Von GM Hertneck, München
Die weltweite Corona-/Covid19 Krise wird nach Überzeugung Vieler zu einem gesellschaftlichen Wandel führen, dem sich auch das Schach nicht entziehen kann. Die Grundfrage lautet hier, ob das neuerdings obligatorische „Soziale Distanzieren“ zu dauerhaften Veränderungen führt oder nicht. Natürlich denken Andere, dass das Leben nach der Krise so weitergehen wird wie bisher. Im Schach kann man es schnell auf den Punkt bringen, was sich ändern wird: es wird einfach mehr Online-Turniere auf den vielen Schachservern dieser Welt geben. Und das Angebot für die Zuschauer wird einfach komplett ins Internet verlagert, wie bereits beim laufenden Kandidatenturnier in Ekaterinenburg – wie den „Corona-Regularien“ zu entnehmen ist:
Folgende Gesundheits- und Sicherheitsmaßnahmen werden in Kraft treten:
- Für alle Teilnehmer des Turniers sowie für Offizielle und Besucher im Auditorium wird ein Kontrollpunkt mit einer qualifizierten Krankenschwester eingerichtet. Zu diesem Zeitpunkt werden die Besucher vor dem Betreten des Spielzimmers auf Symptome von Covid-19 überprüft, einschließlich der Überprüfung ihrer Körpertemperatur.
- Händedesinfektionsmittel auf Alkoholbasis sind jederzeit verfügbar.
- N95-Gesichtsmasken sind immer in der erforderlichen Menge verfügbar. Abhängig von der Einschätzung der Situation kann das Tragen von Masken für Besucher des Auditoriums obligatorisch werden.
- Handschütteln vor und nach dem Spiel ist optional.
- Zuschauer, die zum Veranstaltungsort kommen, haben keinen Zugang zum Spielbereich.
- Vorbeugende Maßnahmen (Masken, Desinfektionsmittel) müssen auch in allen Hotelzimmern, in denen sich Teilnehmer und Beamte aufhalten, sowie in allen für das Turnier verwendeten Fahrzeugen vorgesehen werden.
Je nach Anforderung können andere vorbeugende Maßnahmen ergriffen werden.
Man wundert sich ein wenig, dass in diesen bewegten Zeiten überhaupt noch ein Schachturnier in gewohnter Form ausgetragen wird, wo doch fast alle Turniere weltweit abgesagt wurde, wie ein Blick auf „Follow Chess“ verrät. Dieser Anbieter hat sich ja auf die Übertragung von Schachturnieren spezialisiert. Aktuell läuft nur das Kandidatenturnier (ein gewaltiges Alleinstellungsmerkmal!) und ein Computerturnier, die Top Chess Engine Championship (TCEC). Alle anderen Turniere (die untenstehende Turnierliste ist natürlich noch viel länger!) wurden entweder am 17. März beendet, oder „due to coronavirus concerns“ abgesetzt.
Am härtesten hat den Autor übrigens die Absage seiner beiden Lieblingsturniere getroffen, und zwar des kleinen aber feinen Turniers in Görlitz, das immer über Ostern stattfindet, sowie des fantastischen Wiener Opens, wobei letzteres allerdings der neuerdings gewaltigen Mietforderung im Wiener Rathaus geschuldet ist. Dies führt zwar etwas ab vom Thema, soll aber trotzdem kurz geschildert werden, weil es ein symptomatischer Fall ist. Der Präsident des ÖSB, Christian Hursky hat kürzlich im Interview folgendes mitgeteilt:
Nach einer Prüfung des Rechnungshofes wird die Stadt Wien die Festsäle des Wiener Rathauses nur noch mildtätigen Organisationen zur Verfügung stellen. Viele Sportdach- und Fachverbände sind mit ihren größeren und kleineren Aktivitäten davon be- und getroffen. Seit 2009, als das Vienna Chess Open wieder veranstaltet wurde, waren zwischen 650 bis 950 Spielerinnen und Spieler aus mehr als 50 Nationen, zum Teil mit ihren Angehörigen, zufriedene Gäste des Turniers und der Stadt. Das sorgt auch für Umsatz im Tourismus, auch nachhaltig, denn hier wurde „Gutes“ über Wien erzählt. Aber ein 9-tägiges Turnier, über alle Säle würde bis zu 250.000 Euro kosten. Der Rechnungshof hat dem Sport und vielen anderen, nicht reichen Organisationen hier einen Bärendienst erwiesen.“
