November 24, 2024

Königsweg in die analoge Welt

Von Norbert Wallet

Wer seinem Kind zu Weihnachten etwas Gutes tun will, sollte ihm ein Schachspiel schenken. Es ist das ultimative Fantasiespiel. Studien belegen, dass Schach spielende Kinder besser in der Schule sind. Aber das königliche Spiel ist ein lebenslanges Angebot. Schach – das ist auch eine Art Flirt

In der Vorweihnachtszeit spielen sich in den elterlichen Wohnzimmern alljährlich Szenen tiefer, aber unbesungener Tragik ab. Der Tag der Bescherung naht und unterm Tannenbaum soll beseeltes Kinderlachen herrschen, aber bloß kein enttäuschtes Geseufze und Gehader, keine handelsrechtlichen Erörterungen über Rückgabe- und Umtauschrechte.

Das kann Eltern in existenzielle Krisen stürzen. Nämlich dann, wenn der Augenblick der bitteren Wahrheit bleischwer im Raum steht und sich ein rabenschwarzer Gedanke schicksalhaft in den Hirnen der Erziehungsberechtigten festsetzt. Und einer muss ihn dann aussprechen: „Wir haben ihn verloren“, lautet er in etwa.

Die Erkenntnis nistet sich dann ein, wenn die eingesammelten Wunschzettel wohl entziffert, aber nicht mehr verstanden werden. Wenn statt Buch, Puppe oder „Mensch ärgere Dich nicht“ nur noch von siebten, zehnten oder 13. Staffeln irgendeiner „Friends“-, „Breaking Bad“- oder „Sex in the City“-Serie die Rede ist, von Nintendo oder Spielekonsolen, von „League of Legends“, „Counterstrike“ oder „Overlord“. Dann stoßseufzt es aus elterlichem Munde: „Wir haben sie verloren an die digitale Welt und alle Funkverbindungen sind gekappt.“ In diesem Moment tiefster Verzweiflung muss man sich einen Engel durch den Raum schwebend vorstellen, der den Gequälten die erlösende Formel ins Ohr säuselt: „So muss es nicht bleiben, es gibt einen Weg zurück, und er führt über 64 Felder.“

An dieser Stelle mag es genügen mit märchenhaften Überhöhungen, denn ganz nüchtern lautet die Botschaft an Eltern, die es mit ihren Kindern gut meinen: Schenken Sie ihnen zu Weihnachten ein Schachspiel – und wahre Weihnachtswunder erwarten Sie.

Ein Brett, 32 Holzfiguren. Kann das Computer-Kids tatsächlich begeistern? Den Versuch ist es wert. Entgegen manchem Vorurteil sind die Regeln schnell zu lernen. Und dann beginnt schon, ganz analog, das atemberaubendste Fantasiespiel der Welt. Das geht schon mit den Namen los. Könige und Königinnen, Läufer und Springer und Bauern. Eine ganze Märchenarmee, unterwegs in der Mission, den feindlichen König gefangen zu nehmen und den eigenen Monarchen zu schützen. Abenteuer sind zu erleben und Risiken einzugehen. Manchmal muss man sich von Lieblingsfiguren trennen, um vorwärts zu kommen, manchmal führt der Weg zur Rettung über ein dünnes Seil und jeder Zug kann den Absturz bedeuten oder den Sieg. Und jedes Spiel ist neu, unvorhersehbar, nie da gewesen.

Schach ist ein faires Spiel, es ist dein Kind, das Brett und das andere Kind, kein physischer Kontakt, nur der Kampf der Geister. Der König der Brettspiele hat uns viel mehr zu überraschen, als wir jemals gedacht haben. Denken Sie trotzdem, dass Schach für Kinder zu schwer ist?

32 Steine sind auf dem Brett. Eigentlich ganz überschaubar. Irrtum. Die Zahl möglicher Zugfolgen beträgt 10 hoch 10 hoch 50. Das sind mehr als Atome im Weltall. Das sind nur 10 hoch 80. Man
kann vom Schachbrett buchstäblich in die Unendlichkeit kippen. Es gibt kein höchstes Level, keinen Endgegner, Schach ist nie ausgespielt. Wer gut sein will, muss sich konzentrieren, muss sich in die Gedanken seines Gegenübers versetzen, muss ein bisschen vorausberechnen, muss sich vorstellen, was passieren könnte. Und Geduld ist gefragt. Kein Wunder, dass Schach spielende Kinder – jetzt kommt das ultimative Elternargument!–besser in der Schule sind. Tatsächlich boomt gerade das Schulschach in Deutschland. Und tatsächlich haben viele Studien belegt, dass Schach spielende Kinder mehr Kompetenz beim Problemlösen aufweisen, bessere Wahrnehmungs- und Konzentrationsfähigkeit besitzen, ein verbessertes Sozialverhalten zeigen und generell bessere Schulleistungen zeigen. Ohne Nachhilfe, ohne Lernstress, nur durch Spiel und Fantasie. Nur sollte der Einstieg in diese Welt der Kombinationen, der Schönheit und des Kampfes eben auch leicht gemacht werden. Bitte kein dröges Variantenbüffeln, Faustregeln auswendig lernen und Pauken. Es gibt Schachprogramme – ein brückenbauendes Zugeständnis an die digitale Welt –, die das königliche Spiel in Geschichten verpackt geradezu beiläufig beibringen.

Der Klassiker ist das von der Hamburger Firma chessbase entwickelte Programm „Fritz und Fertig“, von dem es inzwischen vier aufeinander aufbauende Folgen gibt. Der erste Kurs erzählt eine hübsche Geschichte. Der kleine Fritz hat gerade im Schloss Urlaubsvertretung für seinen Vater, als eine Aufforderung des Nachbarkönigs zum Schachspiel eingeht. Fritz muss ran. Dazu muss er sich erst mal mit dem Spiel vertraut machen, lernen, wie die Figuren ziehen. Das geht ganz nebenbei, zunächst ohne Brett. In der „Muckibude für Hirngymnastik“ kann er dann Schachmuskeln zulegen. Die Gripswaage zeigt an, wie weit die Kinder schon sind, ob sie schon bereit zum großen Kampf sind. Ungefähr ab sechs Jahren ist das Programm mit viel Vergnügen durchzuspielen. Es ist die Startrampe zu einem lebenslangen Spaß.

Er kann bis ins hohe Alter reichen. Schach senkt das Risiko für Demenz, Angstzustände und Depressionen. Auch das haben Studien gezeigt. Und nur der Vollständigkeit halber: Für die Zeit dazwischen ist es auch nicht schlecht. Schach ist die beste Paartherapie. Wie sagt die russische Großmeisterin Maria Manakowa: „In einer Schachpartie gibt es Angriffe und Widerstand,  Ablenkungsmanöver und Anspielungen, Verführungen und Sackgassen – wie beim Spiel zwischen zwei Liebenden, wie beim Sex.“ Das sollte doch anregend genug sein.

Wochenendbeilage der Stuttgarter Zeitung vom 7.12.2019

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