Ist es nicht zu früh dafür? Schliesslich werden noch (mindestens) vier bzw. acht Partien gespielt. Mag sein, aber erstens habe ich am Wochenende eher Zeit, etwas zu schreiben, zweitens sind die wesentlichen Entscheidungen bereits gefallen. Sieger im Sinne von „Qualifikation für das Kandidatenturnier“ sind Teimour Radjabov (wer ist das denn?) und Anish Giri (noch nicht definitiv). Das sind nicht die beiden Finalisten – aber Ding Liren war bereits zu mindestens 90% nach Elo qualifiziert und ist nun zu 100% als Weltcup-Finalist qualifiziert. Er hätte auch Landsmann Yu Yangyi einen Platz im Kandidatenturnier verschaffen können, aber es kam anders und so hat der polyglotte Niederländer nun die besten Chancen im neu eröffneten Elorennen.
Auf alle Matches oder gar alle Partien (einige haben kaum stattgefunden, so ist es mitunter im KO-System) kann ich unmöglich eingehen. In diesem Rahmen drei Schwerpunkte: 1) Wie haben die beiden deutschen Teilnehmer abgeschnitten? Soviel sei bereits verraten: beide – Huschenbeth und Nisipeanu – kamen eine Runde weiter als erwartet. 2) Wer kam, wie und warum, viel weiter als erwartet? Auch da nenne ich zwei Spieler. 3) Wer erreichte wie das Halbfinale? Das sind natürlich insgesamt vier Spieler.
Fotos gehören auch dazu, alle von der Turnierseite – da werde ich ein paar andere Dinge kurz andeuten. Das Titelbild bekommt der Überraschungs-Finalist Teimour Radjabov.
Lang lang ist’s her dass die Veranstaltung eröffnet wurde, dazu eine kleine Bildergalerie:
Im Mittelpunkt stehen – jedenfalls in der zweiten Reihe – die Schachfarben Schwarz und Weiß, aber ein bisschen bunt war es auch. Zum dritten Foto: Meines Wissens ist niemand (aus der Schachszene) kurz vor dem Turnier gestorben, da wurde wohl eine Hymne gespielt.
Zu Runde 1 zeige ich nur zwei Exoten-Touristen:
Zum einen Daniel Anwuli aus Nigeria, zum anderen Shaun Press aus Papua Neuguinea – beide bekamen für zwei Niederlagen (gegen Vachier-Lagrave bzw. Ding Liren) 6.000$ und konnten wieder die lange Heimreise antreten.
Und nun zu den deutschen Teilnehmern: Die Paarungen wollten, dass beide gegen ehemalige Landsleute spielen. Nisipeanu war gegen Parligras leicht favorisiert und bestätigte das in der zweiten Schnellpartie. Bei Huschenbeth-Naiditsch war der Azeri Favorit, nach aktueller Elo ebenfalls nur leicht, und bestätigte das nicht – 2-0 für Huschenbeth! Nach der ersten Partie bedankte Huschenbeth sich bei Leela Zero und Jorden van Foreest – die hatten ein seltenes Abspiel gegen Französisch offenbar empfohlen bzw. bereits gespielt. Schwarz kann dann wieder mehr oder weniger in Hauptvarianten überleiten oder ein frühes Endspiel wählen. Naiditsch machte letzteres, stand objektiv allenfalls leicht schlechter aber griff dann daneben.
Die zweite Partie war lange ausgeglichen – zu wenig für Weißspieler Naiditsch, der nun gewinnen musste. In beiderseitiger Zeitnot griff Naiditsch wieder daneben – Huschenbeth verschmähte eine mögliche Zugwiederholung und gewann erneut.
