Dezember 4, 2024

Weltcup-Finale: Radjabov überrascht erneut

Total überraschend war es – siehe Titelbild – für einige offenbar nicht: Sie hatten die Nationalflagge Aserbaidschans im Reisegepäck dabei. Oder war die anfangs für Mamedyarov (oder Naiditsch) vorgesehen? Oder kann man sie auch in Khanty-Mansiysk käuflich erwerben? Oder kam sie per Kurierdienst aus Baku? Selbst per Flugzeug dauert es dann wohl länger als einen Tag.

Beide Finalmatches – das große und das kleine um Platz 3 – gingen in die Verlängerung, Ding Liren-Radjabov gar in die zweimal verlängerte Verlängerung, und waren dann plötzlich vorbei. Zum zweiten Match: Maxime Vachier-Lagrave bekam noch einen Trostpreis nach dem verlorenen Halbfinale, immerhin 10.000$ zusätzliches Preisgeld, und Yu Yangyis Chancen auf eine Wildcard im Kandidatenturnier sind von vielleicht 1% auf momentan 0% gesunken.

Zuerst der übliche Hinweis, dass ich alle Fotos auf der Turnierseite gefunden habe. Die jeweils vier Partien mit klassischer Bedenkzeit gehören auch zur Chronistenpflicht, wobei schachliche Farbtupfer nur bedingt vorhanden waren. Optische Farbtupfer fehlten auch weitgehend, schliesslich war Aronian mit seinen bunten Hemden bereits ausgeschieden. Ein paar fand ich doch:

In einem spontan organisierten Nebenturnier

Anna Rudolf im Gespräch mit Radjabov. Wenn ihr Oberteil mal leuchtend orange oder rosa war, wurde es wohl zu oft gewaschen – aber der Lippenstift ist frisch aufgetragen.

Eteri Kublashvili, sonst meistens dezent-dunkel gekleidet, überzeugte beim abschliessenden Interview mit Radjabov und Ding Liren. „Abschliessend“ ist relativ, tags darauf sassen sie erneut am Brett und spielten letztendlich sechs weitere Partien.

Schach wurde natürlich auch gespielt, und nicht nur von Damen und Herren mit (vermutlich) relativ bescheidener Elozahl.

Das ist die dritte Partie. Radjabov spielt gerade Sxe5, und das sollte mehr einbringen als für ihn zwei Tage zuvor, und für den Gegner tags darauf. Im Hintergrund nehmen Yu Yangyi und Vachier-Lagrave einen Timeout, um das Geschehen am Nachbarbrett nicht zu verpassen. Noch weiter im Hintergrund sind einige Personen auch abgelenkt, oder blicken sie auf einen (bzw. zwei) Monitor(e) an der Wand?

Das Finale Teil 1-4 im Schnelldurchlauf: Ding Liren hatte den Marshallstab im Reisegepäck und spielte mit Schwarz ebendiese Variante im Spanier. Dazu sagt Weiß heutzutage im Gewinnsinne eher „nein danke“. In der ersten Partie folgte Radjabov bis zum 27. Zug seiner eigenen Partie aus dem Gashimov Memorial 2019 gegen einen gewissen Ding Liren. Damals wurde es nach 43 Zügen remis, da König gegen König nun einmal unwiderruflich total ausgeglichen ist. Diesmal vereinbarten sie dieses Ergebnis nach 33 Zügen im Turmendspiel. War das wieder der bekannte Radjabov, der liebend gerne Remis spielt? Oder war es ein Aprilscherz Ende September (wohl nicht, da die Vorgängerpartie am 2. April gespielt wurde).

In der zweiten Partie dann der ebenfalls bekannte Radjabov, ist dabei etwas länger her: mit Schwarz unternehmungslustig, riskant und provokativ spielen: 1.c4 Sf6 2.Sc3 e6 3.e4 c5!? 4.e5 Sg8 – Aljechin auf Umwegen. Das gab es schon auf hohem Niveau, vor kurzer und vor längerer Zeit – z.B. Giri-Dubov 2016, Ivanchuk-Nakamura 2012 aber auch Kasparov-Beliavsky 1991 und Kortschnoi-Karpov 1978. Der Knackpunkt im 15. Zug: nach 15.0-0-0 musste Schwarz, nachdem Weiß gerade darauf verzichtet hatte, die Damen tauschen. Das machte z.B. Timman gegen Kortschnoi und auch die grösste deutsche Weltcup-Hoffnung Alexander Donchenko (Erklärung für diese Bemerkung kommt viel später) gegen Rasmus Svane. Wenn er dann auch noch seinen Mehrbauern freiwillig retourniert ist nicht mehr allzu viel los. Mit 15.-d6 behielt Radjabov die Damen auf dem Brett und leistete sich dann noch eine Ungenauigkeit. Weiß bekam Königsangriff, Schwarz nicht ansatzweise, daraus wurde 1-0.

