Conrad Schormann – Um die Überraschung des Tages zu sehen, mussten die Zuschauer nicht lange die 250 Bretter absuchen. Es reichte, die Partie an Brett eins zu verfolgen. Dort ließ US-Großmeister Gata Kamsky gegen den zwölfjährigen Inder Vuppala Prraneeth einen halben Punkt. Aus der Eröffnung war Kamsky noch mit bequemem Spiel herausgekommen, doch der Weiße mischte trotzdem munter mit. Als Prraneeth nach 33 Zügen eine Zugwiederholung anbot, sah Kamsky nichts Besseres, als sie zuzulassen.
Die Spieler im oberen Saal dürfen sich zur zweiten Runde über die Anwesenheit eines ehemaligen WM-Finalisten freuen. Kamsky spielt an Brett 45, und das bedeutet den Umzug in den ersten Stock. „Aber da wird er nicht lange bleiben“, sagt Turnierdirektor Sebastian Siebrecht. „Gata ist Open-gestählt, er kommt sicher zurück, und ich würde wetten, dass wir ihn im Lauf des Turniers wieder an Brett eins sehen werden.“
Aber in der zweiten Runde ist das erste Brett Pavel Eljanov vorbehalten. Er wird es mit IM Christoph Singer vom FC Bayern München zu tun bekommen, eine von mehreren Paarungen Titelträger versus Titelträger, die uns die zweite Runde beschert.
Prraneeth Vuppala (2149) – Kamsky,Gata (2685) [E00]
23rd OIBM 2019 Gmund am Tegernsee (1.1), 26.10.2019
33.Tc8+ Td8 34.Tc7 Td7 35.Tc8+ Td8 36.Tc7
½–½
Elmar Kaiser kennt sich mit zwölfjährigen Talenten wahrscheinlich noch besser aus als Gata Kamsky. Er trainiert die „Chess Tigers“ in Bad Soden. Seinen kleinen Schützlingen kann er demnächst zwar keinen Glanzsieg über einen fast 400 Elo schwereren Gegner vorführen, aber eine überaus couragiert vorgetragene Niederlage. Und eine tiefe taktische Idee, die dem Großmeister auf der anderen Seite des Brettes arges Kopfzerbrechen bereitete.
Ob sie schon gejubelt haben in Bad Soden, als sie die Live-Ergebnisse sahen? Kaisers „1-0“ entpuppte sich als technischer Fehler und wurde bald zu einem „0-1“ korrigiert.
Kaiser,Elmar (2131) – Nasuta,Grzegorz (2534) [C95]
23rd OIBM 2019 Gmund am Tegernsee (1.13), 26.10.2019
1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lb5 a6 4.La4 Sf6 5.0–0 Le7 6.Te1 b5 7.Lb3 d6 8.c3 0–0 9.h3 Sb8 10.d4 Sbd7 11.Sbd2 Lb7 12.Lc2 c5 13.d5 c4 14.Sf1 Dc7 15.Sg3 g6 16.Lh6 Tfb8 17.Dd2 a5
„Entweder du generierst Spiel am Königsflügel, oder du bekommst Probleme“, möchten wir dem Weißen hier angesichts des aufziehenden schwarzen Sturms am Damenflügel in Kombination mit dem Prachtfeld c5 für den Sd7 zurufen. Nur könnte der Weiße dann um einen Plan bitten, und den aufzuzeigen, ist alles andere als einfach. Vielleicht Tf1, gefolgt von Sg5 und f4? Das hatte ein Weißer in einer Vorgängerpartie versucht, und das lief gar nicht so schlecht. Weiß könnte auch sofort Sf5 ziehen, müsste dann aber im Zug danach erklären, was das leistet.
18.Sh2 Ah! Und jetzt h3–h4–h5? Oder irgendetwas mit Sg4?
18…b4 19.Sf5 Also doch.
19…Ld8
Und nun, das hatten wir schon, muss Weiß erklären, was Sf5 leistet.
20.La4 Lädt das den Schwarzen nicht zu …Sc5 ein?
20…Sc5 Nach 50 Minuten gespielt. Selten wurde eine Einladung so zögerlich angenommen, aber es galt, allerhand vorherzusehen und zu kalkulieren.
21.Lf8
Die weiße Idee. Dank des La4 ist der Lf8 tabu, und weißes Dh6 liegt in der Luft.
21…Se8 22.Dh6 [22.Lxe8 Kxf8 führt wie die Partie zu schwarzem Vorteil, aber nach dem raffinierten 23.Ld7! gxf5 wird Weiß am Königsflügel einige Bauern einsammeln und bekommt obendrein ein wenig Initiative für die Minusfigur nach 24.Dh6+ Ke7 25.Lxf5]
22…Sxa4 23.Lxd6 Schwarz muss die Dame geben, sonst wird er matt.