Das wurde offenbar nicht fotografiert, vielleicht dachte der Turnierfotograf „Elo 2620 gewinnt gegen 2643, no big deal„. Ein Grund für die relativ kleine Elolücke ist, dass Huschenbeth sich zuletzt verbessert hat – vor allem durch gute Ergebnisse bei Europameisterschaft und Deutscher Meisterschaft. Der andere Grund ist, dass Naiditsch dieses Jahr fast 100 Elopunkte eingebüsst hat (im Januar noch Elo 2734) – das lag vor allem an zweistelligen Eloverlusten bei der chinesischen Mannschaftsmeisterschaft. Ein genannter Grund für seinen Verbandswechsel war ja „dann muss ich nicht mehr des Geldes wegen nach China düsen“, ein anderer „dann kann ich mehr Superturniere spielen“ – seither fehlt er in Dortmund und fehlt weiterhin beim Gashimov Memorial. Aber Naiditschs Logik ist auch am Schachbrett nicht immer nachvollziehbar bzw. er bekommt nicht immer das, was er erwartet oder erhofft.
In Runde 2 gewann Huschenbeth durch zwei Remisen mit klassischer Bedenkzeit gegen Vitiugov weitere Elopunkte und verlor dann zweimal recht glatt im Schnellschach. Zu Vitiugov komme ich noch, zu Nisipeanu auch nochmals – aber erst ein paar andere Matches aus Runde 2 im Bild:
Das waren bereits Matches mit möglichen Überraschungen, die dann doch nicht kamen. St. Petersburger spielen offenbar gerne Schnellschach – wie Vitiugov so auch Svidler. Firouzja-Dubov war nach Elo ergebnisoffen (2702 zu 2699), der Iraner gewann – warum Dubov ausgeschieden ist hat er erst später verraten. Mamedyarov gewann die erste Partie glatt, die zweite hätte er gegen einen Computer verloren – aber Kasimdzhanov ist kein Computer sondern ein Mensch, der seinen aktuell prominenteren Gegner mit Remis entwischen liess. Bei MVL-Kovalenko war Elo am Ende mehr wert als Kilo.
Und nun zu NN – Nisipeanu und sein prominenter Gegner.
Nakamuras Outfit vor der ersten Partie betonte, wer auch die Nummer 20 (vor dem Turnier) der Weltrangliste mit $$$ füttert. Das wird sich wohl nicht ändern, auch wenn er nun live Platz 25 belegt.
Ein Interview gab es hinterher mit Nisipeanu – eine haarige Angelegenheit, auch wenn Nisipeanu sich rasiert und der Kameramann (vielleicht) regelmässig beim Friseur vorbeischaut. In der Partie brauchte Nisipeanu 28 Minuten für ein Damenopfer, das er sich bereits zu Hause angeschaut hatte – aber am Brett wusste er nicht mehr, ob das gut ist oder nicht. Nakamura blitzte weiter, einen Zug zu lange – 14.-e5? (19 Sekunden) war falsch, 15.-cxd6 (28 Minuten) konnte das nicht mehr reparieren. Vorher dachte Nakamura vielleicht „Nisipeanu spielt immer remis – prima, ich mag ja Schnell- und Blitzschach“ (auch in der ersten Runde musste er gegen einen 200 Elopunkte schwächeren Gegner nachsitzen).
Zur zweiten Partie erschien Nakamura sportlich (adidas), aber konnte gegen Nisipeanus Russisch rein gar nichts erreichen und war mit Remis sehr gut bedient.
Zum Stichwort Haare passt auch Nepomniachtchi, dessen Schwarzsieg gegen Landsmann Predke man so oder so beschreiben kann: Er hat viel riskiert und wurde dafür belohnt, oder auch „sein Grünfeld-Bauernopfer war inkorrekt und funktionierte trotzdem“. Später fiel Nepomniachtchi erneut auf, zu diesem Zeitpunkt war er bereits ausgeschieden.
Alles im grünen Bereich für wer auch immer hier fotografiert wurde – Organisatoren, Schiedsrichter, … – zwei Herren kannten die Kleiderordnung nicht und stehen trotzdem im Mittelpunkt.
Der zu diesem Zeitpunkt noch relativ volle Turniersaal – auch wenn das Teilnehmerfeld bereits halbiert wurde.
In Runde 3 verlor Nisipeanu nach Stichkampf gegen Svidler. Damit ist das Thema „deutsche Teilnehmer“ abgeschlossen, und ich kann mich den beiden anderen Themen widmen.
