November 22, 2024

Gedanken zum Tode von Karl-Heinz Podzielny – Von IM Bernd Schneider

Hier noch ein bebilderter Youtube-Nachruf von Behzad Deklameh

Text: IM Bernd Schneider

Ich habe in den letzten Tagen einige Karl-Heinz Podzielny-Nachrufe gelesen. Nahezu jeder dieser Artikel hat mich in irgendeiner Art und Weise berührt, einige Berichte gingen mir runter wie Öl. Der überaus empfehlenswerte Beitrag von Kai Kluss, einem engen Gefährten von Podz aus der Zeit von ca. 1985 bis Ende der 1990er Jahre, ist dabei für mich das Highlight schlechthin. Danke Kai, für diesen überaus empathischen Blick in die Seele einer extremen Persönlichkeit.

Mit den vielfältigen Beiträgen zum Leben von Karl-Heinz ist eigentlich fast alles gesagt, auf eine Anekdote mehr kommt es nicht an.

Um trotzdem meine Trauer ein wenig zu verarbeiten, habe ich mich dazu entschlossen, meinen Blick zurück auf mein Verhältnis zu K.H. zu fokussieren. Was ich in der Folge zu Papier bringe, muss nicht jeden interessieren und erst recht nicht jedem gefallen. Es ist mein ganz persönlicher Rückblick auf  40 spannende Jahre, in denen ich mit Podz in Berührung kam, die letzten Jahre immer seltener…

Unsere letzte Begegnung ergab sich am Ostermontag 2019. An diesem Tag wurde in Oberhausen die Schlussrunde des traditionellen Osteropen ausgetragen. In den vorherigen Runden fand ich in den Ergebnislisten des Turnieres Karl-Heinz stets an Brett 21 aufgeführt, unabhängig vom Tabellenstand. Die Zuteilung eines Spezialbrettes konnte für mich nur „Show“ oder eine ernstfahre körperliche Beeinträchtigung bedeuten. Als ich bei meiner Ankunft im Turniersaal Richtung Brett 21 ging, sah ich einen bemitleidenswerten Mann aufspringen (besser gesagt „sich auf quälen“), der mich euphorisch begrüßte. Der einst so imposant wirkende Kerl musste mehr als 30 Kilo abgenommen haben, er bewegte sich nur noch langsamen Schrittes mittels der Unterstützung eines Rollators. Vor dem Turniersaal angekommen gab er mir, mit Tränen in den Augen, eine kurze Bestandsaufnahme seiner Situation: „Bauchspeicheldrüsenkrebs“ + „Endstadium“. Meinen Versuch ihm gut zuzusprechen, konterte er mit dem Vorzeigen seines Schwerbehindertenausweises, auf dem neben „100%“ noch diverse Zusatzbuchstaben zu erkennen waren, die ich nicht zuzuordnen vermochte. Mein hilflos wirkender Joke „Unter 100% hast du es ja nie gemacht“ beantwortete er schlagfertig mit „Heute aber nicht mehr. Inzwischen verliere ich gegen fast jede Gurke. Aber ich spiele so viel es geht, um weiterhin soziale Kontakte zu pflegen“. Nach seiner obligatorischen Zigarette schickte ich ihn wieder ans Brett und begab mich auf eine Art Spurensuche. Ja, er sah schwer krank aus, aber Worte wie „Krebs“ und „Endstadium“ aus dem Munde von K.H. entfalten einfach nicht die gewünschte Wirkung. Erstmals hoffte ich darauf, dass mir Podz mal wieder einem vom Pferd erzählt oder zumindest, wie gewohnt, deutlich übertreibt. Deshalb erkundigte ich mich diskret bei Vlastimil Hort, Marcel Becker und Zoya Schleining. Leider hatte Podz diesmal nicht zu dick aufgetragen, weshalb ich mich nach der Partie nochmals ausführlich mit ihm unterhielt. Einerseits war er klaren Blickes: „Wie geht es Euch, was macht Dein Töchterchen?“ und „Ich habe es akzeptiert bald sterben zu müssen“, andererseits legte er auch in dieser `bad Position` wieder die alte Schallplatte auf: „Wieviel bekommst Du noch von mir? Ich werde meinen Nachlassverwalter beauftragen, Dir das Geld mit Zins und Zinseszins auszuzahlen“. „Nein Karl-Heinz, ich habe keinerlei Forderungen gegen Dich. Wir sind quitt.“ Eine solche Antwort fällt nicht schwer, wenn man die Gewissheit hat, dass im Falle eines Falles mangels Masse ohnehin kein Nachlassverwalter eingesetzt wird. In den kommenden Wochen studierte ich aufmerksam die Turniertabelle aus Essen-Überruhr und freute mich über seine Teilnahme am Herforder Schnellschachturnier Ende Juni. Als er im Juli nicht in der Teilnehmerliste des Dortmunder A-Opens zu finden war, beschlich mich das unangenehme Gefühl, dass wir bald den Verlust einer lebenden Legende zu beklagen haben werden.