Man muss sich die Absurdität des Ganzen nur einmal vor Augen halten: ein neuntägiges Turnier mit geschätzten 400 bis 500 auswärtigen Teilnehmern, die alle übernachten und konsumieren müssen, dürfte einen wirtschaftlichen Wert von etwa einer halben Million Euro haben. Statt nun diese Einnahmen zu realisieren, werden fiktive Einnahmen von 250.000 Euro mangels Masse nicht realisiert, sondern alles muss ganz abgeblasen werden. Oder ist der vom Autor geschätzte Nutzen von 500.000 Euro zu hoch gegriffen? Kaum, denn bei der letzten Teilnahme in 2019 fielen bei ihm allein 1.000 Euro für Übernachtung und Frühstück an; dazu kamen noch die obligatorischen Einkäufe und weitere Kosten, sodass er mit rund 2.000 Euro weniger in der Tasche nach Hause fuhr… Und genauso erging es auch einem engen Freund (wir hatten uns zu einer gemeinsamen Teilnahme verabredet). Man möchte dem Wiener Rechnungshof an dieser Stelle attestieren, dass ihm die Fähigkeit zum vernetzten Denken abgeht…. Allerdings, und damit kommen wir zurück zum Thema, wäre das Turnier heuer sicherlich ohnehin coronabedingt abgesagt worden. Vielleicht gibt es ja nächstes Jahr ein Einsehen, und das Turnier kann doch wieder stattfinden!
Also, wir halten fest, dass es momentan weltweit kaum noch Schachturniere gibt, da diese im wahrsten Sinne des Wortes infiziert wurden. Dazu hatte die in Wien lebende holländische Schachspielerin Kineke Mulder folgenden Beitrag auf Facebook veröffentlicht, der hier gerne beworben werden soll:
Ist es also so, dass unser geliebtes Schachspiel bereits im Kern infiziert, und somit nicht mehr zu retten ist, solange die Krise anhält? Oder dass es komplett ins Internet abwandert? Dass es keine großen Turniere mehr geben wird? Nach Einschätzung des Autors zumindest in den nächsten 6 Monaten schon! Wir erinnern uns mit Schrecken, wie der Präsident des Bundesliga e.V. am 12. März die Absage der nächsten Doppelrunden der 1. Bundesliga ankündigte:
„Der Vorstand des Schachbundesliga e.V. hat heute beschlossen, den Spielbetrieb der 1. Schach-Bundesliga ab sofort und bis auf weiteres zu unterbrechen. Dies betrifft zunächst die Spieltage am 14./15. März 2020 sowie am 04./05.04.2020. Wann die betreffenden Runden nachgeholt werden können, kann derzeit noch nicht festgelegt werden. Uns ist diese Entscheidung wahrlich nicht leicht gefallen, zumal sie sehr kurz vor einem Doppelspieltag erfolgt. Der Schutz der Gesundheit aller Beteiligten hat für uns jedoch höchste Priorität. Hinzu kommt, dass sich die Lage auch mit Blick auf Restriktionen und Reisebeschränkungen hinsichtlich der Ausbreitung des neuartigen Coronavirus insbesondere seit dem gestrigen Tage erheblich verschärft hat, so dass wir diese Entscheidung heute treffen mussten.“
Wie wird es in der Bundesliga und in allen darunter liegenden Ligen wohl weitergehen? Aus Sicht des Verfassers gibt es nur zwei Optionen:
- Die gespielte Saison wird von den Verbänden komplett annulliert (als ausgefallen gewertet), und in der nächsten Saison mit gleicher Besetzung wie zu Beginn der Saison wiederholt.
- Der jetzt erreichte Zwischenstand wird als Endstand definiert, und die Aufsteiger und Absteiger entsprechend nach den Regularien bestimmt.
In beiden Varianten werden Einsprüche von den beteiligten Vereinen nicht zugelassen, denn dann käme man ja in den Wald.
