November 24, 2024

Mannschafts-EM insgesamt: Russland und Russland

Es wurde bereits erwähnt: am Ende gewannen bei der Mannschafts-EM die Favoritinnen und die Favoriten. Die Russinnen sind das bereits gewöhnt – seit 2007 gewannen sie fast immer (Ausnahme 2013: Gold für die Ukraine), bei den Russen hat es relativen Seltenheitswert. Jeweils hatte es sich im Turnierverlauf bereits abgezeichnet, und dann wurde es doch noch spannend. Einen Mannschaftspunkt Vorsprung hatten beide Teams, entscheidend waren jeweils „Details“ – im eigenen Match oder bei der Konkurrenz. Zunächst nochmals der Endstand in beiden Turnieren, wobei ich die deutschen Damen nicht nochmals erwähne:

Offenes Turnier: Russland 15, Ukraine und England 14, Armenien 13, Kroatien 12, Aserbaidschan, Spanien, Deutschland, Frankreich, Tschechische Republik 11, usw. .

Damen: Russland 16, Georgien 15, Aserbaidschan 14, Ukraine und Niederlande 12, Rumänien, Armenien, Türkei 11, usw. .

Fotoquellen sind auch diesmal der russische Schachverband und dessen Twitter-account, sowie Turnierseite und deren Facebook-Seite. Das Titelfoto hat ruchess.ru auf Twitter veröffentlicht.

Schwerpunkt in diesem Bericht Sieger und Siegerinnen, dann auch einige Worte zu den anderen Medaillenteams und ein bisschen bunt gemischtes.

Russland stolperte bereits in der ersten Runde – nur 2-2 gegen Dänemark: die frisch (oder eben nicht mehr frisch) von der Isle of Man angereisten Alekseenko und Matlakov verloren beide, damit nur ein Mannschaftspunkt. Wer war in der letzten Runde Matchwinner und damit Goldjunge für Russland? Da muss sich der Leser noch etwas gedulden. Dubov, der ebenfalls (und bedingt erfolgreich) auf der Isle of Man spielte, setzte ein erstes Eröffnungs-Ausrufezeichen, für ihn etwas untypisch im Zentrum: 8.-d5!?, was aus einem spanischen Anti-Marshall doch einen quasi-Marshall machte, war zwar nicht total neu aber für Gegner Jonas Bjerre doch überraschend. Objektiv führt es zum Remis, aber nur wenn Weiß immer richtig spielt. Dubov sagte, dass er das bereits gegen Niclas Huschenbeth auf der Isle of Man vorhatte, aber Huschenbeth spielte dann diesmal Italienisch.

Dann gewann Russland fünfmal nacheinander. Knapp (2,5-1,5) war es gegen Ungarn, Armenien und Ukraine, nicht so knapp gegen Österreich und die Türkei.

Das war das Match in Runde 6 gegen die Ukraine, dadurch übernahm Russland die alleinige Führung im Turnier. Matchwinner war Andreikin: um einen sich abzeichnenden Königsangriff zu entschärfen, gab Ivanchuk einen Bauern und tauschte die Damen – dann gewann der Russe eben im Endspiel. Am anderen Ende des Tisches führte Dubovs Eröffnungs-Experiment (5.-g5, 6.-h5, 7.-h4) zu Dauerschach.

Runde 7 gegen Deutschland hatten wir bereits – mehr als 2-2 war für Russland nicht drin, weniger durchaus (Engines hätten gegen Dubov gewonnen oder jedenfalls remisiert, Rasmus Svane verlor). Noch lag Russland alleine vorne, aber nach dem nächsten 2-2 war die Ukraine nach Mannschaftspunkten gleichauf und nach Wertung besser. Gegen Deutschland war der Gegner eben an diesem Tag (mindestens) gleichwertig, gegen England waren sie selber schuld. Vitiugov zerlegte McShane, Vitiugov-McShane 1-0 war ebenso glatt wie tags zuvor Nisipeanu-Vitiugov 1-0. Howell-Alekseenko war immer remislich, bleiben zwei Partien. Matlakov stand gegen Jones klar besser und erreichte nur Dauerschach – Chancen auf mehr hatte er vor und nach der Zeitkontrolle. Und Andreikin, sonst zusammen mit Dubov der erfolgreichste im russischen Team, hatte gegen Adams einen schlechten Tag erwischt. Adams ist zwar bekannt dafür, dass er Endspiele „irgendwie“ gewinnt – schon seit vielen Jahren, schon vor der sogenannten Carlsen-Ära. Aber erst machte er einen Fehler, den man bei der Strategie „remisliche Stellungen kneten“ im Gewinnsinne tunlichst vermeiden sollte: dreifache Zugwiederholung, sogar direkt nacheinander – Andreikin reklamierte nicht!? Und dann war Andreikins 55.-e4? 56.fxe4 Kxg4? jedenfalls sehr kooperativ.

