Die ersten Entscheidungen sind im Magnus Carlsen Invitational gefallen – die wichtigste schon vor der zentralen Endrunde am Donnerstag: wer ist weiterhin dabei, und wer ist nun Zuschauer? Fast hätte ich geschrieben „darf die Heimreise antreten“, aber alle halten sich ja an das gegenwärtige Motto „bleibt zu Hause!“. Schach spielen kann man trotzdem, eben im Internet. Meistens geht es, gelegentlich gab es Probleme – Verbindung zum Server unterbrochen.
Das ist der Endstand des Rundenturniers: Nakamura und Ding Liren 15, Carlsen und Caruana 13, Nepomniachtchi 8, Firouzja und Giri 7, Vachier-Lagrave 6. Die ersten vier spielen im KO-Format weiter – neben Carlsen selbst sind es ausgerechnet die drei, die zu für Schachprofis ungewöhnlichen Zeiten am Computer sitzen müssen: die Amerikaner früh morgens, der Chinese abends bis nach Mitternacht. Dafür gibt es zusätzliches Preisgeld, wobei die Teilnehmer des Turniers wohl ohnehin keine finanziellen Corona-Sorgen haben – vielleicht bis auf Firouzja, und im Gegensatz zu Spielern der zweiten oder dritten Kategorie. Firouzja hat, zusammen mit dem ebenfalls fünfstelligen Preisgeld zuvor beim Banter Blitz Finale gegen Carlsen, wohl auch genug für die nächsten Monate. Als Internet-Nachtmensch wäre Nakamura vielleicht momentan lieber in z.B. China, aber das geht ja nicht.
Carlsen wollte mit diesem Turnier in seinem Format mit seinem Teilnehmerfeld vielleicht drei Dinge demonstrieren: Er selbst ist der aller-aller-allerbeste. Giri, eben kein besonders guter Schnellschachspieler, wollte er demütigen. Bei Firouzja wollte er der Welt zeigen, dass der Jungstar zwar vielleicht mal Weltklasse wird (vielleicht auch nicht), aber es noch nicht ist. Das Gerede, dass die anderen vor allem vor Firouzja Angst haben müssten, dass der Jungstar um den Turniersieg mitspielen kann, …. hatte sich schnell erledigt.
Alles hat zunächst prima funktioniert, dann hat es sich etwas relativiert. Nepomniachtchi und MVL sind generell gute Schnellschach-Spieler, diesmal eben nicht. Wenn irgendwann wieder Normalität einkehren sollte, haben sie ja im laufenden WM-Zyklus die besten Karten neben Carlsen, bessere als die fünf anderen Teilnehmer dieses Internet-Turniers. Und das zählt langfristig – unter der Annahme, dass irgendwann wieder Normalität einkehrt.
Auf alle Matches kann ich unmöglich eingehen. Mal dominierte ein Spieler – mitunter mehr, als das Ergebnis 2,5-1,5 dann andeutete. Mal passte das Ergebnis eher nicht zur Logik des gesamten Matches – über vier Partien gewinnt nicht unbedingt der „gefühlt“ bessere Spieler, manchmal ist es auch eine Art Lotterie bzw. einer patzt eben einmal. Das Niveau war jedenfalls teilweise eher nicht Weltklasse, dafür war es unterhaltsam. Bei 9 von 28 Matches fiel die Entscheidung im Armageddon, muss das eigentlich sein? Früher war Armageddon letzte Notlösung wenn man unbedingt einen Sieger und einen Verlierer braucht, nun gab es das regelmäßig. Wie Elfmeterschießen im Fußball nach jedem Unentschieden, und zwar ohne zuvor Verlängerung. Elfmeterschießen wird mitunter auch eine Komödie bzw. aus Sicht des Verlierers Tragikomödie. Aber vor ein paar Worten zu Armageddons erst ein bisschen, nur ein bisschen was zu Schnellpartien:
Carlsen schien zunächst zu dominieren, am Ende dann nicht mehr – aber im KO-Finale der verbleibenden vier werden die Karten ja komplett neu gemischt. Beeindruckt hat er auch mit Niederlagen: Da war zunächst das Match gegen Giri, in dem er dynamisches Schach versuchte und das ging ziemlich schief – ein Fall, bei dem der Verlierer mit 1,5-2,5 recht gut bedient war. Dann die erste Partie gegen Nepomniachtchi auf U12-Niveau: ein Spieler improvisiert in der Eröffnung, verliert dabei eine Figur, spielt weiter und verliert nach und nach immer mehr Material. Unterschied zur U12: da wird oft bis zum Matt weitergespielt, in der Kategorie „einen guten Schachspieler erkennt man daran, wann er aufgibt“ war Carlsen schon (mehr oder weniger) erwachsen. Das Match hatte dann noch ein happy end für ihn, siehe unter Armageddon. Und zuletzt gegen Ding Liren 1.e4 c5 2.Sf3 Sc6 3.Lb5 h5 – Neuerung im dritten Zug!!! Einiges wurde in dieser Stellung bereits versucht, z.B. 3.-h6, 3.-g5, 3.-f5 oder auch 3.-Sb8 – mitunter auch von relativ starken Spielern (Elo über 2300), die waren vielleicht betrunken oder hatten irgendeine Wette verloren? Nach 3.-Sb8 kam übrigens auch mehrfach 4.Lf1! Sc6! 5.Lb5 und ab hier Normalität.
