Von Ralf Mulde
Alexandre Louis Honoré Lebreton Deschapelles (* 7. März 1780 in Ville d’Avray; † 27. Oktober 1847 in Paris) war der adelige Sohn eines Marschalls und der erste französische Schachmeister, der sich mit dem langen Schatten des verstorbenen François-André Danican Philidors (1726–1795) messen konnte. Deschapelles war in seiner umjubelten Glanzzeit ein berühmter Mann – übrig blieb nahezu nichts von ihm.
Deschapelles besuchte die berühmte Kadettenanstalt von Brienne, in der auch der junge Napoleon Bonaparte (1769 – 1821) geschult worden war. Aufgrund der revolutionären Umwälzungen wurde die Schule jedoch geschlossen und die Schüler ins Irgendwo entlassen. (In solchen Kadetten-Anstalten wurden in der Regel sehr junge Adelige für den mörderischen Dienst am Vaterland ausgebildet, also für die Aufrechterhaltung des gegebenen Systems. Das war fast in ganz Europa so und wurde später auch in ganz Amerika tradiert, siehe u.a. Vargas Llosa, „Die Stadt und die Hunde“, 1963.) Während sich Deschapelles Verwandte in die Emigration begaben, schloss sich der Kadett der Revolutionsarmee an. Aber schon 1794 wurde dem erst vierzehnjährigen Soldaten der Sambre-Maas-Armee in der Schlacht bei Fleurus die rechte Hand abgetrennt. Deschapelles überstand Schmerzen und Blutverlust, aber jetzt nur noch in der Logistik verwendet werden
Der Verlust der machte die Hoffnung auf eine große Karriere zunichte; im Militärdienst konnte Deschapelles. Nach einigen Berichten erreichte er am Ende seiner Laufbahn trotzdem kurzzeitig den Generalsrang. Es ist aber durchaus möglich, dass sich dieses „on dit“ lediglich auf eine der Räuberpistolen gründete, die Deschapelles gerne in amüsierter Runde im Stile Münchhausens in die Welt zu setzen pflegte; er wusste eben zu unterhalten, mit sich selbst im Mittelpunkt.
Nach Napoleons Sturz im Jahr 1815 begab sich Deschapelles in den Ruhestand, gleichsam ins Seniorenschach. Was sollte er auch anderes tun? Andere hätten gelesen, und widmete sich dem Schach, das er nach eigener Aussage innerhalb von nur vier Tagen erlernte. Wahre Meisterschaft wies er im Kartenspiel Whist auf, einem Vorläufer des Bridge, das natürlich ebenso um Geld gespielt wurde wie das von ihm geradezu zelebrierte Backgammon. Allgemeine Bewunderung aber erregte der doch nur einarmige Deschapelles am Billardtisch – ein Gegner, fürwahr zum Fürchten!
Bald war Alexandre Deschapelles einer der stärksten Schachspieler im Pariser „Café de la Régence“. Als hochmütig und stolz beschrieben (was auf viele zutraf, man lese nur beispielhaft die Berichte über Howie Staunton und Cuddel von Bardeleben nach), war er allen seinen Zeitgenossen eben doch real überlegen. Deschapelles war dafür bekannt, sich ganz auf Vorgabepartien gegen seine Gegner zu beschränken. Das hat sich bis heute gehalten – die Einen nennen es Gambit, die anderen Einstellen, das Ergebnis ist meistens gleich. Nach verlorenen Spielen pflegte der Berufszocker die Vorgabe und den Einsatz zu erhöhen, worauf sich seine Gegner nicht immer einließen. Uns tritt in den Erzählungen einer mit überragendem Talent entgegen, der sich unbedingt dem Spiel verschrieben hatte und davon sowohl mental als auch finanziell abhängig war, kein netter oder freundlicher Mann, sondern notgedrungen ausschließlich auf sich selbst zentrierter Zocker, in diesem Mikrokosmos auf nichts anderes als auf das Spiel und damit auf sich selbst bezogen.