IM Karl-Heinz Podzielny beim Unser-Fritz Open 2019 im Juni (Foto: SV Unser-Fritz)

Was machte Podz-Blitz schon in jungen Jahren zu einer lebenden Legende? Weshalb reagieren Schachfreunde so angefasst auf die Todesnachricht? In allererster Linie war es dessen famoses Spielverständnis, gepaart mit einem nahezu einzigartigen Stellungsgefühl. Man hatte zuweilen das Gefühl, Podzielnys Figuren schweben über dem Schachbrett, so leicht und harmonisch wirkte sein Spiel für mich als häufiger Beobachter (oder leidensfähiger Gegner). Unvergleichlich auch seine Freude am Spiel, ohne in den letzten 40 Jahren auch nur ein Schachbuch gelesen zu haben. Ich hatte hauptsächlich in der Zeit von ca. 1982 bis in die späten 1990er das Vergnügen, in schätzungsweise 60 Schnell- und Blitzpartien gegen den Virtuosen anzutreten. In all diesen Jahren gelang es mir weder bei einer offiziellen Meisterschaft, noch bei einem x-beliebigen Wald- und Wiesenturnier, Karl-Heinz eine Niederlage beizubringen. Mein niederschmetternder Score gegen ihn schätze ich auf +0 =48 -12! Warum gingen 80% der Partien remis aus? Weil K.H. in diesen Partien zumeist schon nach 5 Zügen remis anbot und ich natürlich froh über die halben Punkte war. Symptomatisch die Platzierungen bei den sechs Solinger 24-Stunden Blitzturnieren, die ich in den späten 1980er Jahren veranstaltete. Vier dieser Turniere gewann Podz unangefochten, ich folgte jeweils in gebührendem Abstand auf Platz 2, während die restlichen Teilnehmer um den 3. Platz (Platz 1 in der Amateurwertung, wie Karl-Heinz es nannte) spielen durften. Bei zwei der sechs Turniere konnte ich mich in die Siegerliste eintragen. Dies war jeweils dem Umstand geschuldet, dass K.H. nicht teilnahm. Eigentlich erinnere ich mich nur an eine einzige Partie, in der ich seinem Remisangebot widerstehen wollte. Es war in der letzten Runde der NRW-Schnellschachmeisterschaft 2011. Wir lagen beide mit 7,0 aus 8 an der Tabellenspitze, ich hatte jedoch die schlechtere Fortschrittsummenwertung am Bein. Mutig lehnte ich sein frühes Friedensangebot ab und versuchte mich darin, endlich einmal einen Sieg zu erringen. Um den 18. Zug bot mir Karl-Heinz erneut remis an. Dieses Angebot versah er mit der Zusatzinfo „letzte Chance“. Ernüchtert musste ich feststellen, dass es niemals etwas mit einem Sieg gegen ihn werden wird und fügte mich dem Vizemeisterschicksal.

Somit kann ich aus eigener Erfahrung mit Bestimmtheit sagen, ehrende Worte wie „Er hätte das Zeug dazu gehabt Großmeister zu werden“ oder „Im Blitzschach hatte er Großmeisterstärke“ treffen nicht den wahren Kern. Er war bedeutend stärker.

Eine weitere Komponente seiner großen Bekanntheit waren seine dramatischen Auftritte am und um das Schachbrett herum. Es war immer etwas los, wenn K.H. den Saal (seine Bühne) betrat. Er war laut, unflätig und insbesondere ungerecht zu Gegnern, die es wagten ihn zu besiegten. Immer dabei einige ausgesuchte „Jünger“, mit denen er vor, während und nach den Partien seinen übermäßigen Alkoholkonsum zelebrieren konnte, was die Angelegenheit zuweilen noch dramatischer werden ließ.

