Diesmal eine etwas andere Einleitung: Schachspieler sind Menschen, jeder auf seine Art – das gilt auch für (ehemalige) Weltklassespieler. Aus meiner Sicht war Kramnik nun zum zweiten Mal moralischer Sieger über Carlsen – zum zweiten Mal nach dem Londoner Kandidatenturnier 2013, und diesmal schon vor dem Turnier.
Die beiden hatten unterschiedliche Ansätze, ein stark besetztes Online-Turnier zu organisieren. Carlsen war zuerst dran und wird daher auch zuerst besprochen. Sein Turnier stand unter dem Motto „Tue Gutes, rede darüber und sorge dafür, dass Du selbst finanziell profitierst“. Bescheiden wie der Norweger ist hat er ein Turnier nach sich selbst benannt. Allerdings war „finanziell profitieren“ diesmal relativ: das Geld stammte aus einer Firma, an der er selbst maßgeblich beteiligt ist. Auch längerfristig ist zutiefst beeindruckend, was Magnus Carlsen im Laufe der Jahre alles für Magnus Carlsen getan hat – zugegeben, nicht alleine sondern zusammen mit einer PR-Truppe und ihm wohlgesonnenen Schachautoren, delegieren ist auch eine Kunst.
Nun Kramnik: „Tue Gutes, rede eher nicht darüber und Geld landet da, wo es dringend gebraucht wird“. Aus einem Interview vorab, das Chessbase freundlicherweise übersetzt und zweitveröffentlicht hat:
Kommersant: Wie man hört, sind Sie der Hauptinitiator dieses Online-Turniers?
VK: Die Teilnehmer sind alle Initiatoren.
Dazwischen war ja noch der Nations Cup, auf chess24 begründete Carlsen seine Nicht-Teilnahme damit, dass sich die Organisatoren kaum um ihn bemüht hätten. Chess.com hatte das freundlicherweise übersetzt: man konnte oder wollte seine finanziellen Erwartungen, deutlich höher als die anderer Teilnehmer, nicht erfüllen. Ohnehin hatte Carlsen nach eigener Aussage keine große Lust, für Europa zu spielen – er fühlt sich nicht als Europäer. Norweger ist er ja eigentlich auch nicht mehr – aus dem Schachverband ausgetreten, nachdem eine demokratische Wahl das falsche Ergebnis hatte (trotz seiner Bemühungen, diese zu manipulieren). Was denn dann? In der deutschen Bundesliga könnte er nun am ehesten für Bayern München spielen, Motto „Mia san mia“. Es gibt aber ein kleines Problem: gespielt wird an acht Brettern, und nur für eine Mannschaft mit elf Spielern ver(sch)wendet der Verein Beträge, die Carlsen motivieren könnten.
Thema dieses Beitrags ist aber „Play for Russia“ – auch nach vielen Jahren im Ausland ist Kramnik noch Russe, die sieben anderen sind es ohnehin (Kasparov ist es dagegen nur bedingt, und falls er eingeladen wurde hatte er vielleicht unrealistische finanzielle Erwartungen). So werden nun Millionen für den Kampf gegen COVID-19 in Russland verwendet – zwar nicht Euros, Dollars oder Schweizer Franken, aber immerhin Rubel: knapp 25 Millionen und da geht vielleicht noch mehr, umgerechnet über 300.000$.
Gespielt wurde an bisher zwei Tagen, für viele Spieler unterschiedliche daher neben dem Endstand in Klammern auch Ergebnisse der Hin- und Rückrunde: Kramnik 10.5(5+5.5), Svidler 9(3+6), Tomashevsky 8(4+4), Grischuk 8(5.5+2.5), Karjakin 7.5(3+4.5), Inarkiev 5.5(2.5+3), Nepomniachtchi 5(3+2), Riazantsev 2.5(2+0.5). Das ist noch nicht alles: am Donnerstag spielen die besten vier im KO-Format, da ist Kramnik nicht einmal Favorit – seine Matches gegen Svidler, Tomashevsky und Grischuk endeten alle unentschieden, auf unterschiedliche Art und Weise: zweimal Remis gegen Svidler, bei Kramnik-Grischuk gewann Schwarz, bei Kramnik-Tomashevsky gewann Weiß. Auch Karjakin konnte ihm immerhin ein Remis abknöpfen, die drei anderen schafften das nicht.
Generell entspricht das Ergebnis etwa den Erwartungen, mit einigen Ausnahmen: Mit Kramnik war durchaus zu rechnen, mit diesem Ergebnis nicht unbedingt. Auch ohne Lichess-Spezialregeln dominierte er letztendlich und stand bereits zwei Runden vor Ende als Sieger des Rundenturniers fest. Was meine ich mit Lichess-Spezialregeln? Wer da Quarantäneliga oder sonst etwas spielt weiß Bescheid: bei Siegen in Serie gibt es ab dem dritten doppelte Punkte, Kramnik erzielte in Runde 6-11 6/6. Mit Tomashevsky war nicht unbedingt in der oberen Tabellenhälfte zu rechnen, eher mit Nepomniachtchi – aber der hat Eindrücke der letzten Wochen auch diesmal bestätigt.