Vorentscheidung im Match? Nein, tags darauf wieder Marshall und Radjabov variierte. Dabei wusste er, dass die gewählte Variante „eigentlich“ Remis ist, aber nur wenn Schwarz genau spielt – was Ding Liren nicht gelang: Ausgleich im Match.

Tags darauf war etwas künstliche Aufregung angesagt. Wie bereits erwähnt spielte auch Ding Liren Sxe5 – und zwar im siebten Zug nach zuvor u.a. 1.c4. Das gab es in dieser Stellung zuvor nur sporadisch, und nur auf Niveau Elo (weit) unter 2200. Ding Liren brauchte acht Minuten für „soll ich wirklich?“ und hatte nach eigener Aussage in der Vorbereitung 11.-Lg2 übersehen. So tief war die Vorbereitung also nicht, alles zwischendrin war recht forciert und 11.-Lg2 eine der Computerempfehlungen. Konkrete Vorbereitung auf diese Partie war es wohl auch nicht, da Radjabov auf 1.c4 noch nie so reagiert hatte – das jahrelang versäumte holte er dann im Stichkampf nach. Wie dem auch sei: Schwarz hatte volle Kompensation für einen Minusbauer, und es wurde remis. Im Vergleich zur zweiten Partie, ebenfalls Englisch und ein seltener Dialekt: ist Minusbauer besser als Mehrbauer? Andere Aspekte der Stellung spielen da auch eine Rolle.

Zum Match um Platz 3 noch etwas kürzer: zweimal Grünfeld, also hatte MVL Schwarz, und zweimal Russisch, also hatte Yu Yangyi Schwarz. Russisch ist ohnehin Remis, Grünfeld wurde auch remis. In der ersten Partie war auch ein doppeltes schwarzes Bauernopfer bekannte Theorie, bekannt u.a. aus Partien des Franzosen. Yu Yangyis Neuerung war für MGVL (Maxime Grünfeld Vachier-Lagrave) auch keine Überraschung, er spielte weiterhin flott, „fand“ (bzw. kannte eben) eine taktische Abwicklung und steuerte sein Schiff sicher in den Remishafen. Beim zweiten Versuch war ein anderes Abspiel und dann ein seltener, aber nicht total neuer neunter Zug für den Chinesen vielversprechender: MVL stand nach eigener Aussage mit dem Rücken zur Wand und betrachtete seine Stellung zwischenzeitlich als „womöglich verloren“, aber der Chinese (der hinten im Alphabet) konnte das dann nicht konkretisieren.

Also, nach tags darauf russischem Remis, Stichkampf. Und da dieser schnell vorbei war bleiben wir zunächst bei diesem Match. In der ersten Partie verzichtete Yu Yangyi auf Russisch – stattdessen Sizilianisch mit 2.-e6 und aufs Brett kam eine Nebenvariante ohne d2-d4, bzw. erst im 10. Zug als vielversprechendes vorübergehendes Bauernopfer. MVL blieb am Drücker und gewann ungefährdet. Dass er im 42. Zug eine schnelle Entscheidung im Mittelspiel zugunsten einer langsamen im Endspiel verschmähte (bzw. erstere wohl nicht gesehen hatte) ist allenfalls „Detail“. In der zweiten Partie zeigte sich endlich, dass Grünfeld eine tolle Eröffnung ist: Schwarz gewann in 24 Zügen. Das lag natürlich auch daran, dass Weiß unter Siegzwang den Bogen überspannte.

Danach ein Interview mit dem Franzosen (Kublashvili nun wieder farblos), und dann?

Platz nehmen im Publikum, was soll man auch sonst in Khanty-Mansiysk machen? Draussen ist es kalt.

Was machten die Kollegen? Zunächst spielten Ding Liren und Radjabov immer Remis. Die beste Chance hatte Ding Liren in der ersten Schnellpartie, die weisse Konstruktion am Königsflügel – Bauern auf f2 und h3, kein g-Bauer und dafür eine Dame auf h1, überzeugte Engines gar nicht, durchaus nachvollziehbar. Die beste Chance hatte Radjabov in der ersten Schnellpartie, nachdem diese vorübergehend komplett kippte. Dann wurde es remis, und insgesamt beruhigten sie sich bis auf weiteres. In der ersten Zehnminutenpartie hatte Radjabov mit Schwarz vorübergehend Oberwasser, aber bei beschränkter Bedenkzeit und am Ende eines langen Turniers nicht genug.

