Saint Louis, Sinquefield Cup. Viele Remisen — und jede Menge Beschwerden darüber. Was möchte der Schachfreund gerne sehen? Dazu ein Vergleich mit dem Fußball, der natürlich, wie jeder andere Vergleich, vermutlich etwas hinkt? Merke jedoch: nicht alles, was hinkt, ist ein Vergleich…
Da ich auch mit dem Fußball von klein auf eng verbunden bin, als Spieler und als Stadiongänger, aber natürlich auch dauerhaft als Beobachter der Spiele im Fernsehen sowie mit Statistiken, welche ich über Jahrzehnte angelegt habe — schon von klein auf sogar, aber immer weiter verbessert bis zur eigenen Software die ich bis heute pflege und verwende — und damit sogar per Wetten meinen Lebensunterhalt verdient habe, möchte ich mal den Vergleich anstellen: wenn Tore fallen spricht man zumindest in der deutschen Berichterstattung von „Fehlern, durch welche die Tore fallen“. Das hat Franz Beckenbauer einst gesagt und seither wird es, ungeprüft, überall so zitiert.
Auf den Fußball bezogen ist es aus meiner Sicht gänzlich unwahr. Der Ball ist rund — Sepp Herberger — und er kann auf verschiedene Art vorwärts bewegt werden, von Mitspieler zu Mitspieler, seine Flugbahn ist nie eindeutig zu bestimmen oder vorher zu sagen, so dass eine Menge an Zufall ins Spiel kommt, dazu noch haben die Spieler unterschiedliche Befähigungen und man kann, per Passspiel, Flanke, Dribbling, kluges Stellungsspiel, offensive Ausrichtung, Positionswechsel, Geschwindigkeit oder technisches Geschick und Können einfach eine Chance herausspielen und diese sogar erfolgreich abschließen, also den Torhüter überwinden. Oft genug mag, wie gesagt, ein klein wenig Zufall mithelfen, aber bei einer Vielzahl von Versuchen wird es schon mal — auch ohne jeden Fehler — zu einem Treffer kommen.
Das Schachspiel mag zwar Ähnlichkeiten aufweisen — es ist ein Spiel, es gibt Sieg, Unentschieden, Niederlage, um nur ein paar zu nennen –, aber es gibt auch erhebliche Unterschiede. So gibt es beispielsweise in jeder Stellung nur eine konkrete Anzahl von legalen Zügen. In der Mathematik nennt man dies auch „diskret“, im Unterschied zu „stetig“. Der Fußball wäre stetig, weil es unendlich viele Möglichkeiten gibt. Das Schach ist am Ende doch ausrechenbar und die Computer kommen dieser ultimativen Wahrheit auch immer näher. Im Fußball wird es nie eine geben.
Auf die Kommentatoren bezogen, hier und dort im Vergleich: sollte ein Spiel lange Zeit 0:0 stehen, dann gibt es die Beschwerde der Langeweile. Da fehlt das Salz in der Suppe, das Spiel ist zum Einschlafen langweilig, so macht es keinen Spaß. Sollte jedoch ein Tor fallen kommt unmittelbar die Beschwerde der aufgedeckten Fehler. „So kann man das nicht verteidigen“, da „steht er sträflich frei“, da „befindet sich die komplette Hintermannschaft im Tiefschlaf“, da „trägt de Torhüter auch eine Mitschuld“ oder „stimmte die Zuordnung nicht“. Die Fehler werden dabei sogar meist in Ketten angegeben.
Offensichtlich ist das Spiel also nicht gut, uninteressant langweilig, so lange es keine Tore gibt. Falls jedoch die Tore fallen ist es noch schlimmer: es gab solch haarsträubende Fehler, die einfach „unterirdisch“, die „auf diesem Niveau nicht passieren dürfen“.
Im Fußball stimmt dies zwar nicht, aber es wird so kommentiert. Das Spiel ist schlecht, wenn es keine Tore gibt. Wenn Tore fallen ist es schlecht, weil es diese üblen Fehler gab. Kurzum: es werden „Fehler“ eingefordert, damit wir Spaß haben?!
Nun bin ich schon so weit und die Brücke zum Schach wäre geschlagen: in Saint Louis gibt es etliche Remispartien, mehr als zuvor vielleicht, ein höherer Prozentsatz als sonst. Nun gibt es die Beschwerden, dass es langweilig ist und dass „keine Tore fallen“, sprich, dass es keine Fehler gibt. Sie sollen also schwächer spielen, damit „wir“ (ich nehme mich aus, habe aber sogar hier und da mal einen sinnvollen Kommentar gehört, beispielsweise auch in der Stellungnahme von Giri oder auch jener von Nakamura zu dem Thema).
