September 2, 2024

Gedanken zum FIDE Chess.com Online Nations Cup

Sechs Herren und zwei Damen sitzen heute nochmals am Computer – vier davon morgens, vier am fortgeschrittenen Abend, in Europa ist es später Nachmittag aber Team Europe hat das Finale denkbar knapp verpasst. Dazu etwas Ursachenforschung, und dann zum gesamten bisherigen Turnier, u.a. warum Russland die Erwartungen nicht erfüllt hat – die beiden noch nicht erwähnten Teams haben die Erwartungen etwa erfüllt.

Zunächst der Endstand des Rundenturniers: China 17, USA 13(22), Europa 13(21.5), Russland 8, Indien 5, Rest of the World 4. China dominierte, die USA profitierten am Ende vielleicht davon, dass das letzte Match für die Chinesen irrelevant war. Außerdem brauchte und bekam das interkontinentale US-Team noch Schützenhilfe ausgerechnet vom Rest der Welt. „Interkontinental“ bezieht sich nicht darauf, dass Anna Zatonskih ihre zwei Partien womöglich nachmittags mit einer deutschen IP-Adresse spielte, sondern auf die Lebensläufe von drei Männern im Team (nur bei Nakamura ist Japan ein biographisches Detail).

Runde 1-8 bleibt außen vor bzw. ist erst später Teil der Zusammenfassung, beginnen wir also nun mit Runde 9 und konzentrieren uns auf das noch turnierrelevante Match. Bei USA-Europa 1.5-2.5 fiel scheinbar eine Vorentscheidung, aber Vorentscheidungen sind genau das: vorläufig, nicht mehr und nicht weniger. Die Entscheidung fiel am Damenbrett – Schwachpunkt des US-Teams auch wenn Irina Krush die bescheidenen Erwartungen insgesamt übererfüllte, aber sie waren eben bescheiden. Nana Dzagnidze konnte ihren Vorteil im Doppelturmendspiel zum Sieg verdichten. Da konnte Team Europa es (scheinbar) verkraften, dass Vachier-Lagrave seinen klaren Vorteil mit Schwarz gegen Nakamura verspielte, aber am Ende fehlte dann dieser Brettpunkt (es wäre ein halber mehr für Europa gewesen, und ein halber weniger für die USA).

Aronian kam gegen Caruana eine Qualität abhanden, das war wohl geplant aber damit verbundener Damentausch war Ergebnis eines möglichen mouse slips (21.Dg4 statt 21.Dg3). Caruanas Vorteil schien dann aber nicht gewinnträchtig, Aronian steuerte sein Schiff relativ sicher in den Remishafen. Remis in der noch nicht erwähnten Partie war wahrlich keine Überraschung: Duell des talentiertesten Remisspielers der Weltklasse gegen den mit diesem einschlägigen Ruf, So-Giri 1/2.

Nun hatte Europa einen Matchpunkt Vorsprung auf die USA und den „im Prinzip“ leichteren Gegner in der letzten Runde, es kam anders – Runde 10: China-USA 1.5-2.5 !? – was war da denn los? Man konnte fast den Eindruck bekommen, dass China im Finale lieber gegen die USA als gegen Europa spielen wollte. Ding Liren hatte das dann nicht mitbekommen oder war nicht einverstanden: er gewann recht glatt, Nakamura hoffte am Ende zu Unrecht auf den Remisfaktor ungleichfarbige Läufer. Caruana-Wang Hao 1-0 war keine Überraschung, weder qua generelle Papierform noch in Bezug auf deren Ergebnisse zuvor in diesem Turnier. Caruana bekam gleich zwei Einladungen, einen Läufer auf h7 zu (schein-)opfern, die zweite akzeptierte er. Anfang allen Übels war das schwarze Läufermanöver 13.-Lg4? 14.f3 Ld7 – 13.-c4! wäre zwar vielleicht antipositionell gewesen (irgendwann könnte danach ein weisser Springer auf d4 erscheinen), aber hätte den weissen Ld3 dauerhaft von dieser Diagonale vertrieben. Es lag also nicht an der weissen Neuerung 12.Lf4, das war weder schlecht noch gut.

Überraschender war, dass Ju Wenjun gegen Irina Krush aus der Eröffnung heraus klar schlechter stand, aber davon konnten die USA dann nicht profitieren – remis. Entscheidend war das Meisterwerk des zuvor sehr positiv aufgefallenen Yu Yangyi: mit Weiß verlieren, mit der Baldrian-Variante 5.Te1 gegen die Berliner Mauer und gegen den begnadeten Remisspieler Wesley So – einfach war es nicht, aber er schaffte es. Absicht muss man ihm nicht unterstellen – aus chinesischer Sicht war es egal, aus europäischer Sicht nicht, dieses Match zusammen mit

Europa – Rest der Welt (nur) 2-2 – entscheidend dafür, dass Aronian gegen Firouzja auf dem Frankenstein-Glatteis ausrutschte. Dabei stand er aus der Eröffnung heraus mit Schwarz prima, und dann kam im nun damenlosen Mittelspiel die zweite Corona Angriffswelle. JK Duda schaffte gegen Bassem Amin den Ausgleich im Match, das war ein kleines bisschen zu wenig aus europäischer Sicht.