Giri und Firouzja gewannen nach zuvor jeweils vier Niederlagen doch noch zwei ihrer drei letzten Matches, auf unterschiedliche Art und Weise: Giri dominierte gegen Carlsen und auch zum Schluss gegen Caruana, bei Firouzja war es eher Zufall als Matchlogik: Giri verlor gegen ihn eine Partie, in der er zuvor mit Schwarz über weite Strecken am Drücker war und „auf zwei Ergebnisse“ (Sieg oder Remis) spielte. Vachier-Lagrave griff in einer ziemlich ausgeglichenen Stellung plötzlich ziemlich daneben.
Armageddon-Partien waren oft unterirdisch unterhaltsam. Mal spielte einer von Anfang an total schlecht, mal wurden sie durch grobe Patzer entschieden – oder auch nicht: wenn Weiß in vereinfacht-ausgeglichener Stellung patzte, hätte er sonst vielleicht Remis gespielt und das ist dann auch eine Matchniederlage. Carlsen zeigte gegen Nepomniachtchi eine dritte Variante: mit Weiß, also unter Siegzwang, schnell alles abtauschen und dann den Gegner im Remisendspiel über die Zeit heben. Normalerweise gibt es im Armageddon ab dem 60. Zug Inkrement, damit so etwas möglichst nicht passieren kann – aber im Internet konnte (oder wollte?) man das nicht programmieren. Zugegeben, ganz am Ende stand Nepo auch auf dem Brett auf Verlust, aber ohne extreme Zeitnot bzw. mit Inkrement wäre das vermutlich nicht passiert – auch wenn Carlsens Ruf als Endspielgott durchaus auch auf der Kunst des groben gegnerischen Fehlers beruht.
Turnierentscheidend war AU (Armageddon-Unsinn) dabei nicht, hier eine alternative Tabelle:
Spieler – Sieg ohne Armageddon – Sieg im Armageddon – Niederlage im Armageddon – Niederlage ohne Armageddon – Punkte offiziell – [Punkte ohne Armageddon (2 für Sieg, 1 für Matchremis)]
Nakamura 3 2 2 0 15 [10]
Ding Liren 3 2 2 0 15 [10]
Carlsen 3 2 0 2 13 [8]
Caruana 3 2 0 2 13 [8]
Nepo 1 2 1 3 8 [5]
Firouzja 2 0 1 4 7 [5]
Giri 2 0 1 4 7 [5]
MVL 1 0 3 3 6 [5]
Nur unten wären so vier Spieler punktgleich. Nakamura und Ding Liren waren im Schnellschach ungeschlagen, Carlsen und Caruana verloren jeweils zweimal. Carlsen war gegen Giri eher chancenlos, das Match am Ende gegen Ding Liren war reiner Slapstick. Caruana war gegen Giri auch klarer unterlegen, als das Ergebnis (nach 0,5-2,5 noch 1,5-2,5) andeutet. Seine zweite Niederlage war einerseits vermeidbar – eigentlich war er entwischt – andererseits vom gesamten Partieverlauf her logisch. Gegen Carlsen stand er zunächst in der ersten Partie unklar bis vielversprechend – Kompensation für eine geopferte Qualität – und machte dann alles falsch, was man falsch machen kann. Da hatte Carlsen mit Schwarz Aljechin versucht, mit Weiß dann mal wieder Ähm äh Schach – nichts riskieren, schnell Figuren abtauschen. Da Caruana sich wieder etwas dumm anstellte, brachte das den zweiten vollen Punkt. In der dritten Partie hatte Caruana Chancen auf den Anschlusstreffer, nutzte sie jedoch nicht. Ansonsten lief es ja für den Italo-Amerikaner, generell nicht unbedingt ein starker Schnellschach-Spieler. Bei den vier anderen mehr Schatten als Licht.