Am besten scheint, sie würden auf „unserem“ (eurem) niedrigen Niveau spielen, damit möglichst viel Blut fließt? Nein, es ist alles lächerlich, was ihr da „fordert“. Das Schachspiel unterscheidet sich erheblich vom Fußball. Die Dummheit der Kommentare allerdings nicht.
Es gibt jedoch noch zwei weitere Aspekte: die Beschwerden über die vielen Remisen sind das eine. Diese sind „rein ergebnisorientiert“.
Aber ob die Partien wirklich langweilig sind/waren? Es gibt eben, wie im Fußball, ein langweiliges 0:0 oder auch hier und da ein gutes 0:0, mit vielen Chancen auf beiden Seiten. Es gibt aber zusätzlich im Fußball viel weniger langweilige Remisen, da dort die Toranzahl beidseitig gleichlautend in die Höhe geschraubt werden kann. Also bei einem 3:3 fiele einem sicher nicht ein, von einem „langweiligen Remis“ zu sprechen.
Ähnlich wäre es beim Schach, zunächst diese Frage zu klären: gab es denn Unternehmungslust, gab es spannende, unklare, hochwertige taktische Motive, gab es Versuche, das Gleichgewicht zu stören oder war das Gleichgewicht vielleicht sogar erheblich oder auch nur geringfügig gestört? Hatte man die Chance, mit zu fiebern und dem auserwählten eigenen Helden die Daumen zu drücken, dass er seinen Mehrbauern verwerten kann, dass der Angriff durchschlägt, dass sein langfristiger Plan sich um den entscheidenden einen Zug eher realisiert als der des Gegners? Gab es vorsätzlich herbeigeführte Asymmetrien, gab es ungleiche Materialverteilung, gab es zumindest die Chance, für den Zuschauer gebannt auf den nächsten Zug zu warten, gab es eine spannende strategische Schlacht?
All diese Fragen könnte ich nur mit „ja“ beantworten. Sie haben alles versucht und sie versuchen es weiterhin. Nur ist das Niveau so hoch, dass es sehr selten gelingt, das Gleichgewicht entscheidend zu stören. Wobei dies in dem Turnier wohl eher zufällig so geschah. Es wurden ab und an aussichtsreiche Stellungen – gerade von Anand, dem man eigentlich noch viel höheren Respekt zollen sollte anstatt ihn für die verpassten Chancen zu kritisieren – herbeigeführt, sogar unabhängig von der Farbverteilung, und diese halt „zufällig“ nicht verwertet.
Ein Aspekt wäre noch die Verteidigungskunst: es ist diese Disziplin, in welcher „wir alle Hobbyspieler“ die größten Defizite aufweisen. Man steht unter Druck, bei optimaler Fortsetzung steht man nur etwas schlechter – und wer will das schon? – und schon greift man nicht nur ein Mal sondern gleich zwei Mal fehl – und unterzeichnet das Formular. Diese Giganten schaffen es, auch in hoffnungslos erscheinenden Lagen einen Zug zu finden, welcher nicht nur die Aufgabe maximal erschwert, sondern teils gar unmöglich macht. Sie halten das Remis, was „uns“ eben nie gelingen würde. Nicht nur gegen diesen Gegner nicht sondern auch gegen unseresgleichen nicht. Hier könnte man also sogar behaupten: für den „NORMALO“ unter den Schachspielern könnte er maximale Lerneffekte erzielen in der Kunst der Verteidigung, was einst der Titel eines Klassikers von Hans Kmoch war, somit unterstreichend, für wie wertvoll erachtet.
Einen vorletzten Aspekt: diese Spieler werden gezwungen, nicht nur ständig zu spielen sondern auch ständig gegeneinander zu spielen. Sie würden so gerne mal einen Tag der Entspannung haben oder, falls sie spielen müssten, mal einen Gegner finden, der ihnen nicht diese riesigen Knüppel zwischen die Beine wirft. Einfach mal eine Partie und seine Klasse vorführen können, vielleicht sogar im Entspanntheitsmodus einen lockeren Sieg einfahren, welcher noch dazu von der Schwachwelt gehuldigt wird? Nur geben „wir Voyeure“ ihnen dazu nicht die Gelegenheit. Sie werden gezwungen, wie die Gladiatoren im alten Rom, sich so lange zu bekämpfen, bis einer umkippt und nicht mehr aufsteht. Vielleicht möchten sie das gar nicht? Vielleicht achten, schätzen, respektieren sie sich untereinander so, wie wir in unserer Mannschaft sich das erste und zweite Brett schätzen oder wie sich, in einem kleineren Open die Nummer 1 und 2 der Setzliste respektieren und gerne ein Remis machen, ohne längeren Kampf, weil sie sagen, das Turnier entscheidet sich in den anderen Partien, aber wenn wir gleichauf eingehen: auch kein Problem? Das sollte man durchaus berücksichtigen. Vielleicht liegt hier ein kleiner Fehler der Organisatoren vor oder zumindest dürften sie gerne mal über das Format nachdenken?
