November 24, 2024

Zwischenstand in Wijk aan Zee

Es gibt noch ein paar – eher oder wie immer – launische Bemerkungen zum Geschehen bisher, und auch einige Fotos von Alina l’Ami. Da Wesley So auf dem Schachticker bereits ein Titelbild hatte, gebe ich es nun Surya Shekhar Ganguly. Der führt momentan in der Challenger-Gruppe, wobei es in beiden Fällen noch nicht besonders aussagekräftig ist.

Auf den ersten sechs Plätzen sind die Tabellen bei Masters und Challengers identisch – natürlich bis auf die Namen. Bei den Masters steht es so (ja, so): So 3/4, Xiong, Firouzja, Caruana, Jorden van Foreest, Artemiev 2.5, Carlsen, Giri, Duda, Dubov 2, Vitiugov und Anand 1.5, Yu Yangyi 1, Kovalev 0.5. Warum führt da momentan ein begeisterter Remisspieler? Ursachenforschung kommt noch. Warum steht neben ihm Carlsen im Mitelpunkt? Gute Frage. Nun ist er seit 111 Partien ungeschlagen, betrunken war er dabei schon in Runde 1. Er wurde gleich doppelt von jüngeren Spielern kopiert: einer im A-Turnier kopierte den Carlsen, der generell erscheint, einer im B-Turnier kopierte die Version Tata Steel 2020.

Challengers: Ganguly 3/4, Eljanov, Mamedov, Anton Guijarro, Nihal Sarin, l’Ami 2.5, Lucas van Foreest und Smeets 2, Smirnov, Grandelius, Keymer, Abdusattorov, Saduakassova 1.5, Warmerdam 1.

Nun doch Wesley So. Warum führt er momentan? Vielleicht, weil „the Lord“, bei dem er sich nach Siegen immer bedankt, Christ ist und damit kein Hindu und kein Muslim. Ansonsten gibt es zwei Gründe, warum ein Remisspieler Partien gewinnt: zum einen, wenn der Gegner verlieren will, zum anderen wenn er wirklich nullkommanullnullnull riskiert. Beides gab es bereits:

Anand opferte gegen den Wahl-Amerikaner einfach so eine Figur. Korrekt war es nicht – jedenfalls seine Fortsetzung danach war nicht korrekt, bei perfektem Spiel war es womöglich im Remissinne (Dauerschach) korrekt.

Links (abgesehen vom Getränk) quasi dasselbe Foto zwei Tage später – rechts ein anderer Gegner in anderer Denkerpose. Gegen Firouzja erreichte So ein Endspiel, das er ohne jegliches Risiko auf Gewinn spielen konnte und dann auch gewann. Damit hat sich der Hype um den Iraner Franzosen Fidestaner wohl ein bisschen abgekühlt, trotzdem ist er als nächster dran:

In Runde 1 kannte er die Kleiderordnung in Wijk aan Zee noch nicht, bzw. er wusste noch nicht, dass drinnen geheizt wird. Wie Carlsen konnte er seine Gegner hypnotisieren, damit sie einfach schlecht spielen. Oder dachten sie „wir müssen ihm ein zwei Bauern vorgeben, sonst wird das nichts für ihn“? Das machte Kovalev in Runde 1, oder er hat in einer altbekannten spanischen Variante die Zugfolge durcheinander gebracht. „Altbekannt“ bezieht sich darauf, dass Kasparov und Karpov das ausgiebig geübt hatten. Inzwischen ist es auf höchstem Niveau aus der Mode gekommen, weiterhin gespielt wird es etwas darunter – auch schon zuvor in Partien von Kovalev und Firouzja.

Auch JK Duda gab Firouzja einen Mehrbauern. Gemeint ist nicht (Fotomoment) 1.d4 d5 2.c4 dxc4, den bekommt Weiß ja meistens zurück, aber wenig später hatte er definitiv einen weniger. Wühlen kann der Pole allerdings, und Firouzja verdaddelte seinen Vorteil wieder – remis.

Runde 3 gegen Artemiev lief etwas anders, Eröffnungen sind nicht die Stärke des ansonsten talentierten Russen. Firouzja musste nur bekannten Vorgängern folgen und stand aus der Eröffnung heraus blendend. Vielleicht bekommt er nun Ärger mit den Mullahs? Gegen Israelis darf man als Iraner nicht spielen, darf man wie ein Israeli spielen? Diverse Vorgängerpartien stammen von Emil Sutovsky, darunter auch die letzte nach 15 Zügen. Dabei hat Firouzja dieses Kapitel wohl abgeschlossen, und die Mullahs sind ja momentan auch anderweitig beschäftigt.