Vachier-Lagrave dachte vielleicht „der schon wieder“ – erst recht nachdem er die erste Schnellpartie gegen Jakovenko verlor. Der Russe, geboren in der Region Khanty-Mansiysk, hatte MVL bereits im letzten WM-Zyklus in der Schlussrunde des letzten GP-Turniers besiegt, wodurch der Franzose im Kandidatenturnier fehlte (mitschuldig war ein Armenier, dazu komme ich noch). Aber MVL schaffte das, was damals nicht ging – Revanche in der nächsten Partie und Ausgleich im Match. Später gewann er dann eine der beiden Blitzpartien und war eine Runde weiter.
Die eine Überraschung der Runde war das Ausscheiden von Anish Giri gegen Jeffery Xiong – der erste Lotteriesieg des jungen Amerikaners: Giri hatte im Stichkampf reihenweise Chancen, die er jedoch nicht nutzte – auch in der Partie, die er dann verlor weil Xiong seine spätere Chance nutzte.
Der Vollständigkeit halber: Giri hatte bereits in Runde 2 seine liebe Mühe mit Evgeniy Najer, trotz Elo 2635 ein nicht zu unterschätzender Gegner – beim Weltcup 2017 hatte der Russe, wohl generell mehr Trainer als Spieler, immerhin Caruana eliminiert. Die Entscheidung fiel erst im Armageddon, zuvor stand Giri mitunter am Rande des Abgrunds.
Zurück zu Xiong: Nach dem Junioren WM-Titel wurde er bereits bejubelt, dann stagnierte er elomässig. Nun hat er vor kurzem doch Elo 2700 geknackt, vor allem durch Erfolge in relativ schwach besetzten Opens.
Die andere Überraschung der Runde war elomässig kleiner: Vitiugov-Karjakin 1.5-0.5. In der ersten Partie war Vitiugov mit Weiß duchgehend am Drücker, konkret wurde es als Karjakin im 52. Zug nach reiflicher Überlegung (5 der ihm verbliebenen 14 Minuten) böse patzte. In der zweiten Partie bekam Vitiugov problemlos das noch fehlende Remis – Dauerschach ab dem 25. Zug.
Nach Runde 3 war erst einmal Ruhetag – für alle, sonst nur wenn man keinen Stichkampf brauchte. Den meisten gefiel es wohl, egal was sie machten – nur Dubov sagte, dass jeder Tag in Khanty-Mansiysk einer zuviel ist. Aber der war ja bereits ausgeschieden und wohl wieder in Moskau. Die russische Provinz mag er offenbar generell nicht, auch über einen Austragungsort der russischen Meisterschaften hatte er sich mal negativ geäussert. Ein paar Bilder:
Die meisten Herren erkenne ich nicht, die Damen auch nicht. Am Brett musste ja diesmal Nisipeanu das weibliche Geschlecht alleine vertreten: Ju Wenjun spielte lieber beim Grand Prix der Frauen, Hou Yifan spielt praktisch gar nicht mehr – also ist auch ihr Abonnement für eine Wildcard beim Weltcup abgelaufen. Jakovenko musste wegen Verstoss gegen die Kleiderordnung die Eisfläche wieder verlassen und setzte sich zusammen mit u.a. Vachier-Lagrave ins Publikum. Auf dem letzten Foto sieht man, dass das Stadion zwar nicht ausverkauft war – dennoch ist Eishockey in Khanty-Mansiysk offenbar populärer als Schach.
Aber das stand ab tags darauf wieder auf dem Programm. Zu Runde 4 nur ein Foto:
Mamedyarov und Radjabov trafen aufeinander – einer musste gewinnen und einer demnach verlieren. Dabei spielen sie doch gegeneinander immer remis … . Die beiden Partien mit klassischer Bedenkzeit deuteten darauf hin, dass vielleicht das Los entscheiden sollte (wer hat im Armageddon Schwarz?) oder sie vertagten die Entscheidung bewusst auf den Stichkampf. In der ersten Schnellpartie hatte dann Mamedyarov mit Schwarz klar Oberwasser, konnte den Sack jedoch nicht zumachen.