Eine besondere Gabe hatte er im Erzählen von Geschichten, er war für mich der „Lügenbaron Münchhausen der Schachspieler“. Sein Erfindungsreichtum war enorm, er dichtete sich nicht nur tödliche Krankheiten an, er gewann auch 48 Stunden-Blitzurniere auf Island und war in Indien Trainer des kleinen Vishy Anand. Er holte eine GM-Norm in der CSSR und legte zum Beweis die originale Turniertabelle – mit Unterschrift des Turnierleiters – vor. Wir haben es alle gehört und Karl-Heinz gratuliert. „Ungläubige“ wie ich haben es versucht zu verifizieren, keine einfache Angelegenheit in der Zeit vor Google & Co.

Unangenehm wurde es, wenn es Karl-Heinz mit der Lügenmasche schaffte an das Geld Dritter zu gelangen. Nicht wenige gutgläubige Schachfreunde(-innen) liehen ihm Geld, damit er lebenswichtige Medikamente für seine imaginären Stief- oder Adoptivkinder kaufen könne oder dringend Geld für Flugkarten seiner in Skandinavien ausgeraubten Frau (bevorzugt mit 2 Kindern) benötigte. Es klingt hart, aber Karl-Heinz Podzielny jun. war auch als Hochstapler und Betrüger großmeisterlich.

Eigentlich verrückt, so wenig Mitleid er mit den ausgebeuteten Dritten hatte, so sehr warf es ihn aus der Bahn, wenn ihm Unrecht widerfuhr. Das prägnanteste Beispiel stammt aus seiner Zeit in Frankreich und muss in ungefähren bleiben, weil ich nie eindeutig zwischen Wahrheit und Fiktion unterscheiden konnte. Er spielt ein großes Open und gewinnt einen recht hohen Geldbetrag. Leider sieht sich der Turnierleiter außerstande die Geldpreise auszuzahlen und Karl-Heinz bleibt ohne einen Franc in der Provinz hängen. Dieser Fakt muss den sensiblen Riesen derart mitgenommen haben, dass er (so wird behauptet) zur akuten Behandlung in eine neurologische Klinik eingewiesen wurde. In der Realität von Podzielny gab es sodann eine Lebensgefährtin in Südfrankreich, die sich tragischer Weise das Leben nahm. Fakt ist, dass Podzielny Senior Anstrengungen unternahm, den Junior zurück nach Deutschland zu holen, was dieser jedoch tunlichst vermeiden wollte. Ebenso ist es Fakt, dass ich eines Tages vom Junior einen Anruf erhielt, dass er (ohne die Hilfe des Vaters) aus Frankreich zurück nach Deutschland möchte und dafür Geld für die Bahnfahrkarte und Schlepperdienste benötige. Ich sandte einem saarländischen Vertrauensmann 300 DM per telegrafischer Blitzüberweisung, der K.H. sodann angeblich über die grüne Grenze nach Deutschland holte (in der Realität von K.H. war er von seinem Vater zur Fahndung ausgeschrieben und wäre am regulären Grenzübergang festgehalten worden). Die folgenden 10 Tage mit Karl-Heinz als Gast in meiner Wohnung boten mir einen tiefen Einblick in die Psyche einer gescheiterten Existenz. Als Schachspieler bewunderte ich ihn, als Mensch tat er mir einfach nur unendlich leid.

Trotz dieser erschreckenden Erkenntnisse mochte ich ihn sehr und wollte ihn gerne bei meinem Stammverein, der Solinger Schachgesellschaft 1868, als Spieler unterbringen. Einen solchen Kämpfer, der sich keiner sportlichen Verantwortung entzieht, kann jede Meistermannschaft gebrauchten. Doch meine Vorschläge wurden von Teamchef Herbert Scheidt regelmäßig abgelehnt. Am Ende der Saison (1988/89?) ergab sich jedoch die Möglichkeit, den Vereinslosen Podz für Solingen zu melden. Die 5. Mannschaft der SG 1868 musste in der Bezirksklasse einen Aufstiegsstichkampf gegen den verfeindeten Ortsrivalen Aljechin Solingen bestreiten. Zu diesem Zwecke meldeten wir gestandene Spieler wie Christian Clemens, Bela Soos und eben Karl-Heinz Podzielny nach. Ich kümmerte mich als Pate um die etwas komplizierte An- und Abreise des Letztgenannten, der sich zu diesem Zeitpunkt zur Therapie in einer geschlossenen Anstalt im Sauerland befand. Pate schien der passende Begriff, musste ich mich doch bei der Abholung für die Rückkehr des Patienten verbürgen und dafür sogar unterschreiben. Eine Randnotiz: Drei Jahre nach diesem Skandalstichkampf wechselte ich zu Aljechin Solingen, während Karl Heinz noch einige Jahre für die SG Solingen spielte.