Für Furore sorgte auch Jorden van Foreest – er kannte nicht einmal die übliche Rolle des zweiten Niederländers im A-Turnier, aber das war Runde vier. Zuvor war er zweimal mit Weiß gut vorbereitet: 1.e4 c5 2.Sf3 und 3.c3!!, das gewinnt – naja, zumindest nicht forciert, aber gegen Yu Yangyi und Dubov gewann es. Seine Schwarzvorbereitung dazwischen gegen Jeffery Xiong war nur bis zum einem gewissen Zeitpunkt gut. Runde vier:

Carlsen hatte Angst vor dem Alapin-Sizilianer und bekam dann 1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lc4 Sf6 4.Sg5!? vorgesetzt. Jordens norwegischer Sekundant Johan-Sebastian Christiansen kennt die Schwächen seines prominenten Landsmanns: in dynamischen Stellungen ist Carlsen verwundbar – erst recht nun in Wijk aan Zee, da sein dafür zuständiger Sekundant Dubov selbst mitspielt. Mit dem Remis war Carlsen eher gut bedient.

Die übliche Rolle des zweiten Niederländers bei Tata Steel ist ja, dass Carlsen nach mässigem Start gegen ihn gewinnen darf. Jahrelang machte das Loek van Wely, letztes Jahr war Jorden van Foreest Loeks Nachfolger, anno 2020 nicht. Wie soll Carlsen da das Turnier gewinnen? Vielleicht ist es ja ein gutes Omen, dass er am Ruhetag van Wely besiegte – im Fussball.

Bevor ich zu Carlsen komme: Artemiev hat – wie Firouzja und JvF – bisher zwei Siege, eine Niederlage und ein Remis. Er war also in anderen Runden besser drauf als gegen Firouzja: seinen Landsmann Vitiugov besiegte er langsam aber sicher, den generell unglücklich agierenden Kovalev dagegen plötzlich – Kombination aus dem Nichts heraus nach gegnerischem Lapsus. Xiongs einzigen Sieg gegen Jorden van Foreest hatte ich bereits. Caruana besiegte Yu Yangyi, nachdem der Chinese sich unnötig von einem Bauern verabschiedete und dann definitv daneben griff.

Warum war Carlsen in Runde 1 betrunken? Ist die unvermeidliche Isklar-Flasche etwa mit Wodka gefüllt? Nüchtern hätte er doch nicht 4.Db3?! gespielt, zumindest war das nüchtern betrachtet einfach Quatsch. „Im Stile von AlphaZero“, so hiess es hinterher – vielleicht dessen frühe Trainingspartien, bevor es Schach langsam kapierte. Carlsen entwischte dann mit einem Weißremis, dito später ebenfalls mit Weiß gegen Xiong.

Seine ungeschlagene Serie ist für mich ohnehin ein kleines Wunder, das Wunder von der Isle of Man wo er beim Grand Swiss zweimal glatt verloren stand. Aber für Carlsen-freundliche Medien ist es ein Grund, den Norweger zu loben – andere Gründe gibt es dieses Jahr noch nicht.

Ein Wunder ist auch, dass Carlsen nach jeder Runde zu einem Interview bereit war – bisher haben seine PR-Berater ihn unter Kontrolle, das ist nicht immer der Fall. Ein anderer redet bekanntlich gerne – nicht nur bei diesem Turnier bei dem er Heimspiel hat, nicht nur in ein Mikrofon ….

und in mehreren Sprachen – Giri und Dubov sprachen wohl Russisch miteinander. Das war in Runde 3 vor Giris drittem Remis

gegen Vishy Anand auf ungewöhnliche Weise: Giri stand eher schlecht und wusste das durchaus. Nach eigener Aussage wollte er den Gegner nur etwas aus dem Konzept bringen und Zeit gewinnen, aber Anand war einverstanden!? Vielleicht auch unter dem Eindruck seiner übereifrigen Niederlage tags zuvor gegen Wesley So.