23…Dxd6 24.Sxd6 Sxd6
Nur hat der Schwarze mehr als ausreichend Material für die Dame bekommen, und die weißen Truppen stehen versprengt und unkoordiniert in der Gegend herum. So schlau ausgedacht die weiße Abwicklung auch gewesen sein mag, sie führt zu schwarzem Vorteil.
25.cxb4 Sxb2 26.bxa5 Sd3 [Der Sd3 ist mehr wert als der perspektiv- und felderlose Te2. Diesen Turm zu retten, kann sich Weiß nicht mehr leisten.]
27.Te2 Sf4 28.Tee1 f5
Jetzt droht tödlich …Sf7. Schwarz gewinnt.
-+
Generell setzten sich an den meisten Brettern die Favoriten durch. Das eine oder andere Remis mussten sie abgeben, aber wer den ersten Außenseitersieg suchte, der musste die Paarungsliste bis Brett 50 hinabgehen. Und fand einen Lokalmatador.
Christoph Pölt (17), Eigengewächs vom TV Tegernsee, triumphierte über den polnischen FM Michal Fiedorek – nach eigener Aussage der stärkste Gegner, den er je bezwungen hat. Kein schlechter Start ins Turnier daheim.
Pavel Eljanov, Nummer zwei der Setzliste, wies derweil auf instruktive Weise nach, dass das Fajarowicz-Gambit nicht die beste aller Eröffnungen ist, einer der vielen Favoritensiege:
Eljanov,Pavel (2663) – Biro,Sandor (2147) [A51]
23rd OIBM 2019 Gmund am Tegernsee (1.2), 26.10.2019
1.d4 Sf6 2.c4 e5 3.dxe5 Se4
Das gute, alte Fajarowicz-Gambit ist leider gar nicht so gut.
4.Sf3 [4.a3]
4…Sc6 [4…Lb4+ 5.Sbd2 Sc6 6.a3 Lxd2+ 7.Lxd2 Sxd2 8.Dxd2 De7 9.Dc3 wäre, wenn man so will, die Hauptvariante nach 4.Sf3, in der Schwarz „ausnutzt“, dass Weiß ihn …Lb4+ spielen lässt. Weiß hat trotzdem stabilen Vorteil, allein schon, weil alles andere als klar ist, ob Schwarz den Bauern auf e5 zurückbekommt.]
5.a3 a5 [Will dem Se4 das Feld c5 sichern, sobald der per Dc2 oder Dd5 angerempelt wird.]
[5…d6 6.Dc2 Lf5 7.Sc3! führt nach 7…Sxf2 oder 7…Sg3 zu lustigen Verwicklungen, die sich als gut für Weiß erweisen.]
6.Lf4
6…f6? [6…d6 7.exd6 Df6 fordert die Maschine, um die Lage weiter zuzuspitzen, und das wäre auch am ehesten im Sinne einer solchen Eröffnung.]
7.Dd5 Sc5 8.Sc3 Se6 9.e3 fxe5 10.Sxe5 Ld6 11.Sd3 Lxf4 12.Sxf4 Sxf4 13.exf4
Trocken vorgetragen von Weiß, der nach zwölf Zügen auf einen Mehrbauern und die klar bessere Stellung verweisen kann. Aus den beiderseits auf der offenen e-Linie verharrenden Königen kann Schwarz kein Kapital schlagen, im Gegenteil:
13…Se7 Wenn Schwarz rochieren will, muss er das so spielen…
14.Dh5+ g6 15.De5 0–0 …was zu einer scheunentoroffenen Rochadestellung führt.
16.c5!
Stark! Anstatt schematisch zu rochieren, legt Eljanov mit einem Zug den Finger auf zwei wunde Punkte. Lc4+ liegt in der Luft, und der Lc8 kommt nicht gut raus.
16…h6 17.0–0–0 Tf5 18.Lc4+ Kh7 19.De3 b6 20.The1 Sc6 21.Sd5 bxc5 22.g4 Tf8 23.Dxc5 La6
24.Se7?! Weiß sieht verdoppelte Türme auf der siebten Reihe voraus und kann nicht widerstehen. Nur hat die geplante Abwicklung ein taktisches Loch.
[24.Lxa6 Txa6 25.Sxc7+– und Schwarz wären die Ausreden ausgegangen.]
24…Lxc4 25.Sxc6 Df6 26.Txd7+ Tf7 27.Tee7?! [27.Td4+–]
27…Dxf4+ 28.Kb1
28…Lb3? [28…Te8! und plötzlich ist die Chose wieder trickreich.]