Und nun zum Turnier insgesamt, quasi auch „Einzelkritik“. Entscheidend sind (jedenfalls zunächst) Matchpunkte, aber die resultieren ja aus Brettpunkten – alle individuellen Ergebnisse nach Teams sortiert:

China: Ding Liren 5.5/8, Wang Hao 2.5/6, Wei Yi 3.5/7, Yu Yangyi 6.5/9, Hou Yifan 4/5, Ju Wenjun 3.5/5.

Es lag insgesamt auch, aber nicht nur an den Damenbrettern. Auch Gelegenheitsspielerin Hou Yifan löste ihre Aufgaben, nun auch Siege gegen Mariya Muzychuk (2506) und Aleksandra Goryachkina (2502) – in der Bundesliga hatte sie ja zuletzt gegen Thies Heinemann (2498) das Nachsehen.

USA: Nakamura 5.5/10, Caruana 6.5/8, Dominguez 1/4, So 5.5/8, Krush 3.5/8, Zatonskih 0/2

Dominguez deutete an, dass er vielleicht doch nicht so toll ist wie seine Elozahl suggeriert – daher wurde er auch eher sporadisch eingesetzt. Einen der drei Misserfolge Siege von Wesley So hatte ich bereits, die anderen werde ich noch kurz besprechen.

Europa: Vachier-Lagrave 5.5/10, Aronian 5/10, Giri 1/4, Duda 4/6, Anna Muzychuk 2.5/5, Dzagnidze 3.5/5

Auch Giri war nicht gut drauf und sass daher oft auf der Ersatzbank, PH Nielsen hat das auf Twitter erwähnt – zu seinen Aufgaben als Teil von Team Carlsen gehört schließlich Giri-bashing. Wenn damit schon auch Carlsen erwähnt ist: einige wunderten sich, dass er nicht mitspielte bzw. haben ihn vermisst. Laut Carlsen selbst auf chess24 „hat man sich nicht genug um ihn bemüht“, chess.com erklärte das dann so: er wurde durchaus – von Sutovsky und Dvorkovich – kontaktiert, hatte aber offenbar höhere finanzielle Erwartungen/Forderungen als andere Spieler. Das FIDE-Motto ist aber weiterhin Gens una Sumus (alle werden gleich behandelt), nur unter einem FIDE-Präsidenten Kasparov wäre es stattdessen Ave Carlsen Halleluja.

Damit ist auch chess24 erwähnt: sie überraschten mich, indem sie das Turnier NICHT ignorierten sondern ausführlich berichteten – aus meiner Sicht besser als die Organisatoren von chess.com (das ist Geschmackssache) mit hochkarätigerem Livekommentar (Elo ist nicht Geschmackssache).

Wenn ich schon als Europäer zu Europa mehr schreibe, noch der Hinweis, dass man etwa 50% auf unterschiedliche Art und Weise erzielen kann (gilt auch für andere Spieler): MVL mit neun Remisen und einem Sieg gegen Nepomniachtchi (zu dem komme ich gleich), Aronian mit drei Siegen, drei Niederlagen und nur vier Remisen.

Russland: Nepomniachtchi 2/8, Artemiev 6/10, Karjakin 4/8, Andreikin 2.5/4, Goryachkina 2.5/6, Girya 2/4

Da stimmte wenig, vor allem an Brett 1. Andreikin sollte vielleicht eigentlich gar nicht oder nur im äussersten Notfall spielen – aber am ersten Tag hatte offenbar Karjakin Internet-Probleme, und am letzten Tag pausierte Nepomniachtchi. Russische Mannschaftsaufstellungen sind ein immergrünes oder -graues Thema: Svidler und +-Grischuk fehlten vielleicht aufgrund ihrer Aktivitäten auf chess24 (das könnte auch bei Carlsen eine Rolle spielen).

Indien: Anand 5/8, Vidit 2/8, Harikrishna 4/9, Adhiban 0.5/5, Koneru 4.5/7, Harika 1.5/3

Anand kann nach wie vor auf dem höchsten Niveau mithalten, das galt eher nicht für Brett 2 und 3 – Vidit hat sich auf Twitter für sein schlechtes Spiel entschuldigt. Am Damenbrett lag es dann wieder nicht.

Rest der Welt: Radjabov 3.5/9, Firouzja 5.5/10, Amin 2/7, Cori 1/4, Mariya Muzychuk 2/7, Saduakassova 0.5/3

Afrika und Südamerika sind eben doch keine Schachkontinente, aber man wollte ein relativ globales Team – „relativ“, da Australien und die Antarktis nicht berücksichtigt wurden. Die auf dem Papier durchaus konkurrenzfähigen Damen wurden vielleicht vom Nachbarbrett angesteckt – trotz Corona-kompatibler Distanz von viel mehr als 1,5m, unklar ja auch was die Spieler(innen) während laufender Partien überhaupt von anderen Brettern mitbekommen.