Zurück zu Giri: zuvor das bereits erwähnte Plusremis gegen Carlsen und noch ein Plusremis gegen Caruana. Die stärksten Gegner hatte er damit bereits, gut möglich dass er im weiteren Verlauf seinen Wijk aan Zee Ruf bestätigt und noch diverse Partien gewinnen wird.

Mit dem – warum auch immer – relativ oft fotografierten Erwin l’Ami redet er wohl Niederländisch. Wie jedes Jahr sagte Erwin auch diesmal, dass er mit seinem eigenen Turnier voll beschäftigt ist und keine Zeit für Giri hat. Giri beschloss „dann rede ich eben Russisch“ – laut Livekommentar sitzt er am Frühstückstisch mit Sanan Sjugirov.

Das war’s zu den Masters. Bei den Challengers führt Ganguly dank zweier Siege gegen die Elo-Kellerkinder Warmerdam (Sieger der höchsten Amateurgruppe 2019) und Saduakassova (weiblich), das ist vielleicht nur eine Momentaufnahme. Einer seiner Verfolger ist

Pavel Eljanov, der vielleicht denkt „Weltklasse bin ich nicht mehr, dann bin ich wenigstens bärtig“. Ein kurzer Ausflug zurück zu den Masters:

Auch Caruana mit Bartversuch!?! Giri versucht es auch mitunter, Karjakin versucht es, Carlsen hat wenigstens das derzeit geschafft – fehlen eigentlich nur noch Vishy Anand und Wesley So.

Schönste Partie bei den Challengers war gleich zu Beginn l’Ami-Smirnov 1-0 mit doppeltem weissem Qualitätsopfer. Und wer kopiert bisher Carlsen, Version Tata Steel 2020? Vincent Keymer, der mehrfach schlechte Stellungen Remis halten konnte. Unterschiede gibt es: Carlsen schaffte es auch mit Weiß, schlechter zu stehen (Kaymer auch, aber diese Partie hat er dann trotzdem verloren), Keymer stand zweimal total auf Verlust. Das hatte Franz Jittenmeier bereits erwähnt – Vincents Glück war u.a., dass der Gegner offenbar schön gewinnen wollte. Anton Smirnov verkombinierte sich statt auf „normale“ Weise zu gewinnen, plötzlich hatte der Australier nur noch Dauerschach. Wenn Lucas van Foreest schon im 43. Zug e6-e7 gespielt hätte statt zwei Züge danach, dann hätte Keymer eventuell aufgegeben. So entschied eine Geometrie … doppelt. 38.-Lg8? war „eigentlich“ der entscheidende Fehler – der Läufer durfte die Diagonale a2-g8 nicht verlassen. 46.-La2! hat das dann wieder repariert.

Zu Beginn hatte Keymer Weiß gegen Eljanov und landete in einem schlechteren, nach und nach verlorenen Turmendspiel. Dann hatte er plötzlich wieder eine Remischance, nutzte sie jedoch nicht. In Runde 3 ein Remis gegen Max Warmerdam – drei Jungspunde hatte er damit bereits, nach dem Ruhetag kommen mit Abdusattorov und Saduakassova zwei weitere und danach (bis auf Nihal Sarin) erfahrenere Gegner.

Bisher relativ weltmeisterliche Auftritte von Firouzja und Keymer – ob sie das Zeug zum Weltmeister haben wird die Zukunft zeigen. Wei Yi wurde in Firouzjas Alter als zukünftiger Weltmeister genannt, das hat sich inzwischen mehr oder weniger erledigt.

Ein paar hundert Spieler wurden noch nicht fotografiert, das kommt nun noch:

Das jeweils am Wochenende – Turniersaal und gastronomischer Bereich. Ein Erwachsener will offenbar gleich mit seinem Gegner analysieren – was die beiden Kids machen, da bin ich überfragt.

Unter der Woche ein tendenziell älteres Publikum

auf Sitz- und Stehplätzen

mit gepflegter Analyse und Bierchen dazu, das leere Glas war ja mal voll.

Soweit aus Wijk aan Zee, Donnerstag ja für die Masters Ausflug nach Eindhoven. Die interessantesten Partien vielleicht Carlsen-Dubov (Kopie gegen Original des dynamischen Schachs), Firouzja-Giri und Duda-Artemiev (da ist „ähm äh“ unwahrscheinlich). So könnte seine Führung behalten oder gar ausbauen: er hat Schwarz gegen Kovalev, und der wollte schon mehrfach verlieren und konnte diesen Plan umsetzen.