In der zweiten Zehnminutenpartie fiel die Entscheidung im Match – zugunsten von Radjabov, das weiss der Leser bereits. Aber es war knapp, wobei die Partie innerhalb weniger Züge mehrfach kippte: Mamedyarovs Figurenopfer sollte objektiv wohl zum Remis führen oder jedenfalls zu einer ausgeglichen-unklaren Stellung. Radjabovs Reaktion war suboptimal, nun stand er objektiv schlecht. Aber Mamedyarov verzichtete auf 38.h6+, und nun war die Kompensation für die Figur dahin. Der Angriff auch, Radjabov übernahm das Kommando. Dazu gehörte ein hübsches Damenopfer, das Weiß nicht annehmen durfte, ablehnen half allerdings auch nicht mehr. Dieses Match war dabei Radjabovs einziger Wackler im Turnier, und ein klarer Sieg im Duell unter Landsleuten wäre überraschend gewesen.
Derlei schaffte Vitiugov erneut, nun gegen Wesley So. In der ersten Partie spielte Remisspezialist So Russisch und wurde trotzdem nach und nach überspielt. In der zweiten Partie musste So eigentlich gewinnen, aber er steuerte sein Schiff sicher in den Remishafen – das ist nun einmal sein Lieblingsergebnis, auch wenn er damit die Heimreise antreten musste.
Weniger souverän bzw. total chaotisch war Xiongs Sieg gegen JK Duda. Alle acht Partien im Detail besprechen geht nicht, nur einige im Schnelldurchlauf: In der ersten Partie mit klassischer Bedenkzeit war Dudas Qualitätsopfer objektiv nicht ganz korrekt, aber er wurde für Kreativität und Mut zum Risiko belohnt. Nun brauchte er noch ein Schwarzremis, was tun? Nicht so empfehlenswert war, eine zweieinhalb Monate alte eigene Partie gegen Svidler zu wiederholen: der Gegner bzw. sein Coach/Sekundant hatte das analysiert und fand eine Verbesserung – als Duda den Braten wohl roch und viel Bedenkzeit verbraucht, war es bereits zu spät: Ausgleich im Match und Stichkampf. Deja vu für Duda: Beim FIDE Grand Prix in Moskau wählte er gegen So, in Führung liegend, ein scharfes sizilianisches Drachenabspiel nebst Qualitätsopfer. So bekam selbst So das, was er aus eigener Kraft kaum erreichen kann: eine zweischneidige Stellung, Siegchancen und einen Sieg – und danach gewann er den Stichkampf.
Der wogte diesmal hin und her, immer (bzw. fast immer) gewann Weiß. Xiong zeigte dabei auch Qualitäten eines Magnus Carlsen: der Gegner patzte zweimal in Remisendspielen. JK Duda wäre ein noch tollerer Spieler, wenn er neben Kreativität auch Eröffnungen und Endspiele beherrschen würde … . Dass er von Eröffnungen keine Ahnung hat, zeigte er in der zweiten Schnellpartie: 1.a3, was ist das denn? Aber es brachte den nötigen vollen Punkt. Matchentscheidend war, dass Xiong in der ersten Blitzpartie mit Schwarz Remis halten konnte und danach mit Weiß Dudas Aljechin-Verteidigung zerlegte – bzw. Duda fand bei knapper Zeit einmal nicht den richtigen Zug. Insgesamt ein Match, das keinen Verlierer verdient hatte – nach puristischen Masstäben vielleicht auch keinen Sieger, aber der hiess letztendlich Jeffery Xiong.
Zurück zu den Halbfinalisten: Ding Liren machte weiterhin sein Ding – zwar erst im Schnellschach aber da dann souverän, wobei er in der ersten Partie von einem groben gegnerischen Bock profitierte: 15.-Se5?, da stand der Springer zwar zentral aber hätte nach späterem f2-f4 keine Felder. Kirill Alekseenko, der zuvor Harikrishna eliminiert hatte, suchte Komplikatinen und beschleunigte damit nur das Ende (oder, auf das Match bezogen, den Anfang vom Ende).
