehlers) Carlsen sich nicht, das kennt er sehr gut. Die dritte Partie verlor Ding Liren dann sang- und klanglos
Giri-Nepomniachtchi 2-1 (3-1, 1.5-2.5 und 3.5-2.5): drei recht unterschiedliche Matches. Am ersten Tag gewann Giri zweimal mit Weiß – einmal fast aus der Eröffnung heraus da Nepo ein ungewöhnliches taktisches Motiv nicht würdigte, einmal nach etwas turbulentem Partieverlauf. Da war auch Ausgleich und Verlängerung denkbar. Noch turbulenter war die Partie dazwischen: meistens stand Giri klar besser aber einen Moment lang auch schlecht/verloren, am Ende Dauerschach und Remis. Das Ganze stand dabei im Schatten von Carlsens fairer Geste gegen Ding Liren.
Am zweiten Tag gelang Nepomniachtchi ein glatter Kontersieg mit Weiß in der zweiten Partie: Er spielte weitgehend auf den ersten drei Reihen, Giri wollte die Initiative ergreifen und überspannte den Bogen. Zuvor und danach remis. Einen halben Zug lang hatte Giri in der dritten Partie ein gewonnenes Turmendspiel. In der vierten Partie war er mit Schwarz unter Siegzwang, das konnte komplett schief gehen aber Nepo begnügte sich in Gewinnstellung mit Remis.
Am dritten Tag gewannen zunächst beide einmal, dann drei Remisen und die zweite Blitzpartie gewann Giri. Damit standen beide Gruppensieger im Finale.
Carlsen-Giri 2-0 (3.5-2.5 und 2.5-1.5): Am ersten Tag lief es zunächst nach Wunsch für Carlsen. In der ersten Partie spielte Giri Vabanque und überspannte den Bogen. Carlsen hat dann aber den vom Gegner geschenkten Vorteil wieder verschenkt – sooo groß (groß genug) war er eben nicht, und es war nicht sein Stellungstyp. In der zweiten Partie war er dann in seinem Element: Giri vergeigte ein Remisendspiel. Viele Vereinsspieler wissen, dass ein Turm hinter den gegnerischen Freibauern gehört (43.-Ta4!), Giri wusste es nicht bzw. betrachtete 43.-Tc1? als „kultivierten“ Remisweg – es war keiner. Carlsen wollte das hinterher nicht als Glück für ihn bezeichnen, das Turmendspiel bezeichnete er als schwierig ohne klaren Remisweg. Gemeint war: sonst hätte er eben 20, 30 oder 50 Züge weitergespielt, bis der Gegner endlich einen Fehler macht.
Da zeigte sich Carlsens Stärke, seine Schwäche zeigte sich dann auch: Taktik ist nicht so sein Ding, am Ende der vierten Partie ging er sang- und klanglos unter – Verlängerung! Zunächst hatte Giri da ein womöglich gewonnenes Turmendspiel, das dann remis wurde – wie alle Turmendspiele, Ausnahmen bestätigen die Regel. In der zweiten Blitzpartie brauchte Carlsen für seinen offensichtlichen vierten Zug 1 1/2 Minuten, offenbar hatte nun er Internet-Probleme. Inszenierung/psychologische Mätzchen ist bei ihm auch immer denkbar – hinterher sagte er selbst, dass das wohl vor allem Giri irritierte. Giri spielte dann schlecht und landete in einer Verluststellung. Daraus entwischte er, nur um es nochmals zu vergeigen.
Das anschließende Interview begann mit Carlsen, also Ähms und Ähs. Dann kam Giri dazu und es wurde lebendig, er hat sogar Carlsen angesteckt.
Am zweiten Tag zeigte zunächst Carlsen Kreativität Kenntnis der Schachgeschichte: ein im Semi-Tarrasch wohlbekanntes Bauernopfer, Giri reagierte langsam und falsch, Vorteil Carlsen. In der zweiten Partie war nicht allzu viel los. UPDATE: Mal abgesehen davon, dass Giri bereits im 15. Zug nach einem Carlsen-Lapsus forciert gewinnen konnte – danke an Leser Henning Fraas für den Hinweis! Damit rechnet man eher nicht, weder als Spieler am Brett/Monitor noch als Schreiberling hinterher (ich hatte die Partie erst ab danach schnell durchgeklickt, live war ich nicht dabei).
In der dritten Partie stand Giri mit Schwarz laut Engines klar besser, aber konkret wurde es nicht – remis. In der vierten Partie bekam Giri vernichtenden Angriff, konnte den Sack aber nicht zumachen: nach 35.Dxf5? war 35.-De2 mit Doppelangriff auf zwei Figuren schwarzes Stellungsglück. Weiß hatte immerhin noch Dauerschach, aber das war in der Matchsituation zu wenig.
Carlsen hat mal wieder ein Turnier gewonnen, Giri hat vielleicht viele Sympathien gewonnen – durch Interviews und Auftritte in sozialen Medien, aber auch durch attraktives Schach. Das hat einige offenbar überrascht – so spielte er durchaus auch zuvor, aber es wurde eben oft irgendwie remis. Giri-Hasser werden dann auch mittelfristig wohl auf seinem ersten Match gegen Grischuk herumreiten und den Rest des Turniers ignorieren.
Wie geht es weiter? Zunächst hat Giri Zeit für seinen Youtube-Kanal – bisher über 10.000 Abonnenten für null (0) Videos, Fans hat er also auch. Ab 21.Juli dann das nächste Turnier der Internet-Serie mit dem Namen „Legends of Chess“. Legenden sind auf jeden Fall Carlsen, Giri, Nepomniachtchi und Ding Liren – sie haben sich als Halbfinalisten dieses Turniers für das nächste qualifiziert. Verraten wurde auch schon, dass Svidler dann nicht kommentieren sondern selbst spielen wird. Mit Anand rechne ich auch, vielleicht auch Kramnik – der seinen Ruhestand gelegentlich für Schnell- und/oder Blitzschach unterbricht. Akzeptieren sie auch Legenden mit Elo unter 2700, z.B. Ivanchuk, Gelfand oder gar Kamsky, der schon einmal auf chess24 aufgefallen ist? Irgendwann werden sie das verraten.
Danke für (die Blumen und) den Hinweis! Das hatte ich – wie Giri – glatt übersehen. Carlsen bemerkte offenbar direkt, was er angerichtet hatte. Giri sah es erst nach der Partie, als er sie in der Pause vor der nächsten kurz mit Computerhilfe durchklickte.
Hallo
erstmal: sehr gute Seite. Beste Zusammenfassung des chessable Turniers. Aber: auch in der 2. Partie am Samstag stand Giri nach Le6 von Carlsen auf Gewinn. Dh6!
Nur der Vollständigkeit halber.
Gruß Henning Fraas