Angenommen, die Entscheidung fällt für die zweite Variante. Dann stellt sich in den Ligen ein Problem, die doppelrundig ausgetragen werden, und in denen die Heimrunde (Einzelrunde) noch nicht von allen absolviert ist. Hier ein Beispiel für die Bundesliga Ost:
Der SV Deggendorf hat eine Runde mehr gespielt als der zweitplatzierte Münchener Schachclub 1836, weil er die Heimrunde erst am 15.03. gehabt hätte. Würde man jetzt einen cut machen, und Deggendorf zum Sieger erklären, wäre das offensichtlich ungerecht und schief. Nach meiner Überzeugung müsste das Ergebnis gewichtet werden, was am einfachsten anhand der Niederlagen und Mannschaftsremisen möglich ist. So hat Deggendorf einen Kampf verloren, und einen remisiert. Dagegen hat der MSC 1836 nur einen Kampf (knapp) verloren, und alle anderen gewonnen. Somit hat er in der negativen Bilanz die Nase vorne, und sollte aufsteigen. Dahinter steht natürlich die Erwartung, dass er die letzten beiden Runden gewonnen hätte.
Doch noch einmal zurück zu der Frage, wie sich die Schachpraxis weiter verändern könnte. Leider ist das Internet nicht die Lösung für alles. Denn bekanntlich regiert dort der Computerbetrug. Zwar muss man schon bei der Registrierung für einen Schachserver bestätigen, dass man sich dort fair verhält, und keine fremde (Computer-) Hilfe in Anspruch nimmt, doch wir wissen alle: der Geist ist willig, doch das Fleisch ist schwach! Zwar werden die online gespielten Partien auf (guten) Schachservern in der Regel mit Engines gegengeprüft. Das heißt, wer zu viele Computerzüge macht, fliegt früher oder später raus. Doch man könnte sich ja noch geschickter anstellen, und nur Teilunterstützung (für eine wichtige Partiephase) oder nur in der Eröffnung Rat suchen. Wie ging die Variante noch mal? Moment mal, wozu gibt es Eröffnungsbibliotheken! Und wie war das Endspiel zu behandeln? Ach ja, da gibt es ja Endspieldatenbanken! Man merkt schon, Turnierpartien mit langer Bedenkzeit kann man auf einem Schachserver nicht ernsthaft austragen!
Damit haben wir den Trend erkannt, dass sich Schach im nächsten Halbjahr enorm beschleunigen wird, d.h. es werden überwiegend nur noch Blitzturniere und vielleicht Schnellturniere gespielt.
Eine andere nicht unwesentliche Frage lautet natürlich, wie sich das soziale Zusammenleben im Schach durch das erzwungene „Home Office“ verändert. Zu wünschen wäre, dass die Spieler auf den Schachservern endlich respektvoller miteinander umgehen. Wohl jeder schon hat mal erlebt, wie er von seinem Gegner höchst unfair angegangen wurde. Dem Autor ist das selbst im letzten Jahr auf ICC passiert, nachdem er seinen Gegner an die Wand spielte. So eine üble Ansprache hatte er in 40 Jahren Schach noch nicht erlebt! Die Nachforschung bei den Admins ergab dann, dass der Gegner ermahnt und vorübergehend stumm geschaltet wurde. Aber natürlich nur auf gesonderten Antrag. Das ist doch ein Unding! Wie soll man Spaß am Schach haben, wenn man so beleidigt wird? Hier sind also die Anbieter aufgerufen, Menschen die sich nicht benehmen können, entweder ganz oder zumindest zeitweise vom Schachserver zu verbannen.
Ein weiterer Aspekt ist der der Technikaffinität. Bekanntlich sind ältere Spieler oft nicht so vertraut mit der Technik, und tun sich daher schwer, mit den Jungen mitzuhalten. Für dieses Problem sieht der Autor nur eine Lösung. Lernt es. Wenn ihr teilhaben wollt, dann müsst ihr euch eben damit beschäftigen. Ohne Know How keine Teilhabe. So einfach ist das.
Gibt es noch weitere Auswirkungen? Ja sicherlich. Das ist das Heimstudium. Wem geht es nicht so, dass er oder sie immer dieselben Systeme spielt, und sich nicht mehr wirklich weiter entwickelt. Nun dagegen, in der erzwungenen Abstinenz vom geschäftigen Treiben ist es definitiv an der Zeit, sich zu Hause ernsthaft mit Schach zu beschäftigen! Und Altes und Gewohntes in Frage zu stellen. Die technischen Möglichkeiten sind in Zeiten von Chessbase und Megabase durchaus gegeben! Man muss nur den inneren Schweinehund überwinden!
Zum Abschluss stellt sich die Frage aller Fragen: wird Schach in den nächsten Monaten zum Erliegen kommen? Die Antwort muss lauten: im real life ja, doch im Internet wird es nochmals aufblühen. Trotzdem werden wir sicherlich alle dankbar sein, wenn wir uns im Schachclub wieder in die Augen schauen können!
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