Da sie gegen viele Teams bereits gespielt hatten, wurden die Ukraine und Russland in der alles entscheidenden letzten Runde recht weit herunter gelost. Die Ukraine hatte mit Kroatien die auf dem Papier leichtere Aufgabe, Russland traf auf Polen – die ihr insgesamt enttäuschendes Turnier noch reparieren konnten. Bei Polen zeigten die 2700er Duda und Wojtaszek „nur Normalform“, Piorun und Tomczak zeigten weniger.

Dubov überlegt hier vielleicht „soll ich -h5 spielen?“, aber erst nach 1.c4 e5 2.g3 Sc6 3.Lg2 war es soweit (3.-h5, bekannt aus Schnell- und Blitzpartien von Nepmniachtchi). Im 15. Zug dann ein schwarzes Qualitätsopfer, ab dem 22. Zug Dauerschach. Neben ihm wurde Alekseenko zum russischen Matchwinner: in ausgeglichener und recht vereinfachter Stellung versuchte er noch etwas, gewann Dame für Turm und Leichtfigur und verwertete seinen Vorteil sicher. Bei Remisen an den ersten beiden Brettern 2,5-1,5 für Russland, sollte das reichen? Wenn die Ukraine nebendran gewonnen hätte, wäre wohl selbst 4-0 nicht genug für Gold.

Was passierte nebenan? An Brett 2 nicht allzu viel, und dann wurde es remis. An Brett 3 zeichnete sich das aus russischer Sicht richtige Ergebnis Moiseenko-Stevic 0-1 ab, aber ansonsten eher schlechte Nachrichten für Russland. Brkic hatte Onischuks König nach Figurenopfer über das halbe Brett gejagt – mehr als Dauerschach war es nicht aber der Kroate wollte mehr und bekam weniger. Später hatte er noch Remischancen, die er aber nicht nutzte. Früher wäre sein Angriff, anders inszeniert, offenbar vielversprechend gewesen. Die Eröffnung (Italienisch) erinnerte stark an Giri-Anton 1-0 aus Runde 2, jeweils war schwarzes c6-c5 laut Engines ein grober Fehler, im ersten Fall der partieentscheidende.

Ivanchuk hatte gegen Saric Dame gegen Turm und Läufer, die Ukraine schien demnach auf der Siegerstrasse. Aber dann konnte er seinen Vorteil nicht verwerten, sondern erlaubte zu viele Vereinfachungen und am Ende eine schwarze Endspielfestung. Das war die gute Nachricht aus russischer Sicht – Engines sagten zwar etwa +5, aber Tablebases (und Endspielwissen) sagte Remis.

Das war dann Gold für Russland und Silber für die Ukraine, die das direkte Duell verloren hatte und sonst praktisch alles richtig machte – noch ein Mannschaftsremis gegen Armenien. Für die diesmal nur an acht gesetzte ukrainische Gelegenheits-Truppe war Silber wohl auch ein Erfolgserlebnis, auch wenn noch mehr möglich war.

Für Russland punkteten vor allem Andreikin (5,5/8, wichtiger Sieg gegen Ivanchuk aber dumme Niederlage gegen Adams) und Dubov (5,5/7). Schwachpunkt im Team war Matlakov (2,5/6, immerhin nach Runde 1 keine weitere Niederlage). Goldjunge war am Ende Alekseenko, der seinen Auftritt vom FIDE Grand Swiss nicht bestätigte, sondern im Rahmen seiner veralteten Elo 2674 blieb.

Bei der Ukraine waren außer Brett 4 Moiseenko alle gut drauf. 6/8 für Vladimir Onischuk war dabei etwas glücklich: verdächtige Stellung gegen Martirosyan, Verluststellung gegen Svane, Brkic konnte Remis forcieren – und 3/3 aus diesen Partien. „Wer wagt gewinnt“ – so kann man es auch sehen.

England begann ebenfalls mit einem 2-2 – gegen Österreich, das am Ende etwa seinen 22. Platz in der Setzliste bestätigte. Verloren haben sie dann gegen die Ukraine, das 2-2 gegen Russland war (siehe oben) recht glücklich, und am Ende war ausgerechnet der sonst etwas formschwache David Howell Matchwinner gegen Deutschland.

Bilder zu Russland kommen später, erst zweimal der Turniersaal:

Hier im Vordergrund das polnische Team (drei von vier)

Hier niemand im Vordergrund.