Ein letzter Aspekt noch: die Eröffnungsvorbereitung. Hier scheint eine Menge tatsächlich in Heimarbeit erledigt zu sein. Man kann sich jede Partie erneut auf Maxime Vachier-Lagrave und seine gesicherte Eröffnungswahl vorbereiten: man wird keine Lücke finden. Das ist wasserdicht, wie er Tag für Tag beweist. Falls man dieses nun nicht mehr sehen wollte: noch steht die Welt offen für das an anderer Stelle vom gleichen Autor besprochenen Spiel Schach 960. Hier dürfte man auf lange Sicht keine feste Eröffnungswahl und keine stupide heruntergespielten, zu Hause einstudierten Zugfolgen antreffen. Und gerade beim Autor rennt man mit der Kritik am derzeitigen Schach und den vielen Remisen noch mehr offenen Türen ein. Wobei dieser Text eigentlich nur dazu dienen soll, diese Giganten des Schachs, welche nichts außer maximalen Respekt, eher nur Bewunderung, verdienen, in Schutz zu nehmen. Das ist unfair, wie über sie geurteilt wird.
Kommentar von Klaus Beckmann auf Facebook:
Das Schlechteste an den Übetragungen aus Saint Louis sind doch diese Kommentatoren (Yasser Seirawan, Jennifer Shahade & Maurice Ashley) mit ihren Kommentaren, die vor allem Maurice Ashley mit Hilfe einer Engine abgeben. Und immer wieder diese Behauptung, dass die Zuschauer angeblich Blut sehen wollen. Ich jedenfalls brauche das definitiv nicht, da ich mich auch über wunderschöne Kombinationen und ein fantastisches Stellungsverständnis, was die Teilnehmer dort so häufig unter Beweis stellen, freuen kann. Wenn es dann aufgrund der sagenhaften Fähigkeit, auch sehr schlechte Stellungen verteidigen zu können, Remis wird, mindert das meine Bewunderung für die Teilnehmer in keiner Weise. Eher das Gegenteil trifft zu, da diese Fähigkeit bei den Weltklassespielern nach meinem Empfinden in den letzten Jahren immer größer geworden ist und ich aus eigener Erfahrung weiß, wie extrem schwer es ist, schlechte Stellungen zu verteidigen.
Kommentar von Dirk Paulsen auf Facebook:
Ich spiele seit knapp 50 Jahren Schach. Und eines hat mich meine ganze Karriere hindurch begleitet: die Bewunderung für die Leistung der so viel besseren Spieler, der absoluten Topspieler. Wobei es auch ausreichend viele Spieler gibt, die dort anklopfen, die es ebenso verdient hätten, die auch einen Großmeistertitel tragen aber nicht im Konzert der ganz Großen mitmischen (können oder dürfen?).
In meinen Partien, auch gegen Schwächere, habe ich nicht selten nach der Partie einen Dank erhalten. Nicht nur, weil sie vielleicht eine „Lehrstunde“ erhalten haben, auf dem Brett, sondern auch, weil ich die Partie gerne und mit jedem noch einmal durchgehe und mich nicht davon schleiche, weil ich „mit solchen Patzern“ nichts zu tun haben möchte?! Auch habe ich häufig genug die Gegner gelobt für ihre Ideen oder ihre gewählten Züge. Sie hören es gerne, fühlen sich motiviert und vielleicht sogar ein klein wenig gestärkt für die nächste Partie. Was wäre das Problem daran? Dass ich mir so „einen Konkurrenten heranzüchte“, welcher mich alsbald überflügelt und mir Preisgelder wegschnappt?
Als Beispiel nur vom Blitzturnier gestern Abend: einer meiner Gegner — am Ende wohl auf dem letzten Platz — stellt bereits nach wenigen Zügen eine Figur ein. Er spielte aber unverdrossen weiter und machte tatsächlich in der Folge gute Züge. Als ich ihm dies nach der Partie mitteilte, wollte er erst den Kopf schütteln und das Kompliment von sich weisen. Ich insistierte aber und er reichte mir ein weiteres Mal die Hand, hatte ein riesiges Lächeln im Gesicht wie vermutlich das ganze Turnier hindurch nicht und war irgendwie wirklich gerührt und dankte überschwänglich. Ich habe es ihm glaubhaft gemacht aber ich habe es auch wirklich so gemeint.