Vachier-Lagrave gewann diesmal glatt gegen Svidler – 1.5-0.5. Das war auch das Ergebnis bei Yu Yangyi-Nepomniachtchi – wobei der Russe allerdings in der zweiten Partie zunächst mit Schwarz klar besser stand und dann völlig den Faden verlor. Nepo nahm sein Schicksal relativ gelassen: „Ich stand zweimal klar besser und bin ausgeschieden – das kann im KO-System passieren.“ Sein Vorteil in der ersten Partie war dabei, jedenfalls aus Computersicht, eher optisch-symbolisch.
Viertelfinale, also noch vier Matches, zu allen ein paar Worte: Ding Liren machte schon wieder sein Ding, nächstes Opfer Grischuk – warum genau er die zweite Partie mit klassischer Bedenkzeit verlor, wusste er hinterher selbst nicht. Ebenso glatt gewann Radjabov – Schluss mit lustig für Jeffery Xiong. Es wurde auch Zeit, sonst werden die Amerikaner noch größenwahnsinniger als sie es ohnehin bereits sind. Radjabov hat generell einen (berechtigten) Ruf als friedlich-remislicher Spieler. Aber diesmal widerstand er in der zweiten Partie der Versuchung, früh die Züge zu wiederholen, und gewann stattdessen im Königsangriff.
Bleiben zwei Matches, die nach zunächst zwei Remisen im Stichkampf entschieden wurden:
Endlich passen alle Spieler auf ein Foto.
Zuerst das Match mit weiteren Fotos:
Das war das gutgelaunt-gemeinsame Interview von Vachier-Lagrave und Aronian nach Remis in der ersten Partie.
Und am dritten Tag durfte/musste MVL dann alleine Fragen beantworten. Was war passiert? Nicht etwa Armageddon, soweit kam es 2017 zwischen ihnen, sondern Entscheidung in der zweiten Schnellpartie. Aronian hatte Oberwasser, sein Qualitätsopfer war absolut korrekt, aber dann konnte er den Sack nicht zumachen. Dann übersah er MVLs „Trick“ 39.Tf3 – zwar kein Figurengewinn aber es erzwingt Damentausch, und damit war Aronians Kompensation für die Qualle plötzlich weg. Am Rande des Abgrunds, und dann im Halbfinale.
Wir müssen uns also von Aronians bunten Hemden verabschieden:
Wie bitte, vier an drei Tagen? Nein, ich habe geschummelt – ein Foto stammt aus der vorigen Runde. Zwischen den Stichkampfpartien ist jeweils etwas Pause – aber vielleicht nicht genug für einen Kleiderwechsel, um den Gegner schon vor der nächsten Partie zu überraschen.
Natürlich kein definitiver Abschied von Aronian, aber seine Chancen, sich noch für das Kandidatenturnier zu qualifizieren, sind denkbar schlecht. In der Grand Prix Serie ist er zweimal bereits in der ersten Runde ausgeschieden, das wird nichts mehr. Momentan könnte er auch keine Wildcard bekommen – dafür muss man im Schnitt top10 sein, und er ist aktuell Nummer 11. Damit bleibt nur noch das Grand Swiss – gegen starke Konkurrenz, so ist es nun einmal im WM-Zyklus und das ist gut so.
Noch mehr Schach spielten Vitiugov und Yu Yangyi – Remis, remis, immer remis bis zu den Zehnminutenpartien. Da machte zunächst Yu Yangyi den Carlsen – Vitiugov vergeigte ein Turmendspiel mit zwei gegen drei Bauern am selben Flügel, nichts ist unmöglich. Vitiugov konnte direkt ausgleichen. Wieder zweimal Remis in den Blitzpartien, also Armageddon. Da fiel die Entscheidung scheinbar bereits nach neun Zügen – beide spielten extrem schnell, wohl ohne richtig auf das Brett zu schauen, und das kostete Yu Yangyi zwei Bauern. Nach dem aktionistischen 17.Dh5 konnte Vitiugov gar eine Figur gewinnen, wenn ja wenn er inne gehalten und nicht nach einer Sekunde 17.-Sd7 gespielt hätte: 17.-Dc5 droht sowohl 18.-Dxd4+ (da stand ein Springer) als auch Springerschach nebst -Dxh5. Stattdessen kippte die Partie noch komplett – Vitiugov konnte es nicht fassen und sass hinterher lange regungslos am Brett.