Auch Radjabov war nicht gut drauf, zu Firouzja komme ich gleich. Aber erst noch eine Globalansicht – Ergebnisse von Herren und Damen insgesamt:

Herren: USA 18.5/30, China 18, Europa 15.5, Russland 14.5, Rest der Welt 12, Indien 11.5

Da fiel die Entscheidung quasi in der Partie Yu Yangyi – So 0-1, insgesamt ist das Turnier ziemlich dreigeteilt.

Damen: China 7.5/10, Europa und Indien 6, Russland 4.5, USA 3.5, Rest der Welt 2.5

Die USA profitierten auch davon, dass es nur ein Damenbrett gab.

Nun zu zwei Spielern, auch um doch noch Bilder in den Artikel einzubauen. Sie stammen von Tata Steel 2020, eines der letzten Turniere am Brett (danach noch Gibraltar, ein Semi-Superturnier in Prag und ein halbes Kandidatenturnier)

Firouzja schien zunächst seine Elozahl etwa zu bestätigen, nicht mehr und nicht weniger. Es haperte vor allem in Endspielen – erst gegen Aronian (der Turmendspiel-Tablebases auch nicht perfekt beherrschte, aber der letzte Fehler entscheidet), dann gegen Firouzjas Vorgänger als zukünftiger Weltmeister Wei Yi. Wei Yi hatte derlei früh angesteuert (1.e4 c6 2.Sf3 d5 3.d3!? dxe4 4.dxe4 Dxd1+ 5.Kxd1 usw.) – „gefühlt“ war es schon ab da eher frühes Endspiel als damenloses Mittelspiel.

Dann gewann er erst im Endspiel(!?) gegen den generell indisponierten Vidit – aus der Eröffnung heraus stand er mit Weiß schlecht, aber Vidit war dann zu vorsichtig und später ab der nicht existierenden Zeitkontrolle im 40. Zug zu passiv. Der nächste Sieg in einer merkwürdigen, jedenfalls für Jugendtraining nicht geeigneten Partie gegen Karjakin. Wieder Caro-Kann, wieder hatte er Schwarz. Er wollte künstlich rochieren (das musste sein) und hat es sich dann doch anders überlegt, nach Ke8-f8-g8 nicht -Kh7, sondern wieder zurück nach e7. Weiß hatte eine Dame als Einzelkämpferin am Königsflügel (h5), Schwarz schickte seine Tante solo nach a4. Die weiße Dame landete dann irgendwie auf h1 – nur weil Carlsen das auch mal machte muss es nicht gut sein!? Schwarz bekam Oberwasser am Königsflügel, Weiß fand am Ende nicht die beste Verteidigung. Danach noch das bereits erwähnte Frankenstein (1.e4 e5 2.Sc3 Sf6 3.Lc4 Sxe4 4.Dh5 Sd6 usw.) Abenteuer gegen Aronian – vergleichbares auch in Jugendturnieren, ich kann es meiner U12 nicht abgewöhnen …. andere Vereine, andere Trainer schaffen es auch nicht.

Wesley So hat drei (3) Partien gewonnen, wieso das denn? Den Sieg zum Schluss aus dem Nichts heraus und mit freundlicher gegnerischer Hilfe gegen Yu Yangyi hatten wir bereits, die beiden anderen gegen in diesem Turnier insgesamt etwas überfordert wirkende Spieler: Adhiban hat ihm gleich mehrere Bauern einfach so zum Frass vorgeworfen, Jorge Cori verlor eine „nichts los“ Stellung mit Weiß.

So und das muss reichen, wie geht es weiter? Zuerst mit dem Finale China-USA, ab 15.5. dann wieder bei der Konkurrenz von chess24, dann wieder mit Carlsen. Außer ihm spielen beim „FIDE Online Steinitz Memorial“ (FIDE ist sich offenbar unsicher, welche Internet-Plattform die beste ist?) bei den Herren Grischuk, Bu Xiangzhi (wer ist das denn?), Svidler, Xiong, Dubov, Mamedyarov, Le Quang Liem, Korobov und Anton Guijarro. Wie dieses Feld zustande kam, da bin ich überfragt – Nakamura bekam von chess.com vielleicht eine ernste „spiel nicht nochmal bei den Schmuddelkindern!“ Ermahnung. Bei den Damen sind es Lagno, Lei Tingjie, Kosteniuk, Tan Zhongyi, Stefanova, Khademalsharieh, Abdumalik, Paehtz und Deysi Cori. Das Ganze Blitzschach – 3 Minuten plus 2 Sekunden Inkrement. Damen und Herren spielen abwechselnd, womöglich aus logistischen Gründen in Moskau: der Haushalt Grischuk-Lagno hat zwar vielleicht zwei Computer, aber eine(r) muss immer auf die Kinder aufpassen.