November 23, 2024

Eine Verbeugung

William Steinitz (r.) im Einsatz gegen Mikhail Chigorin im Jahre 1880.

Erst einmal muss es energisch ausgerufen werden: Was auf diesem Blog Uwe Ritter und – wohl sogar noch mehr beachtet – „der Negele“ beim DSB geleistet haben und das hoffentlich auch in Zukunft tun werden, ist schlicht großartig! Es kommt darauf an, mit dem heiligem Ernst der Wissenschaft, mit dem Augenzwinkern der Erzähler und der Neugier der in der Zeit Suchenden seinen Leser für zeitlich weit Entferntes zu interessieren und im nächsten Schritt zu begeistern!

Mikhail Chigorin

Dieses kleine Wunder gelingt beiden immer wieder, bravo! Allein der verblüffende Satz „Johannes Zukertort … war Soldat, Musiker, Linguist, Journalist und politischer Aktivist“ birgt noch Stoff für viele neue Entdeckungen, wie wir uns ja Zukertort ohnehin kaum je zuwandten, obwohl die Zeit, in der er lebte, offenbar (eben auch: von ihm) wild bewegt war.

In der Summe entstand bisher, Zukertort hin oder doch, ein detailliertes, facettenreiches und eben auch vergnügliches „Lexikon“, dessen Fortsetzung man sich wünscht. Nachgehen könnte man ja zum Beispiel bezogen auf Steinitz und Tschigorin der nahe liegenden Frage: Wieso eigentlich Havanna?

Der eine war Prager, den es über Wien nach London und von da in die USA verschlug, als die just „vereinigten“ USA sich anschickten, in die Weltpolitik einzutreten. Der andere war noch weiter weg von der Zuckerrohrinsel und grübelte in Moskau über seinen Manuskripten. Da hätte doch Helgoland als Austragungsort ihres WM-Matches näher gelegen! Obwohl das nicht ohne Reiz gewesen wäre, wird dieses raschelnde, knisternde Zeugs eine Rolle bei der Wahl Havannas gespielt haben: Banknoten, am besten breit gebündelt. Widerlich, oder?

Geholfen haben muss – wie genau, wird zu ermitteln sein – ein weltgeschichtliches Ereignis:
Der Amerikanisch – Spanische Krieg 1898, in dem es den USA (Prsd. Mc Kinley) neben den Philippinen eben auch um Cuba ging und dessen bereits 1892 aufflackernden Wetter fühlbar gewesen mögen, ein ahnungsvoller Wind noch, der bald zum Sturm aufblähte und ein bereits ächzendes Weltreich endgültig pulverisierte. Die Verhältnisse in beiden bisher spanischen Kolonien wurden verändert, Handelsströme etwa von Tabak, Sklaven und Zucker wurden nun anders organisiert und machten auf beiden Seiten andere als zuvor reich. Kine Bange, wie immer blieben die kleinen Leute weiter klein.

Die Frage, wir kommen wieder auf die begeisternden Negele & Ritter, warum Havanna, weiß und hibiskusrot? erfuhr dadurch vielleicht einen Denkanstoß, aber, ach! noch keine Lösung. Würde man nach jedem Krieg der USA eine Schach-WM ausspielen, käme der betreffende Champion ja gar nicht mehr hoch vom Brett.

War also in Cuba mittlerweile eine Schachtradition entstanden, aus der einige Zeit später sogar ein gewisser Capablanca entstammen sollte? Wollte man dieses zarte Pflänzchen der Begeisterung weiter sprießen lassen? Oder ging es den Geldgebern von 1892 darum, ganz modern Werbung für Cuba zu machen? So weit wird man damals wohl noch nicht gewesen sein.

Wie also hatte sich den Zuckerbaronen und Reedern der Gedanke aufgedrängt, mit ihrem Geld irgendeinen in den derben USA schließlich weitgehend unbekannten Russen und einen zugereisten „Österreicher“, zu überreden, ausgerechnet in der dampfheißen Karibik einen Weltmeisterschaftskrampf um dieses seltsame Schach austragen zu lassen?

Warum dort, wo die Spanier zwar für eine ansehnliche, leicht und beschwingt wirkende Architektur nebst höchstprozentigem Rum – die Rache Cpt. Morgans – und, unfreiwillig weil unkatholisch, einen offenen Lebensstil hinterlassen hatten, aber gewiss keinen zweiten spanischen Königshof, an dem dann eben ein zweiter Ruy Lopez sich entpuppen würde? Geschichte pflegt sich aber nicht zu wiederholen …

Wieso das entlegene Havanna gleich zweimal als zeitweiliger Kulminationspunkt der Schachwelt ausgewählt wurde, das zu klären, bleibt Ritter & Negele, also Watson & Holmes der Schach-Historie, vorbehalten. Es scheint bisher noch nicht geklärt worden zu sein.

(Ralf Mulde)

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