Es hätte aber auch ganz anders kommen können, denn Herbert Scheidt ließ sich nur zu einem Engagement von Podz überreden, wenn folgende Bedingungen eingehalten werden: 1.) Sobald auch nur eine Eskapade passiert, endet der Spielervertrag mit sofortiger Wirkung. 2.) Für die Umsetzung von Punkt 1. muss ich (als „Pate“) gerade stehen.

Kein Problem, habe ich im Griff, so dachte ich. Doch dann kam der erste Auswärtskampf in Berlin. Karl Heinz spielt samstags und soll sonntags pausieren, damit er nochmals in der 2. Mannshaft eingesetzt werden kann. So weit, so gut. Am Sonntagmorgen fehlt K.H. beim Frühstück, Scheidt bittet den Paten um Klärung, da der Bus gleich abfährt. Ich lasse mir den Schlüssel des menschenleeren  Zimmer geben, packe die paar umherliegenden Kleidungsstücke und lege den Minikoffer in den Bus. „Karl-Heinz kommt später, er ist noch müde“ hielt ich Scheidt als Notlüge entgegen. „Glaubst Du ich bin blöd?“ gab es für mich als Antwort und die Fahrt zum Turniersaal konnte losgehen. Gegen Mittag erschien der gezeichnete Extremsportler im Bezirksrathaus und begrüßte mich mit den Worten „Du kannst mich direkt wieder einweisen“. Obwohl Scheidt schäumte, blieb der nächtliche Ausflug ins Cafe Belmont ohne Folgen. Wie er es schaffte, noch weitere 9 Jahre bei Solingen unter Vertrag zu stehen, ist mir ein Rätsel. Sicherlich war es das sportliche Vermögen, welches ihn zu einer unersetzlichen, tragenden Säule der Solinger Meistermannschaft machte.

Jahre nach meiner „Patenschaft“ festigte sich unser Verhältnis insofern, dass ich von ihm zu einem der bevorzugten Telefongesprächspartnern auserkoren wurde. Ging bei ihm mal wieder etwas mächtig schief, so ließ sein Anruf nicht lange auf sich warten. Ein mit Dramatik unterlegter Gesprächsbeginn („Ich mache Schluss“) hieß für mich oh je, ich muss heute noch nach Essen – Leben retten.

Doch nicht immer konnte er in Zaum gehalten werden. Als letzter Joker galt dann sein Vater, dessen Telefonnummer ich einem Bekannten zur Sicherheit gab, der K.H. in meiner Abwesenheit einmal bei sich in Solingen aufnahm. So konnte der Senior einmal einen Solinger Polizeieinsatz zu einem glücklichen Ende führen. Er verabreichte dem mit einem Brotmesser bewaffneten, scheinbar lebensmüden Sohnemann eine mächtige Backpfeife und zog mit ihm von dannen. Der Polizeipsychologe soll ob der Entschlossenheit des Senior beeindruckt gewesen sein. Ursache der dramatischen Einlage soll Brandy gewesen sein, welcher Karl-Heinz mit meinem Bekannten (Spitzname „Uli Osborne“) in rauen Mengen vernichtet haben soll.

So könnte ich noch sehr viele Geschichten über den lieben K.H. aufschreiben, ohne je in den Verdacht zu geraten, ein Baron Münchhausen zu sein. Mir war es wichtig, Podzielny so zu beschreiben, wie er tatsächlich war und wie er „tickte“. Zurück bleibt ein Vakuum, welches kein anderer Schachspieler jemals mehr schließen kann. Karl-Heinz war einzigartig, deswegen musste er aus meiner Sicht auch hier nicht als artig dargestellt werden.

Eins noch: Kummer bereitet mir der Gedanken, dass unser Podz demnächst beerdigt wird und mir (uns allen?) weder der Beerdigungsort noch der Termin der Beisetzung bekannt ist. Gerne würde ich ihm die letzte Ehre erweisen und bin mir sicher, dass sich mir viele seiner Weggefährten anschließen würden. Solle diese Zeilen von jemandem gelesen werden, der über die Information von Ort und Zeit verfügt, so bitte ich im Namen aller trauernden Schachfreunde um eine schnellstmögliche Nachricht.

IM Bernd Schneider

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