Dann hatte er tatsächlich die Kraft für ein Interview und äusserte sich auch auf Twitter: „This tournament is like life – eventually, it has a sad end. Lucky guys leave it quickly, stubborn ones, who fight on their limits – sometimes painfully. But what happened here also matters and I am proud of the level of chess I’ve showed in the tournament (not today:-).“ [Dieses Turnier ist wie das Leben – irgendwann kommt das traurige Ende. Glückspilze scheiden schnell aus, hartnäckige Spieler die ans Limit gehen – manchmal schmerzhaft. Aber was zuvor war zählt auch und ich bin stolz auf das Niveau, das ich im Turnier zeigte (heute nicht :-)]
Und auch Nepomniachtchi meldete sich auf Twitter: „I’d like to say a lot… but seems like sometimes you don’t have to play chess well or even decent to advance far in the World Cup. Both matches were just far beyond any good or evil. Current KO system has nothing to do with determining the best player.“ [Ich würde gerne vieles sagen .. aber offenbar muss man manchmal kein gutes oder auch nur anständiges Schach spielen, um im Weltcup weit zu kommen. Beide Matches waren schlicht und ergreifend weit jenseits von Gut und Böse. Das derzeitige KO-System kann keinesfalls den besten Spieler ermitteln.]
Nepo wurde unterstellt, dass er ein schlechter Verlierer sei, der das Ausscheiden zuvor gegen Yu Yangyi nicht verkraftet hatte. Aber offenbar äusserte er sich vor dem Grand Prix in Moskau ähnlich – Sieger damals Nepomniachtchi. Es bleibt Geschmackssache, starke Nerven sind im KO-System wichtig und Glück gehört dazu. Aus meiner Sicht: zwei Quali-Plätze für das Kandidatenturnier via Weltcup sind schon OK (wobei dadurch das Finale entwertet wird), insgesamt vier nach KO-Format (auch zwei über die GP-Serie) ist viel.
Was Vitiugov betrifft, er war das exakte Spiegelbild von Xiong: souverän gewonnen und dann chaotisch und etwas unglücklich ausgeschieden, beim Amerikaner war es komplett umgekehrt. Ob es jeweils über den Tag hinausgehende Folgen hat wird sich zeigen: mehr Preisgeld als „eingeplant“ haben sie bereits, gibt es nun auch hochkarätige Einladungen?
Bleibt noch das Halbfinale. Da gewannen die Spieler, die zuvor Runde für Runde recht glatt gewonnen hatte (bei Radjabov Ausnahme das Match gegen Mamedyarov), gegen Spieler die durchaus bereits früher ausscheiden konnten. So kann es kommen – in der Weltcup-Geschichte kam es aber auch vor, dass Spieler zunächst „marschierten“ und dann plötzlich stürzten oder einen akuten Wadenkrampf bekamen.
Bei MVL-Radjabov 0,5-1,5 fiel die Entscheidung zugunsten des Außenseiters in der zweiten Partie. Diese Anti-Grünfeld Variante hatte MVL bis 6.-Dc7 bereits sechsmal auf dem Brett, alleine viermal anno 2019, aber die Neuerung 8.Ld3 erwischte ihn auf dem falschen Fuss. Idee ist natürlich, dass auf dieser Diagonale vielleicht etwas geht – daher war 10.-0-0 voreilig, im höheren Sinne vielleicht schon der entscheidende Fehler. Schwarz musste mit der Rochade warten und eventuell gar lang rochieren. Schon wieder gewann der Remisspieler Radjabov im Königsangriff.
„Wer ist das denn?“ eingangs war natürlich rhetorisch: Radjabov war mal engste Weltklasse, bevor er ab 2013 von Elo fast 2800 auf zeitweise knapp unter 2700 abstürzte. Danach spielte er nur noch sporadisch – ob mangelnde Motivation Grund für den Niedergang war oder umgekehrt, das ist eine Henne-Ei Frage. Der Anfang vom Absturz war ein völlig verkorkstes Kandidatenturnier, nun hat er sich für ebendieses Turnier wieder qualifiziert – nach eigener Aussage keinesfalls absichtlich, und er liess offen ob er mitspielen wird!?