Zum Damenturnier: Anfangs marschierte Russland – fünf Siege in Serie, darunter in Runde 4 gegen die an zwei gesetzten Georgierinnen. Matchwinnerin war Gunina gegen Arabidze, auf für Gunina-Verhältnisse etwas ungewöhnliche Weise: früher Damentausch und dann die Gegnerin komplett überspielen – keine Komplikationen, kein Umweg über eine schlechte bis verlorene Stellung. Taktische Motive spielten allerdings eine Rolle.

Runde 6 lief dann nicht nach Wunsch: nur 2-2 gegen das an allen Brettern 100 bis fast 200 Punkte eloschlechtere Aserbaidschan. Vier Remisen – drei eher geräuschlos, und Girya konnte ein eigentlich klar gewonnenes Endspiel nicht gewinnen.

In Runde 7 dann 4-0 gegen Polen, mehr geht nicht. Warum lief es bei den Polinnen generell nicht?

Wenn man/frau sich nicht einmal einig ist, ob man die Figuren vor Partiebeginn ein- oder beidhändig zurecht rücken sollte, dann läuft es eben nicht.

In Runde 8 wieder Sand im russischen Getriebe. Armenien ist auf dem Papier bei den Damen noch schlechter als Aserbaidschan, dennoch nur 2-2 und das war gar mühsam-glücklich. Gunina zeigte sich von ihrer anderen Seite und verlor mit Weiß ziemlich glatt gegen Anna Sargsyan, die mit insgesamt 7/8 (TPR 2626) ihre Elo 2242 nicht bestätigte. Lagno musste dann mit Turm und Läufer gegen Turm gewinnen und schaffte das – bzw. WIM Ghukasyan schaffte es, dieses theoretisch remise aber praktisch trickreiche Endspiel zu verlieren. Weiterhin ein Mannschaftspunkt Vorsprung auf Georgien, die gegen Aserbaidschan ebenfalls 2-2 gespielt hatten und in dieser Runde die Ukraine 3-1 besiegten.

In der letzten Runde hatte Russland mit der Türkei noch eine „lösbare“ Aufgabe, und diesmal gewannen sie glatt 3,5-0,5. Georgien traf auf Georgien 2 – eine etwas pikante Paarung, 3-1 sicherte Silber. Aserbaidschan-Armenien 2,5-1,5 brachte den Siegerinnen Bronze. Bei den Männern ist diese Paarung oft medaillenträchtig, bei den Damen ist es neu. Nur Blech für die Ukraine, die auch ohne Doppel-Muzychuk immerhin an drei gesetzt war. Schon beim knappen 2,5-1,5 zu Beginn gegen Deutschland deutete sich an, dass vielleicht etwas nicht ganz stimmte. Es folgten nicht einkalkulierte Niederlagen gegen Italien und Serbien, die gegen Georgien war eher einkalkuliert.

Die Niederlande spielten bei den Damen erfolgreich Schweizer Gambit, siehe die sehr schlechte Wertung. Nach Runde 5 belegten sie nur Platz 23, aber am Ende hatten sie einen Mannschaftspunkt mehr als drei Teams mit im Turnierverlauf stärkeren Gegnern. Das ist die Einleitung für das NL-Kapitel – persönlicher Hintergrund: 20 Jahre in den Niederlanden und 5 Jahre als Reporter dort in Wijk aan Zee und anderswo. Außerdem waren sie ja Farbtupfer im Turnier:

Die Damen mit Betreuer Jeroen Bosch

Einen Skandal, der in der niederländischen Boulevardpresse breit diskutiert wird, will ich dem deutschen Publikum nicht vorenthalten: Grundschullehrerin Anne Haast hat ihren Kindern ein Stofftier geklaut! Nicht alles was in der Boulevardpresse steht stimmt, und vielleicht habe ich das auch erfunden. Gelohnt hat es sich jedenfalls, sie hatte das bei weitem beste Ergebnis im NL-Damenteam.

Oranje beneden? Dieser Herr, den ich von hinten nicht erkenne, sucht sie offenbar in der Turniertabelle ca. bei Halbzeit. Die Herren begannen mit drei Siegen, dann lief es praktisch gar nicht mehr – Ausnahme Runde 8, 3-1 gegen Österreich.

Giri im Interview. Nach zwei Siegen in Runde zwei und drei (einen hatte ich bereits erwähnt) fand er die Kurve und spielte fortan immer Remis – Absicht kann man ihm allerdings (auch diesmal) nicht unterstellen. Zum Schluss wurde er von Jobava schwindlig gespielt, aber seine Teamkollegen verfolgten vielleicht schon ein höheres nationales Ziel: auch sie standen schlecht, also akzeptierte Jobava mannschaftsdienlich das gegnerische Remisangebot – damit nur 3,5-0,5 für Georgien. Sinn der Sache war, dass es im Elorennen ins Kandidatenturnier nicht doch noch spannend wird.