Das ist letztlich eine furchtbar einsame Lebens-Situation, die aber bis in die heutige Zeit hinein schon viel zu viele für zunächst erstrebenswert hielten; jene, die meinten, sich Schach oder Whist oder Billard etc. zum alles beherrschenden Inhalt machen zu können. Bezeichnend für diese Einsamkeit ist vielleicht, dass es von Deschapelles offenbar keine Bilder gibt; ein Gemälde mit ihm in irgendeinem Winkel, ein Bleistift-Zeichnung oder Ähnliches wären zumindest denkbar gewesen, boten aber anscheinend keine Verkaufs-Aussichten.
Spätestens, wenn die Spielstärke u.a. durch Suff & Alter nachlässt, dämmert die Erkenntnis, dass es ein Trugbild war, dem als Opfer der Sucht fast lebenslang nachgestrebt wurde – was für eine niederschmetternde Erkenntnis! Keinerlei Rücklagen gebildet, keine Versicherungen, keine Rente, zahllose angepumpte Freunde, deshalb sich häufende, nicht mehr überblickbarer Lügengeschichten (auch vor sich selbst – denn jeder Süchtige belügt sich selbst am meisten) – Deschapelles war leider nur einer der Ersten in der langen Reihe der Zocker, denen im Zug ihrer Erfolge sogar Beifall und, mehr noch, Bewunderung gezollt wird, was sie nur noch tiefer in das Elend der Spielsucht stößt.
Deschapelles war kein Theoretiker. Er las keine Schachbücher und verfasste im Gegensatz zu Philidor oder Saint-Amant auch nie eins. Seine Kenntnisse der Eröffnungen, so sagt man, waren nicht besonders gut, so dass er oft schon bei den ersten Zügen lange grübeln musste und oft schlechter stand. Vielleicht war es seine Hybris, ohnehin schon alles zu wissen, die ihn davon abhielt, diesen Bereich des Schachs eingehender zu studieren, was ihn ja, wenn auch nur im stillen Kämmerlein, in die von ihm als unwürdig empfundene Rolle eines Schülers versetzt hätte. Nebenher war er ja auch noch, gewiss nicht ohne Geldeinsätze, Meister im komplizierten Bridge und ging in die heutigen Lehrbücher dieses Kartenspiels mit dem bis heute aktuellen „Deschapelles Coup“ ein: https://en.wikipedia.org/wiki/Deschapelles_coup
1832 wurde Deschapelles verhaftet, weil man ihn verdächtigte, in ein Komplott gegen König Louis-Philippe, den Würgerkönig, ein direkter Nachfahre des Sonnenkönigs, verwickelt zu sein. Es wurde langsam stiller, der Beifall klang ab, ganz langsam nur. Aber wie in einem letzten Aufbäumen gewann der „General“ als über 60jähriger im Jahr 1842 einen Wettkampf gegen Pierre Saint Amant mit 3:2.
Dem gewiss nicht schwachen Schotten John Cochrane (genau, der mit dem Gambit) gab er einen Bauern vor, indem die Partie ohne den Bauern f7 gespielt wurde. Heutzutage macht man das durch Zeit-Vorgaben, indem zum Beispiel mit drei gegen fünf geblitzt wird.
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Jetzt aber schlich die Zeit an Deschapelles vorüber, erst unmerklich, dann deutlich; er verlor mehr (Geld) als er zu gewinnen vermochte, und es ist die größte Leistung des wohl spielsüchtigen Deschapelles, dass er „seinen Platz“ seinem Schüler Louis-Charles Mahé de La Bourdonnais überließ, sich vom Schach abwandte und jetzt, noch im stattlichen Alter und offenbar ohne nennenswertes Startkapital, ein einarmiger, erfolgreicher Obst- und Gemüsebauer wurde – für die immer wieder von Hunger bedrohten Franzosen war das sicher weit nützlicher als eine musterhafte Kombination auf dem Schachbrett. [Ralf Mulde, Quelle: großteils Wikipedia]
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