Kramnik hatte Spass an der Sache, am meisten vielleicht in der turnier-irrelevanten allerletzten Partie gegen Inarkiev: die Rochade will er ja eigentlich abschaffen, daher 30 Züge lang alles mögliche und dann 31.Kd2, im weiteren Verlauf spazierte sein König bis nach d6 und half beim Mattangriff mit reduziertem Material. Seinen Erfolg erklärte er hinterher damit, dass er ja nur noch „just for fun“ spielt und dass man – gilt jedenfalls dann für ihn – „Reflexe“ beim Blitzschach nicht so schnell verlernt. Ein Comeback mit klassischer Bedenkzeit hat er ausgeschlossen, zu anstrengend vor und während Partien.
Spannend bis zum Schluss war der Vierkampf um die drei anderen Plätze im Finale, kurz zu den beteiligten Spielern mit Schwerpunkt die beiden letzten Partien: Svidler war am zweiten Tag generell gut drauf, isoliert betrachtet noch besser als Kramnik. Lichess-Bonuspunkte hätte er nicht erhalten, da er in Runde 10 und 12 das machte, was er tags zuvor fast durchgehend tat – Remis spielen, demnach nie mehr als zwei Siege in Serie. Am zweiten Tag waren die Remisen korrekt, am ersten Tag nicht unbedingt – wie Svidler selbst hinterher sagte, stand fast immer ein Spieler klar besser bis gewonnen. In Runde 13 und 14 gewann er demnach, und zwar im großen Stil: Erst opferte er gegen Nepomniachtchi nicht eine, sondern zwei (2) Qualitäten – drei (3) Bauern waren dafür mehr als ausreichende Kompensation. In der letzten Runde reichte ein Schwarzremis zur sicheren Qualifikation, was machte er gegen Karjakin? Die sizilianische Kan-Variante (1.e4 c5 2.Sf3 e6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 a6!?), die keinen besonders guten Ruf geniesst, aber später spielte er den Gegner schwindlig.
Damit hatten wir Karjakin eigentlich schon, aber der Reihe nach kommt nun Tomashevsky. In der vorletzten Runde besiegte er Kramnik, bzw. Big Vlad besiegte sich ein bisschen selbst. Zum Schluss ein ungefährdetes Schwarzremis gegen Nepomniachtchi, der – nachvollziehbar – wohl nicht mehr allzu motiviert war. Generell für ihn ein – jedenfalls von den Ergebnissen her – solides Turnier mit vier Siegen und zwei Niederlagen.
Grischuk hatte einen tollen ersten Tag und generell keinen tollen zweiten Tag, dazu passte die Niederlage in der vorletzten Runde gegen Karjakin. Er schien klar auf der Siegerstraße, dann war der Vorteil komplett dahin und dann „fand“ er ein Selbstmatt. Ganz zum Schluss gewann er dann in ähnlichem Stil – glatte Verluststellung noch komplett drehen – gegen den am zweiten Tag völlig indisponierten Riazantsev. Vor allem Grischuk hat danach betont, dass Ergebnisse in diesem Turnier ziemlich Nebensache sind.
Karjakin hatten wir, was die letzten beiden Runden betrifft, schon komplett. Zuvor: guter zweiter Tag nach mässigem erstem Tag.
Die anderen Partien ignoriere ich mal – nicht weil zu wenig geboten wurde, eher zuviel für einen Beitrag. Das „Preisgeld“ wird gleichmässig unter den von den Spielern nominierten Institutionen verteilt. Karjakin nutzte vorab die Chance zu einem kleinen politischen Statement: „schön dass ich nach all den Jahren in Moskau meiner Heimat Krim etwas zurück geben kann“. Kramniks Corona-Statement kam ja schon zuvor: Rücktritt vom Kandidatenturnier – nicht als Spieler, diese Entscheidung traf er bereits Anfang 2019 oder noch früher, sondern als Livekommentator. Dafür gab es eine Mischung aus Bedauern und Respekt.
Ob die kommerzielle Konkurrenz zum Turnier berichten wird, ist bei Redaktionsschluss nicht bekannt. Chessbase tat es bereits, chess24 hat jedenfalls die Partien live übertragen und auf Twitter erwähnt. Chess.com kennt andere Schachserver gar nicht, außerdem haben sie momentan wichtiges zu tun: Nakamura-Jubelarien.
Morgen das Finale in Russland (stimmt wohl für drei der vier Spieler, Kramnik wahrscheinlich über eine Schweizer IP-Adresse zugeschaltet). Und dann ist Österreich an der Reihe mit dem Steinitz Memorial – chess24 Server, Spieler (Markus Ragger ist nicht dabei) und Spielerinnen allerdings alle woanders.
Eigentlich müsste man diesen idiotischen Kommentar löschen. Ok, wir haben Meinungsfreiheit.