29.Sd4 Txe7 30.Dxe7+ 1-0
Obwohl noch stärkere Turniere als das am Gut Kaltenbrunn in Deutschland rar gesät sind, hat Eduard Miller dieses Jahr an einem teilnehmen dürfen: Er war für das „Masters“ beim deutschen Schachgipfel qualifiziert, ein Rundenturnier mit den besten deutschen Spielern, in das er dank einer bärenstarken Deutschen Meisterschaft 2018 hineingerutscht war. Dort maß sich Miller den Schachfreunden Nisipeanu, Fridman, Keymer – und hatte schwer zu kämpfen.
In der ersten Runde am Tegernsee ging ihm der Sieg nach einer hübschen taktischen Abwicklung im frühen Mittelspiel leicht von der Hand.
Miller,Eduard (2402) – Hallmann,Norbert (2105) [A85]
23rd OIBM 2019 Gmund am Tegernsee (1.40), 26.10.2019
16.Sxa7! [Nur so weist Weiß Vorteil nach.]
[16.Dxd7 Tfd8 verliert nicht die Dame wegen 17.Sd6!, ist aber in Ordnung für Schwarz.]
16…Le6 17.Sxc6! Lxd5 18.Lxd5 bxc6 19.Lxf7+ Kxf7
Und Schwarz stand mit einem Trippelbauern und einem überaus unschönen Endspiel da. 1–0 (46)
Institution am Tegernsee: GM Gerald Hertneck
Großmeister Gerald Hertneck war als Fan aus München zum Tegernsee gereist. Nicht in erster Linie als Schach-Fan, sondern als Fan der Malerei von Maria Yugina, deren Werke während des Turniers im Gut Kaltenbrunn zu sehen sind.
Obwohl er nicht mitspielt, ist der ehemalige National- und Top-50 Spieler bei der Internationalen Bayerischen Meisterschaft eine Institution. Schon bei der ersten Auflage (von mittlerweile 23) hat er mitgespielt und mehrere Male das Turnierbulletin betreut.
Wie fing damals alles an?
Artur Jussupow lebte 1996 in Bad Wiessee. Horst Leckner, Mitbegründer des Turniers, hat seinerzeit bei Artur und der Gemeinde angefragt, ob es nicht eine Idee wäre, in der Stadt ein Schachturnier zu veranstalten. Er hat außerdem alle Spieler vom TV Tegernsee gefragt, ob sie mitspielen würden, mich auch. Und ich habe sofort zugesagt. Die ersten Jahre war ich immer dabei, wenn es meine Arbeit zugelassen hat.
Hast du hier mal gewonnen?
Leider nicht. Einmal bin ich wegen eines halben Wertungspunktes Dritter statt Zweiter geworden, das hat mich 1.000 Mark Preisgeld gekostet.
Später hast du dann mehrere Male neun Tage lang zugeschaut und Bulletin geschrieben, anstatt mitzuspielen. Warum das?
Gerne geschrieben habe ich ja schon immer, und mein Eindruck ist, dass gerne gelesen wird, was ich schreibe. Abseits davon war mir die Gewissheit eines festen Honorars lieber als ein ungewisses Preisgeld. Als Teil des Organisationsteams hatte ich freie Übernachtung und Verpflegung, das war einfach ein attraktives Paket. Und die fünf, sechs Stunden Arbeit jeden Tag habe ich nicht gescheut.
Gab es damals Liveübertragung und DGT-Bretter? Oder musstet Ihr die Partien eintippen?
Doch, doch, Liveübertragung gab es hier schon ganz früh, aber anfangs nur die ersten zehn Bretter, zu wenige für denjenigen, der das Bulletin macht. Darum saßen in einem Extraraum ausgewählte Spieler des TV Tegernsee, um die Partien zu erfassen, sobald die Formulare rein kamen. Damit habe ich dann gearbeitet, um mir einen Überblick über das Geschehen zu verschaffen und das Beste herauszufiltern.
Das Regel-Rätsel:
Darf man sich während einer laufenden Partie etwas auf die Hand schreiben?
Mit dieser Frage sahen sich heute unsere Schiedsrichter Gregor Johann, Michael Weber und Hans Brugger konfrontiert. Ein Spieler monierte, dass sich sein Gegner etwas auf seiner Hand notiert hatte.
Ist das regelgerecht? Darf man sich generell auf der Hand herumkritzeln, generell nicht, oder nur spezielle Dinge nicht?
Wie unsere Schiedsrichter den Fall bewerten und entschieden haben, lösen wir morgen auf.
Glanzpartie gespielt?
250 Partien jeden Tag, ein Fünftel davon in der Live-Übertragung. Wir können unmöglich alle Partien im Blick haben – und übersehen deswegen womöglich das eine oder andere Glanzstück. Darum: Wer am Tegernsee seine persönliche Unsterbliche gespielt hat und sie im Bulletin verewigt sehen möchte, sendet sie nach der Runde per E-Mail an conrad.schormann@gmail.com
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