So geht es vielleicht: beim Weltcup ohne Druck aufspielen – auch Ding Liren hatte keinen Druck, da er ja bereits (fast) für das Kandidatenturnier qualifiziert war. Der letzte (und einzige) Außenseiter im Weltcup-Finale war allerdings Andreikin anno 2013.
Auch ich machte – auf meinem Niveau, Preisgeld etwa 1% dessen was man in Khanty-Mansiysk bekommen kann – zuletzt die Erfahrung: wenn ich nichts von mir erwarte, dann läuft es am besten. Daher – ja, es ist konstruiert – ein Archivfoto aus Wijk aan Zee 2015:
Das hatte ich damals als Bilderrätsel verschickt – wieviele Personen (Spieler, Reporter, Trainer) erkennt ihr auf dem Foto? Einer erkannte (stehend rechts im roten Hemd) Teimour Radjabov und hatte immerhin die richtigen Initialen.
Zurück nach Khanty-Mansiysk, ein Halbfinalmatch fehlt noch: Ding Liren besiegte Landsmann Yu Yangyi in der zweiten Schnellpartie. Unklar, ob Yu Yangyi eine Qualität bewusst geopfert, notgedrungen geopfert oder eher eingestellt hatte – jedenfalls hatte er zunächst volle Kompensation und später nicht mehr.
Wie geht es weiter? In Khanty-Mansiysk werden noch zwei Matches gespielt. Im Finale geht es um „ewigen Ruhm“ (langfristig werden nur die Weltcup-Sieger erwähnt) und zusätzliches Preisgeld – beide haben bereits 80.000$ sicher, der Sieger bekommt 30.000 dazu. Im Spiel um Platz 3 geht es um – ja worum eigentlich? Einerseits ebenfalls um 10.000$ zusätzlich zu den sicheren 50.000, andererseits für Yu Yangyi auch um einen Platz in der Warteschlange am Hintereingang zum Kandidatenturnier: neben den (im Schnitt) 10 Elobesten können auch Spieler eine Wildcard erhalten, die Platz 3 in Weltcup oder GP-Serie oder Platz 2 im Grand Swiss belegten. Dass Yu Yangyi im Falle des Falles die Wildcard bekommt ist aber eher unwahrscheinlich. Austragungsort des Kandidatenturniers ist Jekaterinburg, schon wird gemunkelt dass ein Russe profitieren wird – derzeit haben Nepomniachtchi und Grischuk die Voraussetzungen erfüllt.
Und schon eine Woche nach Ende des Weltcups beginnt dann das Grand Swiss auf der Isle of Man. Ding Liren wird fehlen, aber Carlsen und Caruana spielen mit – eventuell reicht Platz 3 für einen Platz im Kandidatenturnier. Anand hat auf GP-Serie und Weltcup verzichtet, damit ist dieses Turnier (oder eine Wildcard) seine einzige Chance – aber vielleicht denkt er auch: ich habe ja schon genug Kandidatenturniere und WM-Matches gespielt.
Hallo Herr Richter, danke für Ihren gut zusammengefassten Bericht. Aber sagen Sie mal: Hatten Sie ein sehr negatives Erlebnis mit Magnus Carlsen? Woher stammt diese große Aversion? Wieso machen Sie ihm denn den Vorwurf, dass er gewinnt, wenn seine Gegner noch remisliche Endspiele verpatzen? Wäre das bei einem anderen Weltmeister genauso. Mochten Sie damals z.B. Anand oder Kramnik? Natürlich haben auch Sie das Recht, jemanden nicht zu mögen, aber mich würden mal die Gründe dafür interessieren, wie z.B. „er bekam auf seinem Weg zur Weltspitze weitgehend große Unterstützung/Förderung, die anderen talentierten Spielern nicht zuteil wurde und das finde ich ungerecht“ oder: „Ich mag seinen Spielstil nicht“. Sie können mir die Antwort auch privat schreiben, wenn es Ihnen im öffentlichen Kommentar zu unangenehm wäre.