Im Blitz schlug er dann zu: Dabei hatte Ding Liren in der ersten Partie lange einen gepflegten leichten katalanischen Vorteil, verlor dann aber im Leichtfigurenendspiel (aus seiner Sicht Läufer gegen Springer) komplett den Faden. In der zweiten Partie war er dann mit Schwarz kurz mal nahe am nötigen Ausgleich (nebst Armageddon), nutzte seine Chance jedoch nicht und verlor letztendlich nochmals.

Radjabov beim fälligen Interview – im Hintergrund deuten die ganzen Flaggen an, wer alles früher aus Khanty-Mansiysk abreisen musste (oder durfte?).

Mitschreiben mussten die Spieler ja an diesem Tag nicht, aber dennoch bekamen sie noch Kugelschreiber und eine Verwendung dafür.

Und noch ein paar Bilder von der Abschlussfeier:

Die beiden Finalisten und noch ein Herr

Um die Weltcup-Geschichte umzuschreiben: als Trostpreis für Platz 4 bekam Radjabov einen Pokal, die anderen bekamen Blumen und Zertifikate. In der Realität war allerdings Bart eindeutig besser als bartlos. Das konnte das Halbfinale noch nicht klären, da die bärtigen Europäer und die glattrasierten Chinesen jeweils aufeinander trafen.

Radjabov mit Nachwuchs. Und nun noch das, was auch zu einer Abschlussfeier gehört:

Vor dem Ausblick nun erst ein Rückblick: Auf Twitter wies Douglas Griffin darauf hin, dass alle Weltcup-Sieger seit 2005 in der Sowjetunion auf die Welt kamen. Damit hat sich auch geklärt, dass – nachdem Naiditsch sich verabschiedet hat – deutsche Hoffnungen auf einen Weltcup-Sieger auf Alexander Donchenko (geboren in Moskau) und David Baramidze (geboren in Tiflis) ruhen, einige weitere gibt es natürlich auch noch. Voraussetzung für einen Sieg beim Weltcup ist übrigens Qualifikation für den Weltcup.

Die Zeiten scheinen sich allerdings langsam zu ändern: Von 2005 bis einschließlich 2015 waren fast alle Weltcup-Halbfinalisten (und auch die meisten Viertelfinal-Verlierer) gebürtige Sowjets. Ausnahmen waren nur Bacrot, Carlsen, Vachier-Lagrave und Giri (in Russland geboren, die Sowjetunion gab es 1994 nicht mehr). 2017 war Aronian dann der einzige ex-sowjetische Spieler im Halbfinale (außerdem Ding Liren, MVL und So). 2019 war Radjabov der einzige Ex-Sowjet, die anderen drei wurden ja im Artikel bereits erwähnt. Irgendwann wird wohl ein Spieler gewinnen, der nicht in der Sowjetunion geboren wurde – vielleicht Artemiev, vielleicht ein Chinese, vielleicht Vachier-Lagrave, vielleicht (längerfristig) Vincent Keymer.

Noch ein bisschen Langzeit-Statistik: aller Dinge sind auch dieses Mal drei mit unterschiedlichen Folgen danach. Ding Liren ist (nach Aronian und Svidler) der dritte Spieler, der zweimal im Finale stand – Erfolgsquote danach 100% für Aronian, 50% für Svidler und 0% für den Chinesen. Vachier-Lagrave ist (nach Ponomariov und Karjakin) der dritte Spieler, der dreimal im Halbfinale stand und dabei der schlechteste dieser drei: Ponomariov erreichte zweimal das Finale und verlor jeweils, auch Karjakin gewann nach Erreichen des Halbfinales noch zwei Matches – beide 2015, also damals Weltcup-Sieger.

Und noch ein paar Worte zu Radjabov: Kollege Conrad Schormann erwähnte mehrfach, dass er „allenfalls noch semiprofessionell Schach spielt“ sowie seine Remisquote von über 80%. Das stimmt(e), aber nicht in diesem Turnier – etwas Respekt und Anerkennung für das in Sibirien gezeigte ist vielleicht auch angebracht. Sein Weltcup-Sieg war wahrlich kein Zufallsprodukt, nur in einem Match (gegen Landsmann Mamedyarov) drohte er auszuscheiden. Sein Weg ins Finale: den „Plichtsieg“ zu Beginn gegen Helgi Dam Ziska von den Färöer-Inseln lasse ich mal aussen vor, dann gewann er die entscheidenden Partien meistens mit Weiß: im Schnellschach gegen Sjugirov und klassisch gegen Yuffa jeweils im Endspiel (gegen Yuffa fiel die Entscheidung eher im „damenlosen Mittelspiel“). Dann kam das anfangs lahme, später chaotische Match gegen Mamedyarov – am Ende „Kontersieg“ mit Schwarz. Dann zwei Weißsiege im Königsangriff mit klassischer Bedenkzeit gegen Xiong und Vachier-Lagrave. Er kann also alles, gelitten hat vielleicht das wofür er ursprünglich bekannt war: unternehmungslustig-riskant mit den schwarzen Figuren (u.a. Königsindisch und sizilianischer Drachen). Im Finale gegen Ding Liren wieder vor allem Endspielsiege, Ausnahme die allerletzte Partie, die der Gegner unbedingt gewinnen musste.