Weitere Ursachenforschung, warum das an sieben gesetzte NL-Team Platz 17 belegte, nach Wertung vor Österreich und der Schweiz: Der generell sehr solide Erwin l’Ami hatte bereits auf der Isle of Man das Remisspielen ziemlich verlernt, nun hat er auch das Gewinnen verlernt (Ausnahme gegen Österreich). Insgesamt vier Niederlagen, und auch gegen den schwedischen Tiger Hillarp Persson stand er auf Verlust – wenn der seine Türme einmal nicht auf der zweiten Reihe sondern auf der a-Linie verdoppelt hätte. Erik van den Doel traf gar nicht ins Tor – „Doel“ bedeutet dabei „Tor“, ausgesprochen wird es übrigens „duhl“, nicht etwa „döhl“. Beide erzielten immerhin IM-Normen, die sie natürlich nicht mehr brauchen. An Jorden van Foreest lag es nicht: insgesamt 5,5/8, nur gegen Georgien war auch bei ihm der Wurm drin. Lucas van Foreest blieb lange sieglos und ungeschlagen, dann kam Georgien (am Ende so 2,5/6).

Nun nochmal Russland, eine Reihe Fotos – erst die offiziellen von der Turnierseite:

Warum lächeln Gunina und Girya gar nicht? Vielleicht wurde gerade die Nationalhymne gespielt. Nun vom russischen Schachverband:

Schon besser ….

Na also, geht doch! Rot und Weiß wurde durchgetauscht, himmelblau fehlt auf den beiden letzten Fotos.

Und das hat Nikita Vitiugov auf Twitter geteilt, Dubov macht da den Jugendlichen – auch mit seinem Handy beschäftigt.

Noch ein paar Fotos von der Turnierseite, erst die Rubrik „den/die gibt es noch“:

Tukmakov hatte im Laufe der Jahrzehnte diverse Rollen bei Mannschaftsturnieren. Spieler, das war einmal, danach Trainer/Käpten für Ukraine, Aserbaidschan, Niederlande und nun Weissrussland.

Pia Cramling war immer Spielerin. Diesmal hatte sie mit 8/9 wohl eines ihrer besten Ergebnisse. Die vier anderen (darunter ihre Tochter) sorgten für 11 weitere Brettpunkte und damit auch dafür, dass sie kaum starke Gegnerinnen hatte.

Den gibt es bereits, den 12-jährigen IM Marc Andri Maurizzi für Frankreich. Wie viele weitere Mannschaftsturniere er spielen wird liegt an seinen eigenen Fortschritten und wohl auch daran, ob Vachier-Lagrave, Bacrot und/oder Fressinet zukünftig wieder spielen werden.

FIDE erwähnte auf Twitter auch, dass es bei der Mannschafts-EM 1992 dieselbe Medaillenverteilung gab – Russland vor Ukraine und England. Erstmals fehlte damals die Sowjetunion (bzw. war vielfach vertreten). Russland spielte damals mit u.a. Kasparov, Bareev und FM Kramnik, für die Ukraine spielte schon damals Ivanchuk an Brett eins, vor Beliavsky und Romanischin. Für England spielte Adams an Brett 3 hinter Short und Speelman, und vor Nunn und Miles. Für Deutschland („West-“ entfiel erstmals) spielten Lobron, Hertneck, Hort, Lutz und Hickl – auch diese Truppe belegte am Ende Platz acht.

Von Ivanchuk und Adams fand ich keine Fotos aus dieser Zeit, zwei andere etwa zeitgleiche:

Kramnik 1993 in Dortmund (Stefan64 – Wikipedia)

Pia Cramling 1988 in Thessaloniki (GFHund – Wikipedia)

Zu Gerald Hertneck siehe seine FIDE-Eloseite, Datum des Fotos nicht überliefert. Und nun wieder in die Gegenwart, zwei Fragen müssen noch geklärt werden: Was braucht man beim Schach, und was ist eigentlich die Aufgabe des Teamkapitäns?

Bananen – hier werden sie mannschaftsintern verteilt

Kaffee! Oder etwa Tee?

Neben Bananen auch Wasser, die Ausnahme (Brett 2) bestätigt die Regel.

Weiter geht es schon diese Woche mit dem FIDE Grand Prix in Hamburg – wohl auch ein Grund dafür, warum einige Teams in Batumi nicht in Bestbesetzung spielten. Für Vachier-Lagrave, Grischuk und Nepomniachtchi geht es da noch um etwas. Für andere (Wojtaszek, Dubov, Duda, Vitiugov, Navara) eher nicht, die reisen von Batumi weiter nach Hamburg oder machen vielleicht einen Zwischenstopp zu Hause – sei es nur für klimabedingten Garderobewechsel.