Wie geht es weiter? In diesem Turnier nun KO-Format mit eventuell doppelter Verlängerung (zweimal zwei Blitzpartien) und erst dann Armageddon. Und sonst? Wer weiß das schon. Meine Prognose ist, dass Internet-Schach zwar beliebter wurde aber irgendwann wieder den Status hat, den es vor der Corona-Krise hatte: Spielwiese für Spieler jeden Niveaus, ohne dass viel auf dem Spiel steht, sowie ab und zu Schaukämpfe. Wenn es mal ein zweites Carlsen Invitational geben sollte, dann vielleicht Zeitplan wie bei anderen Schaukämpfen auf chess24 oder auch chess.com – über einige Monate, Matches dann wenn es den Spielern terminlich passt, also eingestreut zwischen „echten“ Turnieren. Durchaus begrüssenswert, dass dieses Turnier jetzt stattfindet, allzu aussagekräftig im Sinne von „wer ist der/wer sind die besten Spieler“ ist es dabei aus meiner Sicht nicht unbedingt.
Auch im echten (Arbeits-)Leben kann ich mir vorstellen, dass es nach der Corona-Krise zwar vielleicht mehr home office gibt, weniger Reisen (täglich pendeln und seltenere/längere Dienstreisen), mehr Videokonferenzen. Aber doch auch wieder direkte Begegnungen, bei denen im Zweifelsfall die wichtigsten Entscheidungen fallen.
Wann es soweit ist, weiß derzeit niemand. Als Jugendleiter bekomme ich Mails, dass Jugendturniere erneut verschoben wurden. Als erwachsener Mannschaftsspieler bekam ich eine Mail, dass die verbleibenden Kämpfe der Saison 2019/2020 nun im Juni/Juli stattfinden sollen – allerdings unter Vorbehalt, und sicher keine zentrale Endrunde der Münchner Bezirksliga.
Kommt halt drauf an was man sehen möchte. Im Fußball schau ich auch lieber ein müdes 0:0 zw. Bayern und Real, als ein fulminantes 5:4 in der 3. Liga.
Ich kann nun Bullet gar nichts abgewinnen, weder als Zuschauer noch als Spieler. Ist Geschmackssache, aber warum Spieler da „richtig hart rangenommen“ werden während Schnellschach „müdes Gezocke“ ist kann ich nicht nachvollziehen. Aber es ist gut so, dass die einschlägigen kommerziellen Seiten auf unterschiedliche Art und Weise (Format und Kommentar) von der aktuellen Situation profitieren wollen – ich suche mir das heraus, was mich (eher) interessiert, Schachfreund Hackenmeier und andere machen das auch.
Dabei habe ich das Carlsen Invitational live nur sporadisch verfolgt: teils fiel es in meine Arbeitszeit im home office, teils war ich (im Bericht angedeutet) als Vereins-Jugendleiter Zuschauer bei Jugendturnieren, teils war ich auch bei schönem Wetter lieber an der frischen Luft.
Carlsens Rolle bei chess24 sehe ich – gerade als jemand, der dort von Anfang an dabei war und zeitweise auch Freelancer (Übersetzungen Englisch-Deutsch und zwei Bundesliga-Berichte) – durchaus kritisch. Wie würde man reagieren, wenn sich eine politische Partei oder ein DAX-Unternehmen (bzw. deren Vertreter) bei einer Tageszeitung oder einem Fernsehsender einkauft? Würde man glauben, dass es die redaktionelle Berichterstattung nicht beeinflusst? Das gibt es in einigen Ländern – in Deutschland nicht und das ist gut so.
Das Carlsen Invitational verfolge ich überhaupt nicht, da sich mir der ganze Sinn des Formats nicht erschließt. Da wird sinnlos Geld rausgehauen für Leute, die sich nix beweisen müssen und jemanden feiern, der von seinem Status so dermaßen überzeugt ist, dass er eine Veranstaltung vom Zaun bricht ohne jeglichen sportlichen Wert, um seinem Prestige gerecht zu werden. Anders ist es bei der Konkurrenz von Chess.com. Deren Format „IM not a GM“ reisst einen echt vom Hocker, weil hier die Kontrahenten richtig hart rangenommen werden im Blitzen bis zum Bullet und man nur staunen kann, wie in Sekunden Bruchteilen Taktiken vom Stapel gelassen werden, die man kaum hat kommen sehen. GM Robert Hess und seine Co-Moderatoren sind ständig am Puls der Spiele und kommentieren absolut schachbegeistert und unterhaltsam. Die Auseinandersetzungen sind durch die sich ständig verkürzenden Format- und Bedenkzeiten auch wesentlich spannender als die müden Carlsen Zocks, und häufig erst am Ende in der 25 minütigen Bulletsektion entschieden.