September 1, 2024

Entfallender Spielbetrieb wegen der wirren Viren

Alternative: „Begegnunglose“ Partien

Entgegen aller Vermutungen waren sogar die (meisten) Schachspieler nicht weltfremd oder irre genug, sogar jetzt ihre Partien weiter zu spielen. Ganz klar, auf den Turnier-WCs gibt’s neben den Handys kein Papier mehr, ist ja irgendwie unhygienisch, die üblichen asthmatischen Hüstler, der nervöse Schachspieler-Katarrh, in jedem Turniersaal hundertfach hörbar, löste bisher nur Unwillen aus, heute aber sind Flucht-Reaktionen die mögliche Folge.

Wer nahe an der sonst für Störungen sorgenden Tür sitzt, wähnt sich heute vom Glück begünstigt. Gespielt werden kann eigentlich überhaupt nicht, im Sinne von „verbotene Versammlung“, denn die gebotenen und vernünftigen (!!) Mindest-Abstände zwischen zwei sich länger als nur einen Augenblick am rund einen halben Meter breiten Brett (beste Nies-Entfernung) begegnenden Personen lassen sich so nicht einhalten.

Die FIDE schreibt in ihrem nützlichen und verbindlichen arbiter’s handbook (4) „For all official FIDE tournaments the length of the table is 110 cm (with 15% tolerance). The width is 85 cm (for each player at least 15 cm).“ Wer an etwas Anderem rochiert, kann also zumindest keine Elo-gewertete Partie spielen, denn die sind immer „official“.

In solchen Zeiten ein Turnier, eine Weltmeisterschaft oder sonst etwas Schachliches anzubieten, wäre nicht nur unverantwortlich, sondern zum Glück auch ein Verstoß gegen das Gesetz. Im Berliner DSB mag an (erst) dieser Stelle irgendein ferner Willi Wichtig aus dem Dämmerschlaf aufmerken und murmeln „Das Gesetz bin ich“, ändert aber nix. Auch das: Zum Glück.

Du kannst zwischendrin Deinen Gartentisch nachmessen und zollstöcklich feststellen, ob das für die Darreichung von Grillwürsten, Bier, Miniwasser etc. gedachte Möbel, an dem schon Heerscharen einfallender Männerrunden ihren Spaß hatten, ob also dieses Ding (könnte eigentlich mal wieder gebeizt und lackiert werden) für größtmeisterliches Schach geeignet ist … wäre.

Mit Franz Jittemeier tauschte ich mich am Telefon über Fernschach als Alternative aus. Der saß übrigens behaglich im Sonnenschein auf seinem virensicheren Balkon und sinnierte über Schach. Der von meinem balkonierten Meister vertretenen These, dass „da doch bloß Computer gegeneinander spielen“, musste ich zumindest teilweise widersprechen. Den meisten leuchtet das Argument schon fast ein, dass im Fernschach noch immer eine große Menge der Begegnungen „entschieden“, also von Schwarz, Weiß oder Grün (wäre doch mal hübsch!) gewonnen werden.

In den Etagen der Fern-Super-GM steht jedoch eher die Angst vor dem Verlust und vor allem vor dem Elo-Verlust im Vordergrund, so dass die Remis-Zahl dieser durch keinerlei Preisgeld, Freibier oder Extra-Pudding motivierten Recken enorm ist. Das aber ist in FIDE-Turnieren ganz ähnlich. Langweilt der auskömmlich entlohnte Peter Leko eigentlich noch?

In den unteren Elo-Bereichen, also unter Zwofünf, wird durchaus gewonnen und damit eben auch (schluchz!) verloren. Das liegt daran, dass hier eben nicht Computer gegen Computer spielt, sondern Computer plus Mensch gegen Computer plus Mensch. Der Computer hat einen begrenzten Erkenntnis-Horizont. Den hat der Mensch auch, ein uraltes Problem der Philosophie, so dass sich hier also zwei Welten begrenzter Fertigkeiten begegnen und ergänzen sollen.

Im Idealfall auf Fern-WM-Niveau entwerfen die Kribbens, Nickels und Buses einen eigenen (!) Plan durch beständiges Hypnotisieren des Brettes, probieren den in einer nahezu unendlichen Zahl von Abweichungen aus (genau. Das darfst Du am Brett nicht. Nebenbei sportschau gucken übrigens auch nicht), verwerfen ihn wieder, lassen sich etwas Anderes einfallen … und das alles auf der Grundlage jener Erkenntnisse, die uns seit Staunton, Steinitz, Tarrasch und Nimzowitsch und Tartakoffer einen sicheres Geländer auf dem Schachgelände geben. Ohne das geht’s nicht.

Gerade in diesen fiesen „wie Ziethen aus dem Busch“ Eröffnungen wie Réti, Kö’indisch i.A. oder Bens Omi, signalisieren die Engines oft schon quasi „Ende der Partie“, wenn’s doch eigentlich erst richtig losgeht.

In der Tat denke ich, dass Fernschach nicht mehr lange sinnvoll sein wird. Im Augenblick aber ist es (noch) anders. Schon bald werden die frei käuflichen Computer die Erkenntnis-Grenze so weit nach hinten geschoben haben, dass Fernschach im sportlichen Bereich keinen Sinn mehr ergeben wird. Anders ist es im „wissenschaftlichen“ Einsatz, ob also die Drachenvariante nun doch endlich widerlegt sei, ebenso das Königsgambit usw. Warten wir’s ab und spielen wir bis dahin einige „begegnunglose“ Partien!

(Ralf Mulde)