Mein Eindruck ist, dass viele Menschen anscheinend neidisch sind auf andere, auf die allerbesten, dass sie nach Fehlern und Schwächen suchen, um sie auf ihr eigenes Niveau herunterzuziehen, um sich selbst ein klein wenig größer zu fühlen? „Schau mal, was Magnus Carlsen da gegen Anand übersehen hat. So ein grober Fehler! Und Anand nutzt das nicht einmal aus! Schau, die beiden kochen auch nur mit Wasser. DAS hätte ich auch noch hinbekommen, solche üblen Klöpse. Sooo gut sind die auch nicht.“ Es wird immer nur nach Fehlern gesucht und dies für „spektakulär“ verkauft. Eine Serie von perfekten Zügen? Scheint niemanden zu interessieren. Man wartet auf den einen einzigen Fehler — und zeigt dann mit den Fingern darauf.
Diese Leute sind so unfassbar gut, dass man eigentlich den Mund beim Zuschauen nicht mehr zubekommt. Und die Stellungen sind alles andere als langweilig.
Kommentar von Martin Rieger auf Facebook:
Also ich kenne kein torreiches Fußball der Geschichte, von dem hinterher behauptet wurde, es sein ein sehr fehlerbehaftetes und deswegen eigentlich schlechtes Spiel gewesen, keines. Deswegen hinkt Dein Vergleich da schon mal gewaltig. An dieser Stelle möchte ich auf die grandiosen Fußballspiele Schalke-Bayern 1984 DFB Pokal (6:6), Deutschland gegen Brasilien WM 2014 (7:1) oder Brasilien gegen Holland WM 1994 (3:2) hinweisen, stellvertetend für viele weitere tolle, torreiche Matches (Quellle: http://www.xn--in-voller-lnge-gib.de/). Aufs Schach gemünzt: Auch ein Tal, ein Kasparov, ein Ljubojevic, ganz früher ein Morphy oder ein Tschigorin haben auch in ihren besten Partien Fehler gemacht und auch natürlich auch von den Fehlern ihrer Gegner profitiert. Von ihren besten und genialsten Partien hat kein Mensch hinterher behauptet, das Spiel sei langweilig weil fehlerbehaftet. Ganz im Gegenteil! Erst da, wo Fehler passieren, wo der eine nach vorne stürmt und alle Brücken hinter sich abreisst, da, wo der andere sich geistreich verteidigt, phantastische Endspiele produziert und beide Partner am Schachbrett ihr Bestes geben, erst da wird aus einer Partie oder einem Fußballmatch eine Legende die Zuschauer und Fans mitreisst und unvergessen macht. Nennt man zB. Karpov-Kasparov, 16.Partie 1985 oder Tal-Botvinnik 1.Partie 1960, weiß jeder halbwegs informierte Schachspieler, wovon die Rede ist. Fragt man aber nach der besten Partie im Zeitraum der letzten 15 Jahre, Fehlanzeige. Alles eine graue, zähe Masse an gesichts- und emotionslosen, im Vorfeld computergenerierten „Schachpartien“. Was mir immer wieder bei solchen Diskussionen auffällt: Sobald man sich erdreistet, über soche Partien das Urteil langweilig zu fällen, dauert es nicht lange und schon kommen die wahren „Experten“ und „Schachästhetiker“ aus ihren Verstecken und fallen über all jene Frevler das Urteil: unwissend, kein Sinn für das Schöne und Tiefsinnige, verstehen nichts vom Schach, unwürdig jeden weiteren Kommentars. Das kommt mir vor wie im Märchen über des Kaisers neue Kleider (Das Märchen handelt von einem Kaiser, der sich von zwei Betrügern für viel Geld neue Gewänder weben lässt. Diese machen ihm vor, die Kleider seien nicht gewöhnlich, sondern könnten nur von Personen gesehen werden, die ihres Amts würdig und nicht dumm seien. Tatsächlich geben die Betrüger nur vor, zu weben und dem Kaiser die Kleider zu überreichen. Aus Eitelkeit und innerer Unsicherheit erwähnt er nicht, dass er die Kleider selbst auch nicht sehen kann und auch die Menschen, denen er seine neuen Gewänder präsentiert, geben Begeisterung über die scheinbar schönen Stoffe vor. Der Schwindel fliegt erst bei einem Festumzug auf, als ein Kind sagt, der Kaiser habe gar keine Kleider an, diese Aussage sich in der Menge verbreitet und dies zuletzt das ganze Volk ruft. Der Kaiser erkennt, dass das Volk recht zu haben scheint, entscheidet sich aber, „auszuhalten“ und er und der Hofstaat setzen die Parade fort. Quelle:Wikipedia). Fakt ist, dass, zumindest in diesem Turnier, Antiwerbung für Schach produziert wurde bis auf ein paar wenige Ausnahmen. In St.Louis herrscht ja noch König Rex Sinquefield und ich traue mich zu behaupten, ist diese Geldquelle einmal am austrocknen und versiegen, werden die Herrschaften wohl oder übel wieder gezwungen sein, wirkliche Leistung zu erbringen.