Bei Radjabov liegt es vielleicht – mehr als bei anderen Weltklassespielern – daran, ob er sich motivieren kann und ob er einen Lauf hat. Im Siegerinterview deutete er an, dass er im Kandidatenturnier mitspielen wird, aber eher „for fun“ bei gelassener (relaxed) Vorbereitung. Das kann man glauben oder nicht unbedingt, was dabei herauskommt wird sich zeigen. Was genau hatte eigentlich Vishy Anand vor seinem ebenso überraschenden wie überzeugenden Sieg im Kandidatenturnier gemacht?

Wie geht es für die anderen weiter? Im WM-Zyklus für viele schon ab 10. Oktober beim Grand Swiss auf der Isle of Man. Der von Ding Liren quasi für das Kandidatenturnier nach Elo qualifizierte Anish Giri hat allerdings kurzfristig abgesagt, was „kommentiert“ wurde: von Vachier-Lagrave (der eventuell auf ein schlechtes Ergebnis des Konkurrenten hoffen konnte) sowohl Verständnis als auch Kritik als auch indirekt die Forderung nach Konsequenzen. Laut Regelwerk drohen bei Absage ohne plausiblen Grund (satisfactory reason for withdrawal) Sanktionen durch das FIDE Presidential Board. Konkreter wird es nicht – Verwarnung, Geldstrafe, 50 Liegestütze (Vorschlag von PH Nielsen) oder gar Ausschluss aus dem WM-Zyklus?

Peter Heine Nielsen hat sich also auch eingemischt – angefangen hat es mit der ziemlich unsinnigen Behauptung, dass Giri dieses Jahr bewusst wenig spielte, um seine Elozahl zu schützen und damit seine Chancen auf einen Platz im Kandidatenturnier zu verbessern. Giri konnte nicht davon ausgehen, dass Ding Liren das Weltcup-Finale erreichen würde. Etwas weniger Partien als andere hat er, da er in der GP-Serie zweimal in der ersten Runde ausgeschieden ist – was seine Chancen auf Teilnahme am Kandidatenturnier nicht verbesserte. Aber PH Nielsen, an sich nüchtern-rational, gehört zum Carlsen-Lager – also muss er beim Giri-bashing mitmachen. Magnus Carlsen gehört auch zum Carlsen-Lager. Details dazu auf den jeweiligen Twitter-accounts.

Vachier-Lagrave fehlt ebenfalls auf der Isle of Man, dazu hatte er sich schon Anfang August auf seiner Homepage geäussert: Nur Platz 1 zählt da wirklich, und er gab sich 5% Siegchancen – zu wenig um zwei Wochen plus Vorbereitung (wann eigentlich Vorbereitung?) zu investieren. Wie die 5% zustande kommen sagt er nicht: 20 Spieler haben dieselben Chancen, einige haben bessere Chancen als er selbst (Carlsen und Caruana spielen dabei „ausser Konkurrenz“), mehr als 20 Spieler haben eine kleine aber reelle Chance, oder alles kombiniert? Wie dem auch sei, er verbringt den Oktober nun nicht am Schachbrett – wohl schon teilweise am Monitor zwecks Vorbereitung auf die verbleibenden Turniere der Grand Prix Serie.

Was sonst noch? Wer beim Europacup für Vereinsteams – ziemlich genau parallel zum Grand Swiss – dabei ist wird immer noch nicht verraten (bzw. zwar die Vereine aber nicht die Spieler), Aufstellungen für die EM der Nationalmannschaften (ab 24.10., drei Tage nach Ende des Grand Swiss) sind dagegen bekannt. Hier nur soviel: einige Länder (u.a. Aserbaidschan und auch Deutschland) etwa in Bestbesetzung, andere nicht. [Bei den Damen Deutschland nicht in nomineller Bestbesetzung, aber das war bereits bekannt und sprengt nun wirklich den Rahmen dieses Artikels]